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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Viertes Vierteljahr.

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Junge Herzen

Aber du hast es gestern Abend doch selbst gesagt --

Naerum! sagte seine Frau warnend.

Der Apotheker, der sich herumgedreht hatte, klopfte auf das Barometer und
sagte nichts.

Helene erschien erst spät.

Als man beim Abendbrot saß, sagte Desideria auf einmal: Ich höre, der Stamm¬
herr ist Plötzlich weggereist.

Weggeschickt worden! sagte der Medizinalrat mit Nachdruck.

Es machte offenbar keinen Eindruck auf Helene.

Nach einer Weile rief der Medizinalrat: Aber wo war nur Holmsted geblieben?
Er war ja der Mönch, dem Sie so hübsch wahrsagten, Fräulein Rörby! -- An! --
Zum Kuckuck! Wer tritt mich denn auf den Fuß?

Einen Augenblick später sagte Berta: Sie haben sich doch hoffentlich gestern
Abend nicht erkältet, Fräulein Rörby?

Nein, weshalb sollte ich mich erkälten?

Es kann doch nicht jeder Mensch vertragen, ein so leichtes Zigeuncrkostüm
anzuhaben!

Helene sah sie fest und durchdringend an und sagte lächelnd: Ich kann viel
vertragen, viel mehr als das!

Nach dem Abendbrot wurde Grog angeboten.

Helene, die den Medizinalrat in- und auswendig kannte, rächte sich an den
Damen, indem sie ihm alles, was zu einem Grog gehörte, brachte; sie präsentierte
ihm eine Zigarre, ja sie strich sogar das Streichholz für ihn an.

Dann setzte sie sich ans Klavier und sang:

Was will nur der Bach?
Sagte das Gras.
Der schäumt ja und schwillt,
Zum Überlaufen voll,
Und tobt und brüllt,
Als wäre er toll!
Was ich will? sagte der Bach, und er lachte, daß es klang,
Lustig machen will ich euch nur mit meinem Gesang!
Was will nur der Bach?
Sagte der Baum.
Der zerrt mit seinem kalten
Wasser einem am Fuß,
Daß man in seine alten
Knochen die Gicht kriegen muß!
Was ich will? sagte der Bach, und er lachte, daß es klang,
Lustig machen will ich euch nur mit meinem Gesang!
Was will nur der Bach?
Sagten die Leute.
Der Kerl spritzt so keck,
Läßt keinen in Ruh,
Hat vor niemand Respekt --
Wir schütten ihn zu!
WaZ ich will? sagte der Bach, und er lachte, daß es klang,
Lustig machen will ich euch nur mit meinem Gesang!

Das Lied wurde so herausfordernd gesungen, daß es seine Wirkung nicht
verfehlte.

Die zuhörenden Damen sahen sich sprachlos an. Aber der Medizinalrat, der
so gesessen hatte, daß sich seine und Helenens Augen hin und wieder begegneten,
war auf einmal wie verzaubert. Er rief Bravo nach dem Gesang und dankte
Helene warm.

Sie erhob sich und sagte, während ihre Augen über die Gesellschaft glitten:
Ich muß mich bedanken für die große Aufmerksamkeit, mit der Sie das kleine Lied
angehört haben, und mit der Sie überhaupt meine geringe Person beehren.


Junge Herzen

Aber du hast es gestern Abend doch selbst gesagt —

Naerum! sagte seine Frau warnend.

Der Apotheker, der sich herumgedreht hatte, klopfte auf das Barometer und
sagte nichts.

Helene erschien erst spät.

Als man beim Abendbrot saß, sagte Desideria auf einmal: Ich höre, der Stamm¬
herr ist Plötzlich weggereist.

Weggeschickt worden! sagte der Medizinalrat mit Nachdruck.

Es machte offenbar keinen Eindruck auf Helene.

Nach einer Weile rief der Medizinalrat: Aber wo war nur Holmsted geblieben?
Er war ja der Mönch, dem Sie so hübsch wahrsagten, Fräulein Rörby! — An! —
Zum Kuckuck! Wer tritt mich denn auf den Fuß?

Einen Augenblick später sagte Berta: Sie haben sich doch hoffentlich gestern
Abend nicht erkältet, Fräulein Rörby?

Nein, weshalb sollte ich mich erkälten?

Es kann doch nicht jeder Mensch vertragen, ein so leichtes Zigeuncrkostüm
anzuhaben!

Helene sah sie fest und durchdringend an und sagte lächelnd: Ich kann viel
vertragen, viel mehr als das!

Nach dem Abendbrot wurde Grog angeboten.

Helene, die den Medizinalrat in- und auswendig kannte, rächte sich an den
Damen, indem sie ihm alles, was zu einem Grog gehörte, brachte; sie präsentierte
ihm eine Zigarre, ja sie strich sogar das Streichholz für ihn an.

Dann setzte sie sich ans Klavier und sang:

Was will nur der Bach?
Sagte das Gras.
Der schäumt ja und schwillt,
Zum Überlaufen voll,
Und tobt und brüllt,
Als wäre er toll!
Was ich will? sagte der Bach, und er lachte, daß es klang,
Lustig machen will ich euch nur mit meinem Gesang!
Was will nur der Bach?
Sagte der Baum.
Der zerrt mit seinem kalten
Wasser einem am Fuß,
Daß man in seine alten
Knochen die Gicht kriegen muß!
Was ich will? sagte der Bach, und er lachte, daß es klang,
Lustig machen will ich euch nur mit meinem Gesang!
Was will nur der Bach?
Sagten die Leute.
Der Kerl spritzt so keck,
Läßt keinen in Ruh,
Hat vor niemand Respekt —
Wir schütten ihn zu!
WaZ ich will? sagte der Bach, und er lachte, daß es klang,
Lustig machen will ich euch nur mit meinem Gesang!

Das Lied wurde so herausfordernd gesungen, daß es seine Wirkung nicht
verfehlte.

Die zuhörenden Damen sahen sich sprachlos an. Aber der Medizinalrat, der
so gesessen hatte, daß sich seine und Helenens Augen hin und wieder begegneten,
war auf einmal wie verzaubert. Er rief Bravo nach dem Gesang und dankte
Helene warm.

Sie erhob sich und sagte, während ihre Augen über die Gesellschaft glitten:
Ich muß mich bedanken für die große Aufmerksamkeit, mit der Sie das kleine Lied
angehört haben, und mit der Sie überhaupt meine geringe Person beehren.


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[0106] Junge Herzen Aber du hast es gestern Abend doch selbst gesagt — Naerum! sagte seine Frau warnend. Der Apotheker, der sich herumgedreht hatte, klopfte auf das Barometer und sagte nichts. Helene erschien erst spät. Als man beim Abendbrot saß, sagte Desideria auf einmal: Ich höre, der Stamm¬ herr ist Plötzlich weggereist. Weggeschickt worden! sagte der Medizinalrat mit Nachdruck. Es machte offenbar keinen Eindruck auf Helene. Nach einer Weile rief der Medizinalrat: Aber wo war nur Holmsted geblieben? Er war ja der Mönch, dem Sie so hübsch wahrsagten, Fräulein Rörby! — An! — Zum Kuckuck! Wer tritt mich denn auf den Fuß? Einen Augenblick später sagte Berta: Sie haben sich doch hoffentlich gestern Abend nicht erkältet, Fräulein Rörby? Nein, weshalb sollte ich mich erkälten? Es kann doch nicht jeder Mensch vertragen, ein so leichtes Zigeuncrkostüm anzuhaben! Helene sah sie fest und durchdringend an und sagte lächelnd: Ich kann viel vertragen, viel mehr als das! Nach dem Abendbrot wurde Grog angeboten. Helene, die den Medizinalrat in- und auswendig kannte, rächte sich an den Damen, indem sie ihm alles, was zu einem Grog gehörte, brachte; sie präsentierte ihm eine Zigarre, ja sie strich sogar das Streichholz für ihn an. Dann setzte sie sich ans Klavier und sang: Was will nur der Bach? Sagte das Gras. Der schäumt ja und schwillt, Zum Überlaufen voll, Und tobt und brüllt, Als wäre er toll! Was ich will? sagte der Bach, und er lachte, daß es klang, Lustig machen will ich euch nur mit meinem Gesang! Was will nur der Bach? Sagte der Baum. Der zerrt mit seinem kalten Wasser einem am Fuß, Daß man in seine alten Knochen die Gicht kriegen muß! Was ich will? sagte der Bach, und er lachte, daß es klang, Lustig machen will ich euch nur mit meinem Gesang! Was will nur der Bach? Sagten die Leute. Der Kerl spritzt so keck, Läßt keinen in Ruh, Hat vor niemand Respekt — Wir schütten ihn zu! WaZ ich will? sagte der Bach, und er lachte, daß es klang, Lustig machen will ich euch nur mit meinem Gesang! Das Lied wurde so herausfordernd gesungen, daß es seine Wirkung nicht verfehlte. Die zuhörenden Damen sahen sich sprachlos an. Aber der Medizinalrat, der so gesessen hatte, daß sich seine und Helenens Augen hin und wieder begegneten, war auf einmal wie verzaubert. Er rief Bravo nach dem Gesang und dankte Helene warm. Sie erhob sich und sagte, während ihre Augen über die Gesellschaft glitten: Ich muß mich bedanken für die große Aufmerksamkeit, mit der Sie das kleine Lied angehört haben, und mit der Sie überhaupt meine geringe Person beehren.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_296010/106>, abgerufen am 28.05.2024.