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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Viertes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

Wer für sie Freund oder Feind ist. Die Wiederherstellung von Ordnung und
Autorität ist die erste Bedingung jeder freiheitlichen Entwicklung in Rußland. Die
Pöbelherrschaft muß beseitigt sein, bevor der Verfassungsstaat seine Wirksamkeit be¬
ginnen kann. Wem an diesem ehrlich gelegen ist, der muß seine Stellung danach
nehmen, ein drittes giebt es nicht. Pöbelherrschaft ist nicht der Boden und Kriegs¬
zustand nicht die Aussaat, aus der verfassungsmäßige Zustände hervorgehn und ge¬
deihen können.

Aber während unsre Sozialdemokratie in ihren "wissenschaftlichen" wie in ihren
unwissenschaftlichen Organen das Bündnis mit den "russischen Brüdern" proklamiert,
was tun die Organe des "deutschen Bürgertunis," dem mit dieser Ankündigung drohend
ein neuer Fehdehandschuh hingeworfen wird? Findet Minister Witte, der unter
Überwindung vieler und der schwersten Widerstände ehrlich bemüht ist, verfassungs¬
mäßige Rechtszustände in Rußland zu schaffen, und dem es trotz einer sehr tätigen
Gegnerschaft, unter der die wirksamste das wachsend revolutionäre Verhalten der
Massen ist, gelungen war, den Zaren vollständig von der Notwendigkeit loyal
konstitutioneller Staatseinrichtungen so zu überzeugen, daß der Kaiser in die bis¬
herigen Schritte nicht notgedrungen und mit innern Vorbehalten, sondern in voller
Erkenntnis ihrer Zeitgemäßheit gewilligt hat -- findet er in dieser seiner unsagbar
schwierigen Aufgabe in der deutschen bürgerlichen Presse etwa Unterstützung und
Anerkennung? Nein, fast überall pessimistische Kritik, Zweifel an der Dauer seiner
Amtsführung, an der Ehrlichkeit der getroffnen Maßnahmen! Kein Wunder, daß
sich die russische Presse dadurch beeinflussen läßt und ebenfalls mißtrauisch ist,
Während die Revolutivnspartei in Rußland dieses Mißtrauen verschärft durch den
höhnischen Hinweis: Da seht ihr, wie dieser Witte in Deutschland beurteilt wird,
wo mau ihn erst so hoch gefeiert hat! Die mißtrauische Kritik der bürgerlichen
deutschen Presse, die von ihrem Standpunkt ans froh sein sollte, daß sich in Ru߬
land ein Staatsmann für diese Herkulesarbeiten gefunden hat, entfremdet ihm und
damit auch dem Zaren die Unterstützung der besonnenen und gemäßigten Elemente
des Landes, ohne deren Mitwirkung die Verfassung in Rußland niemals zur Tat¬
sache werden kann. Gewiß wäre zu wünschen, daß die Wahl und damit die Ein¬
berufung der Reichsdumn beschleunigt werden könnte, und daß die bisher nur in
Form kaiserlicher Erlasse gegebnen Institutionen und Freiheiten unter Mitwirkung
der Volksvertretung zum Gesetz erhoben würden. Aber bevor die Wahlen auch
nur technisch möglich werden, muß doch Ruhe und Ordnung hergestellt sein, sonst
ist doch schon die Aufstellung von Wählerlisten unausführbar. Alle diese dringenden
Arbeiten verzögern sich aber wesentlich durch das Mißtrauen, an dessen Fortdauer
und Erneuerung die Kritik der bürgerlichen deutschen Presse mitschuldig ist. Deutsch¬
land hat in mehr als einer Beziehung ein politisches und wirtschaftliches Interesse
daran, Rußland sobald wie möglich wieder in geordnete Verhältnisse kommen zu sehen.
Wäre unsre Presse so politisch geschult, daß sie vor allem immer das deutsche Interesse
u>s Auge faßte, so müßte sie über die Rußland und Herrn von Witte gegenüber
Zuzunehmende Stellung längst anßer Zweifel sein. Nur mit einem Überwiegen der
gemäßigten Elemente kann die Duma überhaupt zu einem Resultat kommen.

Die Funken des russischen Feuerbrandes, die über die deutsche Grenze gefallen
send. scheinen in Breslau einiges Stroh entzündet und dort den Antrag hervor¬
gerufen zu haben, den bevorstehenden Buß- und Bettag in Preußen zu Straßen¬
demonstrationen gegen das Landtagswahlrecht zu verwenden. Die Parteileitung
hat sich rechtzeitig erinnert, daß nach dem Gesetz Volksversammlungen unter freien,
Himmel der vorherigen polizeilichen Genehmigung unterliegen, und daß die Staats¬
gewalt in Preußen kaum der Warnung durch die Vorgänge in den Nachbarländern
bedürfen würde, einem solchen Spielen mit dem Feuer nicht mit allem Nachdruck
vorzubeugen. Durch Straßendemonstrationen kann das Landtagswahlrecht nicht ge¬
ändert, höchstens das Reichstagswahlrecht geschädigt werden. Das Reichstagswahl¬
recht gibt den Massen auch in Preußen ohnehin fast mehr, als der Staat mit seinem
Gedeihen in Einklang bringen kann. Zu einer so tief einschneidenden Änderung der


Maßgebliches und Unmaßgebliches

Wer für sie Freund oder Feind ist. Die Wiederherstellung von Ordnung und
Autorität ist die erste Bedingung jeder freiheitlichen Entwicklung in Rußland. Die
Pöbelherrschaft muß beseitigt sein, bevor der Verfassungsstaat seine Wirksamkeit be¬
ginnen kann. Wem an diesem ehrlich gelegen ist, der muß seine Stellung danach
nehmen, ein drittes giebt es nicht. Pöbelherrschaft ist nicht der Boden und Kriegs¬
zustand nicht die Aussaat, aus der verfassungsmäßige Zustände hervorgehn und ge¬
deihen können.

Aber während unsre Sozialdemokratie in ihren „wissenschaftlichen" wie in ihren
unwissenschaftlichen Organen das Bündnis mit den „russischen Brüdern" proklamiert,
was tun die Organe des „deutschen Bürgertunis," dem mit dieser Ankündigung drohend
ein neuer Fehdehandschuh hingeworfen wird? Findet Minister Witte, der unter
Überwindung vieler und der schwersten Widerstände ehrlich bemüht ist, verfassungs¬
mäßige Rechtszustände in Rußland zu schaffen, und dem es trotz einer sehr tätigen
Gegnerschaft, unter der die wirksamste das wachsend revolutionäre Verhalten der
Massen ist, gelungen war, den Zaren vollständig von der Notwendigkeit loyal
konstitutioneller Staatseinrichtungen so zu überzeugen, daß der Kaiser in die bis¬
herigen Schritte nicht notgedrungen und mit innern Vorbehalten, sondern in voller
Erkenntnis ihrer Zeitgemäßheit gewilligt hat — findet er in dieser seiner unsagbar
schwierigen Aufgabe in der deutschen bürgerlichen Presse etwa Unterstützung und
Anerkennung? Nein, fast überall pessimistische Kritik, Zweifel an der Dauer seiner
Amtsführung, an der Ehrlichkeit der getroffnen Maßnahmen! Kein Wunder, daß
sich die russische Presse dadurch beeinflussen läßt und ebenfalls mißtrauisch ist,
Während die Revolutivnspartei in Rußland dieses Mißtrauen verschärft durch den
höhnischen Hinweis: Da seht ihr, wie dieser Witte in Deutschland beurteilt wird,
wo mau ihn erst so hoch gefeiert hat! Die mißtrauische Kritik der bürgerlichen
deutschen Presse, die von ihrem Standpunkt ans froh sein sollte, daß sich in Ru߬
land ein Staatsmann für diese Herkulesarbeiten gefunden hat, entfremdet ihm und
damit auch dem Zaren die Unterstützung der besonnenen und gemäßigten Elemente
des Landes, ohne deren Mitwirkung die Verfassung in Rußland niemals zur Tat¬
sache werden kann. Gewiß wäre zu wünschen, daß die Wahl und damit die Ein¬
berufung der Reichsdumn beschleunigt werden könnte, und daß die bisher nur in
Form kaiserlicher Erlasse gegebnen Institutionen und Freiheiten unter Mitwirkung
der Volksvertretung zum Gesetz erhoben würden. Aber bevor die Wahlen auch
nur technisch möglich werden, muß doch Ruhe und Ordnung hergestellt sein, sonst
ist doch schon die Aufstellung von Wählerlisten unausführbar. Alle diese dringenden
Arbeiten verzögern sich aber wesentlich durch das Mißtrauen, an dessen Fortdauer
und Erneuerung die Kritik der bürgerlichen deutschen Presse mitschuldig ist. Deutsch¬
land hat in mehr als einer Beziehung ein politisches und wirtschaftliches Interesse
daran, Rußland sobald wie möglich wieder in geordnete Verhältnisse kommen zu sehen.
Wäre unsre Presse so politisch geschult, daß sie vor allem immer das deutsche Interesse
u>s Auge faßte, so müßte sie über die Rußland und Herrn von Witte gegenüber
Zuzunehmende Stellung längst anßer Zweifel sein. Nur mit einem Überwiegen der
gemäßigten Elemente kann die Duma überhaupt zu einem Resultat kommen.

Die Funken des russischen Feuerbrandes, die über die deutsche Grenze gefallen
send. scheinen in Breslau einiges Stroh entzündet und dort den Antrag hervor¬
gerufen zu haben, den bevorstehenden Buß- und Bettag in Preußen zu Straßen¬
demonstrationen gegen das Landtagswahlrecht zu verwenden. Die Parteileitung
hat sich rechtzeitig erinnert, daß nach dem Gesetz Volksversammlungen unter freien,
Himmel der vorherigen polizeilichen Genehmigung unterliegen, und daß die Staats¬
gewalt in Preußen kaum der Warnung durch die Vorgänge in den Nachbarländern
bedürfen würde, einem solchen Spielen mit dem Feuer nicht mit allem Nachdruck
vorzubeugen. Durch Straßendemonstrationen kann das Landtagswahlrecht nicht ge¬
ändert, höchstens das Reichstagswahlrecht geschädigt werden. Das Reichstagswahl¬
recht gibt den Massen auch in Preußen ohnehin fast mehr, als der Staat mit seinem
Gedeihen in Einklang bringen kann. Zu einer so tief einschneidenden Änderung der


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[0401] Maßgebliches und Unmaßgebliches Wer für sie Freund oder Feind ist. Die Wiederherstellung von Ordnung und Autorität ist die erste Bedingung jeder freiheitlichen Entwicklung in Rußland. Die Pöbelherrschaft muß beseitigt sein, bevor der Verfassungsstaat seine Wirksamkeit be¬ ginnen kann. Wem an diesem ehrlich gelegen ist, der muß seine Stellung danach nehmen, ein drittes giebt es nicht. Pöbelherrschaft ist nicht der Boden und Kriegs¬ zustand nicht die Aussaat, aus der verfassungsmäßige Zustände hervorgehn und ge¬ deihen können. Aber während unsre Sozialdemokratie in ihren „wissenschaftlichen" wie in ihren unwissenschaftlichen Organen das Bündnis mit den „russischen Brüdern" proklamiert, was tun die Organe des „deutschen Bürgertunis," dem mit dieser Ankündigung drohend ein neuer Fehdehandschuh hingeworfen wird? Findet Minister Witte, der unter Überwindung vieler und der schwersten Widerstände ehrlich bemüht ist, verfassungs¬ mäßige Rechtszustände in Rußland zu schaffen, und dem es trotz einer sehr tätigen Gegnerschaft, unter der die wirksamste das wachsend revolutionäre Verhalten der Massen ist, gelungen war, den Zaren vollständig von der Notwendigkeit loyal konstitutioneller Staatseinrichtungen so zu überzeugen, daß der Kaiser in die bis¬ herigen Schritte nicht notgedrungen und mit innern Vorbehalten, sondern in voller Erkenntnis ihrer Zeitgemäßheit gewilligt hat — findet er in dieser seiner unsagbar schwierigen Aufgabe in der deutschen bürgerlichen Presse etwa Unterstützung und Anerkennung? Nein, fast überall pessimistische Kritik, Zweifel an der Dauer seiner Amtsführung, an der Ehrlichkeit der getroffnen Maßnahmen! Kein Wunder, daß sich die russische Presse dadurch beeinflussen läßt und ebenfalls mißtrauisch ist, Während die Revolutivnspartei in Rußland dieses Mißtrauen verschärft durch den höhnischen Hinweis: Da seht ihr, wie dieser Witte in Deutschland beurteilt wird, wo mau ihn erst so hoch gefeiert hat! Die mißtrauische Kritik der bürgerlichen deutschen Presse, die von ihrem Standpunkt ans froh sein sollte, daß sich in Ru߬ land ein Staatsmann für diese Herkulesarbeiten gefunden hat, entfremdet ihm und damit auch dem Zaren die Unterstützung der besonnenen und gemäßigten Elemente des Landes, ohne deren Mitwirkung die Verfassung in Rußland niemals zur Tat¬ sache werden kann. Gewiß wäre zu wünschen, daß die Wahl und damit die Ein¬ berufung der Reichsdumn beschleunigt werden könnte, und daß die bisher nur in Form kaiserlicher Erlasse gegebnen Institutionen und Freiheiten unter Mitwirkung der Volksvertretung zum Gesetz erhoben würden. Aber bevor die Wahlen auch nur technisch möglich werden, muß doch Ruhe und Ordnung hergestellt sein, sonst ist doch schon die Aufstellung von Wählerlisten unausführbar. Alle diese dringenden Arbeiten verzögern sich aber wesentlich durch das Mißtrauen, an dessen Fortdauer und Erneuerung die Kritik der bürgerlichen deutschen Presse mitschuldig ist. Deutsch¬ land hat in mehr als einer Beziehung ein politisches und wirtschaftliches Interesse daran, Rußland sobald wie möglich wieder in geordnete Verhältnisse kommen zu sehen. Wäre unsre Presse so politisch geschult, daß sie vor allem immer das deutsche Interesse u>s Auge faßte, so müßte sie über die Rußland und Herrn von Witte gegenüber Zuzunehmende Stellung längst anßer Zweifel sein. Nur mit einem Überwiegen der gemäßigten Elemente kann die Duma überhaupt zu einem Resultat kommen. Die Funken des russischen Feuerbrandes, die über die deutsche Grenze gefallen send. scheinen in Breslau einiges Stroh entzündet und dort den Antrag hervor¬ gerufen zu haben, den bevorstehenden Buß- und Bettag in Preußen zu Straßen¬ demonstrationen gegen das Landtagswahlrecht zu verwenden. Die Parteileitung hat sich rechtzeitig erinnert, daß nach dem Gesetz Volksversammlungen unter freien, Himmel der vorherigen polizeilichen Genehmigung unterliegen, und daß die Staats¬ gewalt in Preußen kaum der Warnung durch die Vorgänge in den Nachbarländern bedürfen würde, einem solchen Spielen mit dem Feuer nicht mit allem Nachdruck vorzubeugen. Durch Straßendemonstrationen kann das Landtagswahlrecht nicht ge¬ ändert, höchstens das Reichstagswahlrecht geschädigt werden. Das Reichstagswahl¬ recht gibt den Massen auch in Preußen ohnehin fast mehr, als der Staat mit seinem Gedeihen in Einklang bringen kann. Zu einer so tief einschneidenden Änderung der

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Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_296010/401>, abgerufen am 19.05.2024.