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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Viertes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

Wiesen hat, daß er weder blind noch ängstlich ist, habe die Zeichen der Zeit in
Reden und Interviews ausdrücklich bestritten! Und nachdem der Reichskanzler solche
Reden iwo?) gehalten hat, präsentiert er seinem Souverän eine Thronrede, durch
die er sich selbst desavouiert! Ein törichterer Artikel ist in Deutschland über die
Thronrede schwerlich geschrieben worden, was immerhin viel sagen will. Zum
Überfluß darf wohl noch daran erinnert werden, daß die Rede, die der Reichs¬
kanzler am 11. Dezember 1899 im Reichstage zum damaligen Flottengesetz gehalten
hat, fast prophetisch dasselbe sagt wie die jetzige Thronrede, sodaß von irgendwelchen
Beschönigungstendenzen so wenig gesprochen werden kann wie von einem lächelnden
Optimismus, "der über alle Abgründe tänzelt." Es heißt in jener Rede: "Jetzt
tauchen jeden Augenblick unvermutet neue Fragen auf, die bisweilen ebenso schnell
wieder verschwinden, wie sie gekommen sind, bisweilen sich aber im Handumdrehen
in sehr bedenkliche und sehr akute Friktionen und Komplikationen verwandeln. Wir
müssen nicht nur zu Lande, sondern wir müssen auch zu Wasser gegen Über¬
raschungen gesichert sein. Wir müssen uns eine Flotte schaffen, stark genug, um einen
Angriff, ich unterstreiche das Wort "Angriff" -- bei der absoluten Friedfertigkeit
unsrer Politik kann immer nur von Verteidigung die Rede sein --, aber eine
Flotte, stark genug, um den Angriff jeder Macht auszuschließen, müssen wir be¬
sitzen. ..." Und weiter in derselben Rede: "Es ist viel Neid gegen uns in der
Welt vorhanden, politischer Neid und wirtschaftlicher Neid. Es gibt Individuen,
und es gibt Interessentengruppen, und es gibt Strömungen, und es gibt viel¬
leicht auch Völker, die finden, daß der Deutsche bequemer war, und daß der
Deutsche sür seine Nachbarn angenehmer war in jenen frühern Tagen, wo trotz unsrer
Bildung und trotz unsrer Kultur die Fremden in politischer und wirtschaftlicher
Hinsicht auf uns herabsahen wie hochnäsige Kavaliere auf den bescheidnen Haus¬
lehrer. Diese Zeiten politischer Ohnmacht und wirtschaftlicher und politischer Demut
sollen nicht wiederkehren. Wir wollen nicht wieder, um mit Friedrich List zu
sprechen, die Knechte der Menschheit werden. Wir werden uns aber nur dann auf
der Höhe erhalten, wenn wir einsehen, daß es für uns ohne Macht, ohne ein
starkes Heer und eine starke Flotte keine Wohlfahrt gibt. ... In dem kommenden
Jahrhundert wird das deutsche Volk Hammer oder Amboß sein!"

Wie ein ernsthafter Publizist demgegenüber von einem tänzelnden Optimismus
des Reichskanzlers sprechen kann, ist völlig unbegreiflich. Wer auf diesem Posten
steht, auch wenn er noch so viel Optimismus mitbrachte, und ohne eine gute Portion
Optimismus kann in Demschlcind niemand auf dieser höchsten Verantwortlicher und
verantwortungsreichen Stelle stehn -- auf ein reichlich Teil davon wird er bald
verzichten lernen, wenn er sieht, mit wie wenig Einsicht und Verstand die deutschen
Interessen in der deutschen Presse vertreten werden, von dem Parlament und dessen
traditioneller Kurzsichtigkeit ganz abgesehen. In der Thronrede wird die Lage für
ernst erklärt, was die Kritiker nicht einmal bestreiten, aber anstatt die Nation darum
zu einmütiger Geschlossenheit aufzurufen und namentlich den Reichstag an seine
Pflicht zu mahnen, fallen sie über den Reichskanzler her, der seit sechs Jahren
derselben Ansicht gewesen, und für den die marokkanische Sache eben nur eine Probe
auf das Exempel ist. Allerdings so, daß auch Deutschland dabei eine Probe für
die Richtigkeit seiner Auffassung ablegt, daß wo deutsche Interessen im Spiele sind,
die Rechnung nicht ohne den Wirt gemacht wird.

Einige Blätter beginnen schon jetzt die Frage einer Reichstagsanflösung
in den Bereich der Diskussion zu ziehn. Dazu liegt aber keinerlei Veranlassung
vor. Der Reichstag hat noch in keiner Weise zu erkennen gegeben, daß er dem
Vertrauen des Kaisers, daß er zu der Annahme der wichtigen Vorlagen bereit
sei, nicht zu entsprechen gedenke. Daß in den ersten Debatten einer Session viel
Dampf ausgelassen wird, und die ernste Arbeit erst in der Budgetkommission be¬
ginnt, ist eine altbekannte, nach unser" parlamentarischen Einrichtungen leider nicht
zu vermeidende Tatsache. Damit muß man rechnen, so unerfreulich der Anfang


Maßgebliches und Unmaßgebliches

Wiesen hat, daß er weder blind noch ängstlich ist, habe die Zeichen der Zeit in
Reden und Interviews ausdrücklich bestritten! Und nachdem der Reichskanzler solche
Reden iwo?) gehalten hat, präsentiert er seinem Souverän eine Thronrede, durch
die er sich selbst desavouiert! Ein törichterer Artikel ist in Deutschland über die
Thronrede schwerlich geschrieben worden, was immerhin viel sagen will. Zum
Überfluß darf wohl noch daran erinnert werden, daß die Rede, die der Reichs¬
kanzler am 11. Dezember 1899 im Reichstage zum damaligen Flottengesetz gehalten
hat, fast prophetisch dasselbe sagt wie die jetzige Thronrede, sodaß von irgendwelchen
Beschönigungstendenzen so wenig gesprochen werden kann wie von einem lächelnden
Optimismus, „der über alle Abgründe tänzelt." Es heißt in jener Rede: „Jetzt
tauchen jeden Augenblick unvermutet neue Fragen auf, die bisweilen ebenso schnell
wieder verschwinden, wie sie gekommen sind, bisweilen sich aber im Handumdrehen
in sehr bedenkliche und sehr akute Friktionen und Komplikationen verwandeln. Wir
müssen nicht nur zu Lande, sondern wir müssen auch zu Wasser gegen Über¬
raschungen gesichert sein. Wir müssen uns eine Flotte schaffen, stark genug, um einen
Angriff, ich unterstreiche das Wort »Angriff« — bei der absoluten Friedfertigkeit
unsrer Politik kann immer nur von Verteidigung die Rede sein —, aber eine
Flotte, stark genug, um den Angriff jeder Macht auszuschließen, müssen wir be¬
sitzen. ..." Und weiter in derselben Rede: „Es ist viel Neid gegen uns in der
Welt vorhanden, politischer Neid und wirtschaftlicher Neid. Es gibt Individuen,
und es gibt Interessentengruppen, und es gibt Strömungen, und es gibt viel¬
leicht auch Völker, die finden, daß der Deutsche bequemer war, und daß der
Deutsche sür seine Nachbarn angenehmer war in jenen frühern Tagen, wo trotz unsrer
Bildung und trotz unsrer Kultur die Fremden in politischer und wirtschaftlicher
Hinsicht auf uns herabsahen wie hochnäsige Kavaliere auf den bescheidnen Haus¬
lehrer. Diese Zeiten politischer Ohnmacht und wirtschaftlicher und politischer Demut
sollen nicht wiederkehren. Wir wollen nicht wieder, um mit Friedrich List zu
sprechen, die Knechte der Menschheit werden. Wir werden uns aber nur dann auf
der Höhe erhalten, wenn wir einsehen, daß es für uns ohne Macht, ohne ein
starkes Heer und eine starke Flotte keine Wohlfahrt gibt. ... In dem kommenden
Jahrhundert wird das deutsche Volk Hammer oder Amboß sein!"

Wie ein ernsthafter Publizist demgegenüber von einem tänzelnden Optimismus
des Reichskanzlers sprechen kann, ist völlig unbegreiflich. Wer auf diesem Posten
steht, auch wenn er noch so viel Optimismus mitbrachte, und ohne eine gute Portion
Optimismus kann in Demschlcind niemand auf dieser höchsten Verantwortlicher und
verantwortungsreichen Stelle stehn — auf ein reichlich Teil davon wird er bald
verzichten lernen, wenn er sieht, mit wie wenig Einsicht und Verstand die deutschen
Interessen in der deutschen Presse vertreten werden, von dem Parlament und dessen
traditioneller Kurzsichtigkeit ganz abgesehen. In der Thronrede wird die Lage für
ernst erklärt, was die Kritiker nicht einmal bestreiten, aber anstatt die Nation darum
zu einmütiger Geschlossenheit aufzurufen und namentlich den Reichstag an seine
Pflicht zu mahnen, fallen sie über den Reichskanzler her, der seit sechs Jahren
derselben Ansicht gewesen, und für den die marokkanische Sache eben nur eine Probe
auf das Exempel ist. Allerdings so, daß auch Deutschland dabei eine Probe für
die Richtigkeit seiner Auffassung ablegt, daß wo deutsche Interessen im Spiele sind,
die Rechnung nicht ohne den Wirt gemacht wird.

Einige Blätter beginnen schon jetzt die Frage einer Reichstagsanflösung
in den Bereich der Diskussion zu ziehn. Dazu liegt aber keinerlei Veranlassung
vor. Der Reichstag hat noch in keiner Weise zu erkennen gegeben, daß er dem
Vertrauen des Kaisers, daß er zu der Annahme der wichtigen Vorlagen bereit
sei, nicht zu entsprechen gedenke. Daß in den ersten Debatten einer Session viel
Dampf ausgelassen wird, und die ernste Arbeit erst in der Budgetkommission be¬
ginnt, ist eine altbekannte, nach unser» parlamentarischen Einrichtungen leider nicht
zu vermeidende Tatsache. Damit muß man rechnen, so unerfreulich der Anfang


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[0566] Maßgebliches und Unmaßgebliches Wiesen hat, daß er weder blind noch ängstlich ist, habe die Zeichen der Zeit in Reden und Interviews ausdrücklich bestritten! Und nachdem der Reichskanzler solche Reden iwo?) gehalten hat, präsentiert er seinem Souverän eine Thronrede, durch die er sich selbst desavouiert! Ein törichterer Artikel ist in Deutschland über die Thronrede schwerlich geschrieben worden, was immerhin viel sagen will. Zum Überfluß darf wohl noch daran erinnert werden, daß die Rede, die der Reichs¬ kanzler am 11. Dezember 1899 im Reichstage zum damaligen Flottengesetz gehalten hat, fast prophetisch dasselbe sagt wie die jetzige Thronrede, sodaß von irgendwelchen Beschönigungstendenzen so wenig gesprochen werden kann wie von einem lächelnden Optimismus, „der über alle Abgründe tänzelt." Es heißt in jener Rede: „Jetzt tauchen jeden Augenblick unvermutet neue Fragen auf, die bisweilen ebenso schnell wieder verschwinden, wie sie gekommen sind, bisweilen sich aber im Handumdrehen in sehr bedenkliche und sehr akute Friktionen und Komplikationen verwandeln. Wir müssen nicht nur zu Lande, sondern wir müssen auch zu Wasser gegen Über¬ raschungen gesichert sein. Wir müssen uns eine Flotte schaffen, stark genug, um einen Angriff, ich unterstreiche das Wort »Angriff« — bei der absoluten Friedfertigkeit unsrer Politik kann immer nur von Verteidigung die Rede sein —, aber eine Flotte, stark genug, um den Angriff jeder Macht auszuschließen, müssen wir be¬ sitzen. ..." Und weiter in derselben Rede: „Es ist viel Neid gegen uns in der Welt vorhanden, politischer Neid und wirtschaftlicher Neid. Es gibt Individuen, und es gibt Interessentengruppen, und es gibt Strömungen, und es gibt viel¬ leicht auch Völker, die finden, daß der Deutsche bequemer war, und daß der Deutsche sür seine Nachbarn angenehmer war in jenen frühern Tagen, wo trotz unsrer Bildung und trotz unsrer Kultur die Fremden in politischer und wirtschaftlicher Hinsicht auf uns herabsahen wie hochnäsige Kavaliere auf den bescheidnen Haus¬ lehrer. Diese Zeiten politischer Ohnmacht und wirtschaftlicher und politischer Demut sollen nicht wiederkehren. Wir wollen nicht wieder, um mit Friedrich List zu sprechen, die Knechte der Menschheit werden. Wir werden uns aber nur dann auf der Höhe erhalten, wenn wir einsehen, daß es für uns ohne Macht, ohne ein starkes Heer und eine starke Flotte keine Wohlfahrt gibt. ... In dem kommenden Jahrhundert wird das deutsche Volk Hammer oder Amboß sein!" Wie ein ernsthafter Publizist demgegenüber von einem tänzelnden Optimismus des Reichskanzlers sprechen kann, ist völlig unbegreiflich. Wer auf diesem Posten steht, auch wenn er noch so viel Optimismus mitbrachte, und ohne eine gute Portion Optimismus kann in Demschlcind niemand auf dieser höchsten Verantwortlicher und verantwortungsreichen Stelle stehn — auf ein reichlich Teil davon wird er bald verzichten lernen, wenn er sieht, mit wie wenig Einsicht und Verstand die deutschen Interessen in der deutschen Presse vertreten werden, von dem Parlament und dessen traditioneller Kurzsichtigkeit ganz abgesehen. In der Thronrede wird die Lage für ernst erklärt, was die Kritiker nicht einmal bestreiten, aber anstatt die Nation darum zu einmütiger Geschlossenheit aufzurufen und namentlich den Reichstag an seine Pflicht zu mahnen, fallen sie über den Reichskanzler her, der seit sechs Jahren derselben Ansicht gewesen, und für den die marokkanische Sache eben nur eine Probe auf das Exempel ist. Allerdings so, daß auch Deutschland dabei eine Probe für die Richtigkeit seiner Auffassung ablegt, daß wo deutsche Interessen im Spiele sind, die Rechnung nicht ohne den Wirt gemacht wird. Einige Blätter beginnen schon jetzt die Frage einer Reichstagsanflösung in den Bereich der Diskussion zu ziehn. Dazu liegt aber keinerlei Veranlassung vor. Der Reichstag hat noch in keiner Weise zu erkennen gegeben, daß er dem Vertrauen des Kaisers, daß er zu der Annahme der wichtigen Vorlagen bereit sei, nicht zu entsprechen gedenke. Daß in den ersten Debatten einer Session viel Dampf ausgelassen wird, und die ernste Arbeit erst in der Budgetkommission be¬ ginnt, ist eine altbekannte, nach unser» parlamentarischen Einrichtungen leider nicht zu vermeidende Tatsache. Damit muß man rechnen, so unerfreulich der Anfang

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_296010/566>, abgerufen am 19.05.2024.