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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Viertes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

kennung nicht nur von ihm selbst, sondern von der ganzen Nation gezollt worden
war. Auch läßt sich nicht verkennen, daß es erst nach einem großen Kriege mög¬
lich sein wird, mit Erfolg neue Geleise für die deutsche Politik zu legen, da sich
die bisherigen bei der Gestaltung der Dinge in Europa und in Asien und bei
der Indolenz der eignen politischen Parteien nicht mehr unmittelbar auf große
Ziele richten lassen. Ein Volk kann aber auf die Dauer nicht im Genuß der er-
worbnen Güter schwelgen, zumal das deutsche als buudesstaatlicher Organismus,
sondern es bedarf neuer großer Aufgaben, wenn es uicht einrosten soll. Denn
das "Rast ich, so rohe ich" gilt im Völkerleben für ein bundesstaatlich zusammen¬
gesetztes Staatsgebilde, wie das deutsche mit so vielen empfindlichen Berührungs-
stellen, noch ganz anders als für eine seit Jahrhunderten einheitlich gestaltete
Nation. Wie ganz anders zum Beispiel regeln sich Finauzreformfragen in einem
einheitlichen Staate als bei uns, die wir in einem ohnehin so verwickelten Gemeinwesen
das allgemeine Stimmrecht ohne jedes Gegengewicht zum Souverän gemacht haben.

Im einheitlichen Staate braucht sich eine Regierung, die kluge und verständliche
Ziele ins Auge faßt, nur mit einzelne" Parteien auseinanderzusetzen, über die sie,
wenn es das höchste Interesse verlangt, auch mit gutem Gewissen hinweggehn kann.
Im Bundesstaate hängt die Zentrallcitnng nicht allein vom Zcntralparlmnent, sondern
auch von sämtlichen einzelnen Regierungen und ihreU Landtagen ab, und wir sehen,
welchen unheilvollen Einfluß in dieser Beziehung die bayrische Landtagsmehrheit
auf alle großen Fragen der Reichspolitik zu üben begonnen hat. Fast ist es an
der Zeit, daß im Berliner Landtage die nationale Saite gelegentlich eiuen hellern
und schärfern Klang gibt. In wie wesentlich andrer Lage wären die Neichsfinanzen
ohne das bayrische Zentrum seit den Tagen der Franckensteiuscheu Klausel. Und
ebenso sehen wir in diesem Augenblick jeden Fortschritt auf dem Wege der Betriebs-
mittelgemeinschaft an der bayrischen Zentrumsdcmokratie scheitern. Dieser Umstand
ist es, der auf die bevorstehende Reichstagsscssion ernste Schatten wirft. Die innere
Lage, wie sie gegenwärtig ist, wo Deutschland tatsächlich von einer Verbindung von
Zentrumsdemokratie und Sozialdemokratie regiert wird, ist nicht länger erträglich.
Das Deutsche Reich ist uicht mit schweren Opfern von Blut und Gut erbaut worden,
damit es schließlich den ärgsten Widersachern des Reichsgedankens ausgeliefert werde.
Am allerwenigsten hat die Krone Preußen die wertvolle" Rechte, die sie in ihrem
Lande hatte und uoch an der Spitze des Norddeutschen Bundes behauptete, dem Ein¬
heitsgedanken untergeordnet, um sie durch eine solche Reichstagsmehrheit dauernd
abschwächen zu lassen.

Es dürfte nützlich sein, daß sich Parteien und Presse nach dieser Richtung
hin keinen Illusionen hingäben. Man hat der heutigen Regierung sehr mit Unrecht
spöttisch das Leitmotiv angedichtet: Nur keine Konflikte! Gewiß, keine unnützen
Konflikte und nicht solche, die keine großen prinzipiellen Entscheidungen, sondern
nur neue Vertiefungen alter Verstimmungen bringen könnten. Damit dient man
nur dem Gegner und schwächt die eigne Aktionskraft für die schließlich unvermeidliche
prinzipielle große Entscheidung. An eine solche muß eine Regierung mit gutem
Gewissen, stark durch ihr Recht und ihre Pflicht herantreten können. Mit der Frage
der Reichsfinanzreform wird der Reichstag vor die Frage der Fortexistenz des Reiches
ans seinen bisherigen verfassungsmäßigen Grundlagen gestellt. Versagt er dauernd,
so liefert er damit den Beweis, daß sich die heutige Form seiner Zusammen¬
setzung überlebt hat, und daß diese das Reich nicht mehr zur Erfüllung seiner Auf¬
gaben befähigt. Dasselbe gilt für die in Aussicht stehende Flottenvorlage. Deutsch¬
land will und muß leben, es muß den großen Pflichten, die der Reichsgemeinschaft
sowohl gegen ihre Gesamtheit wie gegen ihre einzelnen Glieder auferlegt sind, ge¬
recht werden können. Wird es an der Erfüllung dieser Pflichten durch einzelne
seiner verfassungsmäßigen Einrichtungen behindert, so wird es diese ändern müssen,
um die Neichsgemeinschaft lebensfähig zu erhalten. Von diesen Wahrheiten läßt
sich nichts wegdeuteln. Unser Volk ist in seinen bürgerlichen Schichten durch den
Gang einer segensreichen fünfnnddreißigjährigen friedlichen Entwicklung, durch einen


Maßgebliches und Unmaßgebliches

kennung nicht nur von ihm selbst, sondern von der ganzen Nation gezollt worden
war. Auch läßt sich nicht verkennen, daß es erst nach einem großen Kriege mög¬
lich sein wird, mit Erfolg neue Geleise für die deutsche Politik zu legen, da sich
die bisherigen bei der Gestaltung der Dinge in Europa und in Asien und bei
der Indolenz der eignen politischen Parteien nicht mehr unmittelbar auf große
Ziele richten lassen. Ein Volk kann aber auf die Dauer nicht im Genuß der er-
worbnen Güter schwelgen, zumal das deutsche als buudesstaatlicher Organismus,
sondern es bedarf neuer großer Aufgaben, wenn es uicht einrosten soll. Denn
das „Rast ich, so rohe ich" gilt im Völkerleben für ein bundesstaatlich zusammen¬
gesetztes Staatsgebilde, wie das deutsche mit so vielen empfindlichen Berührungs-
stellen, noch ganz anders als für eine seit Jahrhunderten einheitlich gestaltete
Nation. Wie ganz anders zum Beispiel regeln sich Finauzreformfragen in einem
einheitlichen Staate als bei uns, die wir in einem ohnehin so verwickelten Gemeinwesen
das allgemeine Stimmrecht ohne jedes Gegengewicht zum Souverän gemacht haben.

Im einheitlichen Staate braucht sich eine Regierung, die kluge und verständliche
Ziele ins Auge faßt, nur mit einzelne» Parteien auseinanderzusetzen, über die sie,
wenn es das höchste Interesse verlangt, auch mit gutem Gewissen hinweggehn kann.
Im Bundesstaate hängt die Zentrallcitnng nicht allein vom Zcntralparlmnent, sondern
auch von sämtlichen einzelnen Regierungen und ihreU Landtagen ab, und wir sehen,
welchen unheilvollen Einfluß in dieser Beziehung die bayrische Landtagsmehrheit
auf alle großen Fragen der Reichspolitik zu üben begonnen hat. Fast ist es an
der Zeit, daß im Berliner Landtage die nationale Saite gelegentlich eiuen hellern
und schärfern Klang gibt. In wie wesentlich andrer Lage wären die Neichsfinanzen
ohne das bayrische Zentrum seit den Tagen der Franckensteiuscheu Klausel. Und
ebenso sehen wir in diesem Augenblick jeden Fortschritt auf dem Wege der Betriebs-
mittelgemeinschaft an der bayrischen Zentrumsdcmokratie scheitern. Dieser Umstand
ist es, der auf die bevorstehende Reichstagsscssion ernste Schatten wirft. Die innere
Lage, wie sie gegenwärtig ist, wo Deutschland tatsächlich von einer Verbindung von
Zentrumsdemokratie und Sozialdemokratie regiert wird, ist nicht länger erträglich.
Das Deutsche Reich ist uicht mit schweren Opfern von Blut und Gut erbaut worden,
damit es schließlich den ärgsten Widersachern des Reichsgedankens ausgeliefert werde.
Am allerwenigsten hat die Krone Preußen die wertvolle» Rechte, die sie in ihrem
Lande hatte und uoch an der Spitze des Norddeutschen Bundes behauptete, dem Ein¬
heitsgedanken untergeordnet, um sie durch eine solche Reichstagsmehrheit dauernd
abschwächen zu lassen.

Es dürfte nützlich sein, daß sich Parteien und Presse nach dieser Richtung
hin keinen Illusionen hingäben. Man hat der heutigen Regierung sehr mit Unrecht
spöttisch das Leitmotiv angedichtet: Nur keine Konflikte! Gewiß, keine unnützen
Konflikte und nicht solche, die keine großen prinzipiellen Entscheidungen, sondern
nur neue Vertiefungen alter Verstimmungen bringen könnten. Damit dient man
nur dem Gegner und schwächt die eigne Aktionskraft für die schließlich unvermeidliche
prinzipielle große Entscheidung. An eine solche muß eine Regierung mit gutem
Gewissen, stark durch ihr Recht und ihre Pflicht herantreten können. Mit der Frage
der Reichsfinanzreform wird der Reichstag vor die Frage der Fortexistenz des Reiches
ans seinen bisherigen verfassungsmäßigen Grundlagen gestellt. Versagt er dauernd,
so liefert er damit den Beweis, daß sich die heutige Form seiner Zusammen¬
setzung überlebt hat, und daß diese das Reich nicht mehr zur Erfüllung seiner Auf¬
gaben befähigt. Dasselbe gilt für die in Aussicht stehende Flottenvorlage. Deutsch¬
land will und muß leben, es muß den großen Pflichten, die der Reichsgemeinschaft
sowohl gegen ihre Gesamtheit wie gegen ihre einzelnen Glieder auferlegt sind, ge¬
recht werden können. Wird es an der Erfüllung dieser Pflichten durch einzelne
seiner verfassungsmäßigen Einrichtungen behindert, so wird es diese ändern müssen,
um die Neichsgemeinschaft lebensfähig zu erhalten. Von diesen Wahrheiten läßt
sich nichts wegdeuteln. Unser Volk ist in seinen bürgerlichen Schichten durch den
Gang einer segensreichen fünfnnddreißigjährigen friedlichen Entwicklung, durch einen


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[0232] Maßgebliches und Unmaßgebliches kennung nicht nur von ihm selbst, sondern von der ganzen Nation gezollt worden war. Auch läßt sich nicht verkennen, daß es erst nach einem großen Kriege mög¬ lich sein wird, mit Erfolg neue Geleise für die deutsche Politik zu legen, da sich die bisherigen bei der Gestaltung der Dinge in Europa und in Asien und bei der Indolenz der eignen politischen Parteien nicht mehr unmittelbar auf große Ziele richten lassen. Ein Volk kann aber auf die Dauer nicht im Genuß der er- worbnen Güter schwelgen, zumal das deutsche als buudesstaatlicher Organismus, sondern es bedarf neuer großer Aufgaben, wenn es uicht einrosten soll. Denn das „Rast ich, so rohe ich" gilt im Völkerleben für ein bundesstaatlich zusammen¬ gesetztes Staatsgebilde, wie das deutsche mit so vielen empfindlichen Berührungs- stellen, noch ganz anders als für eine seit Jahrhunderten einheitlich gestaltete Nation. Wie ganz anders zum Beispiel regeln sich Finauzreformfragen in einem einheitlichen Staate als bei uns, die wir in einem ohnehin so verwickelten Gemeinwesen das allgemeine Stimmrecht ohne jedes Gegengewicht zum Souverän gemacht haben. Im einheitlichen Staate braucht sich eine Regierung, die kluge und verständliche Ziele ins Auge faßt, nur mit einzelne» Parteien auseinanderzusetzen, über die sie, wenn es das höchste Interesse verlangt, auch mit gutem Gewissen hinweggehn kann. Im Bundesstaate hängt die Zentrallcitnng nicht allein vom Zcntralparlmnent, sondern auch von sämtlichen einzelnen Regierungen und ihreU Landtagen ab, und wir sehen, welchen unheilvollen Einfluß in dieser Beziehung die bayrische Landtagsmehrheit auf alle großen Fragen der Reichspolitik zu üben begonnen hat. Fast ist es an der Zeit, daß im Berliner Landtage die nationale Saite gelegentlich eiuen hellern und schärfern Klang gibt. In wie wesentlich andrer Lage wären die Neichsfinanzen ohne das bayrische Zentrum seit den Tagen der Franckensteiuscheu Klausel. Und ebenso sehen wir in diesem Augenblick jeden Fortschritt auf dem Wege der Betriebs- mittelgemeinschaft an der bayrischen Zentrumsdcmokratie scheitern. Dieser Umstand ist es, der auf die bevorstehende Reichstagsscssion ernste Schatten wirft. Die innere Lage, wie sie gegenwärtig ist, wo Deutschland tatsächlich von einer Verbindung von Zentrumsdemokratie und Sozialdemokratie regiert wird, ist nicht länger erträglich. Das Deutsche Reich ist uicht mit schweren Opfern von Blut und Gut erbaut worden, damit es schließlich den ärgsten Widersachern des Reichsgedankens ausgeliefert werde. Am allerwenigsten hat die Krone Preußen die wertvolle» Rechte, die sie in ihrem Lande hatte und uoch an der Spitze des Norddeutschen Bundes behauptete, dem Ein¬ heitsgedanken untergeordnet, um sie durch eine solche Reichstagsmehrheit dauernd abschwächen zu lassen. Es dürfte nützlich sein, daß sich Parteien und Presse nach dieser Richtung hin keinen Illusionen hingäben. Man hat der heutigen Regierung sehr mit Unrecht spöttisch das Leitmotiv angedichtet: Nur keine Konflikte! Gewiß, keine unnützen Konflikte und nicht solche, die keine großen prinzipiellen Entscheidungen, sondern nur neue Vertiefungen alter Verstimmungen bringen könnten. Damit dient man nur dem Gegner und schwächt die eigne Aktionskraft für die schließlich unvermeidliche prinzipielle große Entscheidung. An eine solche muß eine Regierung mit gutem Gewissen, stark durch ihr Recht und ihre Pflicht herantreten können. Mit der Frage der Reichsfinanzreform wird der Reichstag vor die Frage der Fortexistenz des Reiches ans seinen bisherigen verfassungsmäßigen Grundlagen gestellt. Versagt er dauernd, so liefert er damit den Beweis, daß sich die heutige Form seiner Zusammen¬ setzung überlebt hat, und daß diese das Reich nicht mehr zur Erfüllung seiner Auf¬ gaben befähigt. Dasselbe gilt für die in Aussicht stehende Flottenvorlage. Deutsch¬ land will und muß leben, es muß den großen Pflichten, die der Reichsgemeinschaft sowohl gegen ihre Gesamtheit wie gegen ihre einzelnen Glieder auferlegt sind, ge¬ recht werden können. Wird es an der Erfüllung dieser Pflichten durch einzelne seiner verfassungsmäßigen Einrichtungen behindert, so wird es diese ändern müssen, um die Neichsgemeinschaft lebensfähig zu erhalten. Von diesen Wahrheiten läßt sich nichts wegdeuteln. Unser Volk ist in seinen bürgerlichen Schichten durch den Gang einer segensreichen fünfnnddreißigjährigen friedlichen Entwicklung, durch einen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_296010/232>, abgerufen am 19.05.2024.