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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Viertes Vierteljahr.

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Fortschreiten der Reichsfinanzreform

eit länger als einem Jahrzehnt ist die Notwendigkeit einer durch¬
greifenden Reichsfinanzreform ein unerschöpflicher Gegenstand
unsrer öffentlichen Erörterung. Man hatte sich im Laufe der
Jahre daran gewöhnt, insbesondre in den alljährlichen Etats¬
debatten diese Auseinandersetzungen sich zweck- und ergebnislos
im Kreise drehen zu sehen. Die alte Melodie wurde immer von neuem
hinuntergeleiert, ohne daß man sich etwas recht Ernstes dabei zu deuten
schien. In den letzten Jahren wurden der Melodie einige schärfere Noten
eingefügt; seitdem wir, um den Etat zu balancieren, uns gezwungen sehen,
einen Teil der laufenden Ausgaben durch Anleihe zu decken, spricht man von
"unverantwortlicher Pumpwirtschaft," von "Fincmzuot" und "Finanzelend."
Ein praktisch wirksamer Eindrnck aber wurde damit nicht hervorgebracht; die
allgemeine Gleichgültigkeit blieb unerschüttert. War das ein Wunder? Das
bequeme, halb von Fatalismus, halb von Menschenverachtung getragne
66sol6rs886iQSQt, das für die Haltung des Reichsschatzamts in der Finanz¬
reformfrage längere Zeit charakteristisch war, konnte selbstverständlich auf die
Menge nicht ohne Einfluß bleiben. Niemand glaubte recht an den Ernst der
"Misere," von der fortwährend geredet wurde. Natürlich! Welcher unbefangen
Denkende, der die gewaltige Entwicklung unsers auf durchaus gesunder Grund¬
lage stehenden nationalen Wirtschaftslebens überschaute, hätte auch nur einen
Augenblick dem Zweifel Raum geben können, ob das Deutsche Reich wohl
auf die Dauer imstande sein werde, die zur Erfüllung seiner Aufgaben nötigen
finanziellen Mittel aufzubringen!. So überließ man es getrost den Verant¬
wortlicher, sich über die Aufbringung dieser Mittel die Köpfe zu zerbrechen.
Man war zufrieden in dem Bewußtsein, daß von einer Finanznot im Deutschen
Reiche bei Licht besehen überhaupt keine Rede sein könne.

Eine Finanznot in dem Sinne, daß alle ertragreichen Steuergebiete ab¬
gegrast, und die steuerzahlende Bevölkerung bis auf den Grund ausgepowert
sei, ist im Deutschen Reiche in der Tat nicht vorhanden und wird auch in
Zukunft, in absehbarer Zeit wenigstens, nicht vorhanden sein. Das rechtfertigt
jedoch nicht, die Dinge nach dem Motto laufen zu lassen: "Irgendwie wirds


Grenzboten lV 1904


Fortschreiten der Reichsfinanzreform

eit länger als einem Jahrzehnt ist die Notwendigkeit einer durch¬
greifenden Reichsfinanzreform ein unerschöpflicher Gegenstand
unsrer öffentlichen Erörterung. Man hatte sich im Laufe der
Jahre daran gewöhnt, insbesondre in den alljährlichen Etats¬
debatten diese Auseinandersetzungen sich zweck- und ergebnislos
im Kreise drehen zu sehen. Die alte Melodie wurde immer von neuem
hinuntergeleiert, ohne daß man sich etwas recht Ernstes dabei zu deuten
schien. In den letzten Jahren wurden der Melodie einige schärfere Noten
eingefügt; seitdem wir, um den Etat zu balancieren, uns gezwungen sehen,
einen Teil der laufenden Ausgaben durch Anleihe zu decken, spricht man von
„unverantwortlicher Pumpwirtschaft," von „Fincmzuot" und „Finanzelend."
Ein praktisch wirksamer Eindrnck aber wurde damit nicht hervorgebracht; die
allgemeine Gleichgültigkeit blieb unerschüttert. War das ein Wunder? Das
bequeme, halb von Fatalismus, halb von Menschenverachtung getragne
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reformfrage längere Zeit charakteristisch war, konnte selbstverständlich auf die
Menge nicht ohne Einfluß bleiben. Niemand glaubte recht an den Ernst der
„Misere," von der fortwährend geredet wurde. Natürlich! Welcher unbefangen
Denkende, der die gewaltige Entwicklung unsers auf durchaus gesunder Grund¬
lage stehenden nationalen Wirtschaftslebens überschaute, hätte auch nur einen
Augenblick dem Zweifel Raum geben können, ob das Deutsche Reich wohl
auf die Dauer imstande sein werde, die zur Erfüllung seiner Aufgaben nötigen
finanziellen Mittel aufzubringen!. So überließ man es getrost den Verant¬
wortlicher, sich über die Aufbringung dieser Mittel die Köpfe zu zerbrechen.
Man war zufrieden in dem Bewußtsein, daß von einer Finanznot im Deutschen
Reiche bei Licht besehen überhaupt keine Rede sein könne.

Eine Finanznot in dem Sinne, daß alle ertragreichen Steuergebiete ab¬
gegrast, und die steuerzahlende Bevölkerung bis auf den Grund ausgepowert
sei, ist im Deutschen Reiche in der Tat nicht vorhanden und wird auch in
Zukunft, in absehbarer Zeit wenigstens, nicht vorhanden sein. Das rechtfertigt
jedoch nicht, die Dinge nach dem Motto laufen zu lassen: „Irgendwie wirds


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[0661] [Abbildung] Fortschreiten der Reichsfinanzreform eit länger als einem Jahrzehnt ist die Notwendigkeit einer durch¬ greifenden Reichsfinanzreform ein unerschöpflicher Gegenstand unsrer öffentlichen Erörterung. Man hatte sich im Laufe der Jahre daran gewöhnt, insbesondre in den alljährlichen Etats¬ debatten diese Auseinandersetzungen sich zweck- und ergebnislos im Kreise drehen zu sehen. Die alte Melodie wurde immer von neuem hinuntergeleiert, ohne daß man sich etwas recht Ernstes dabei zu deuten schien. In den letzten Jahren wurden der Melodie einige schärfere Noten eingefügt; seitdem wir, um den Etat zu balancieren, uns gezwungen sehen, einen Teil der laufenden Ausgaben durch Anleihe zu decken, spricht man von „unverantwortlicher Pumpwirtschaft," von „Fincmzuot" und „Finanzelend." Ein praktisch wirksamer Eindrnck aber wurde damit nicht hervorgebracht; die allgemeine Gleichgültigkeit blieb unerschüttert. War das ein Wunder? Das bequeme, halb von Fatalismus, halb von Menschenverachtung getragne 66sol6rs886iQSQt, das für die Haltung des Reichsschatzamts in der Finanz¬ reformfrage längere Zeit charakteristisch war, konnte selbstverständlich auf die Menge nicht ohne Einfluß bleiben. Niemand glaubte recht an den Ernst der „Misere," von der fortwährend geredet wurde. Natürlich! Welcher unbefangen Denkende, der die gewaltige Entwicklung unsers auf durchaus gesunder Grund¬ lage stehenden nationalen Wirtschaftslebens überschaute, hätte auch nur einen Augenblick dem Zweifel Raum geben können, ob das Deutsche Reich wohl auf die Dauer imstande sein werde, die zur Erfüllung seiner Aufgaben nötigen finanziellen Mittel aufzubringen!. So überließ man es getrost den Verant¬ wortlicher, sich über die Aufbringung dieser Mittel die Köpfe zu zerbrechen. Man war zufrieden in dem Bewußtsein, daß von einer Finanznot im Deutschen Reiche bei Licht besehen überhaupt keine Rede sein könne. Eine Finanznot in dem Sinne, daß alle ertragreichen Steuergebiete ab¬ gegrast, und die steuerzahlende Bevölkerung bis auf den Grund ausgepowert sei, ist im Deutschen Reiche in der Tat nicht vorhanden und wird auch in Zukunft, in absehbarer Zeit wenigstens, nicht vorhanden sein. Das rechtfertigt jedoch nicht, die Dinge nach dem Motto laufen zu lassen: „Irgendwie wirds Grenzboten lV 1904

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_295218/661>, abgerufen am 20.05.2024.