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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Viertes Vierteljahr.

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H. L. Andersen

Winther in Südostseeland liegen, bei Andersen aber würde die Karte dem bunten
Mitteldeutschland gleichen, wo die Fürsten rings umher Enklaven haben oft
sehr weit von ihrem Stammlande entfernt. Fünen würde ganz unbedingt
Andersens Stammland sein, aber seine Farben würden auch in der Gegend von
Silkeborg, an der Nordsee und bei Skagen, ja bis weit über die Grenzen Däne¬
marks nach Norden und nach Süden zu suchen sein.

Im Auslande, in Deutschland und in England, hatte sich Andersen einen
Namen errungen durch die Romane; in der Heimat wird er durch sie erst be¬
kannt, aber noch nicht berühmt. Das dänische Publikum war eine Zeit lang
sehr geneigt, über den Erfolg zu lächeln, deu er in der Fremde hatte, und die
bekannte Äußerung von ihm in "Eine Seele nach dem Tode" ist sicher ein
Ausdruck für die Auffassung gewesen, die die Mehrzahl von Andersens Lands¬
leuten lange von ihm hegte. Die Zeit war freilich längst vorüber, wo es
kurz und gut hieß: "Es ist zu großartig und zu apart, und deshalb muß er
gedruckt werden"; aber noch immer stieß er in seinem Verkehr auf Leute, die
ihn nicht verstanden oder ihn nicht verstehn wollten, und die, wenn er sich
hierüber beklagte, ihm antworteten wie die Henne in dem "häßlichen jungen
Entlein": "Ja, wenn wir dich nicht verstehn, wer sollte dich dann wohl
verstehn! Du willst doch wohl nicht gar klüger sein als die Katze und
die Frau, von mir gar nicht zu reden. Aber glaube mir: Ich meine es gut
mit dir, ich sage dir Unannehmlichkeiten, und daran soll man seine wahren
Freunde erkennen!" Und wenn das das Kennzeichen ist, so hat Andersen immer
das Glück gehabt, viele "wahre Freunde" zu haben, sowohl solche, die aus
Neid und Mißgunst unangenehm waren, wie auch solche, die so wie Francesco
und Fabiano es für ihre heilige Pflicht hielten, ihn niederzuhalten. Er machte
in der Tat wirklich beständig "schrecklich viel schlimmes" durch, denn jeder
kleine Nadelstich war ihm eine Herzenswunde, und die Berühmtheit, den wirklich
großen Ruhm, hatte er noch nicht erlangt -- endlich aber kam auch der.

Verhältnismäßig früh hatte er sich mit der Märchendichtung befaßt, aber
anfangs nur wie zufällig, und ohne daß eigentlich weder er selbst noch andre
besondres Gewicht darauf gelegt hatten. Er begnügte sich lange Zeit damit,
durch die Gitterpforte in den "Schloßgarten in seinem Dichterreich" zu lugen
und sich nur hin und wieder einmal eine einzelne Blume aus dem bunten Flor
da drinnen zu holen. Allmühlich aber gelangte er zu der klaren Erkenntnis,
wo seine Größe liege; das Erscheinen der gelben Hefte wurde ein Ereignis,
ein Ereignis für Groß und Klein, und der Storch hinten auf dem Umschlag
segelte mit weit ausgebreiteten Flügeln über die ganze Welt und trug seinen
Ruhm auf dem Rücken.

Die Märchendichtung ist so alt wie die Dichtung selbst; sie hat ihre Heimat
ebensogut im Morgenlande wie im Eis des Pols, und sie wird zu allen
Zeiten leben, so sicher, wie nur der Dichter uns das verschlossene Land zeigen
kann, von dem wir alle träumen, das hinter den Bergen liegt, wo die Elfen
wohnen, und wo noch niemand gewesen ist. Was macht es nun, daß Andersens
Märchen trotzdem so ganz fiir sich stehn, daß es kein Seitenstück in der Literatur
dazu gibt?


H. L. Andersen

Winther in Südostseeland liegen, bei Andersen aber würde die Karte dem bunten
Mitteldeutschland gleichen, wo die Fürsten rings umher Enklaven haben oft
sehr weit von ihrem Stammlande entfernt. Fünen würde ganz unbedingt
Andersens Stammland sein, aber seine Farben würden auch in der Gegend von
Silkeborg, an der Nordsee und bei Skagen, ja bis weit über die Grenzen Däne¬
marks nach Norden und nach Süden zu suchen sein.

Im Auslande, in Deutschland und in England, hatte sich Andersen einen
Namen errungen durch die Romane; in der Heimat wird er durch sie erst be¬
kannt, aber noch nicht berühmt. Das dänische Publikum war eine Zeit lang
sehr geneigt, über den Erfolg zu lächeln, deu er in der Fremde hatte, und die
bekannte Äußerung von ihm in „Eine Seele nach dem Tode" ist sicher ein
Ausdruck für die Auffassung gewesen, die die Mehrzahl von Andersens Lands¬
leuten lange von ihm hegte. Die Zeit war freilich längst vorüber, wo es
kurz und gut hieß: „Es ist zu großartig und zu apart, und deshalb muß er
gedruckt werden"; aber noch immer stieß er in seinem Verkehr auf Leute, die
ihn nicht verstanden oder ihn nicht verstehn wollten, und die, wenn er sich
hierüber beklagte, ihm antworteten wie die Henne in dem „häßlichen jungen
Entlein": „Ja, wenn wir dich nicht verstehn, wer sollte dich dann wohl
verstehn! Du willst doch wohl nicht gar klüger sein als die Katze und
die Frau, von mir gar nicht zu reden. Aber glaube mir: Ich meine es gut
mit dir, ich sage dir Unannehmlichkeiten, und daran soll man seine wahren
Freunde erkennen!" Und wenn das das Kennzeichen ist, so hat Andersen immer
das Glück gehabt, viele „wahre Freunde" zu haben, sowohl solche, die aus
Neid und Mißgunst unangenehm waren, wie auch solche, die so wie Francesco
und Fabiano es für ihre heilige Pflicht hielten, ihn niederzuhalten. Er machte
in der Tat wirklich beständig „schrecklich viel schlimmes" durch, denn jeder
kleine Nadelstich war ihm eine Herzenswunde, und die Berühmtheit, den wirklich
großen Ruhm, hatte er noch nicht erlangt — endlich aber kam auch der.

Verhältnismäßig früh hatte er sich mit der Märchendichtung befaßt, aber
anfangs nur wie zufällig, und ohne daß eigentlich weder er selbst noch andre
besondres Gewicht darauf gelegt hatten. Er begnügte sich lange Zeit damit,
durch die Gitterpforte in den „Schloßgarten in seinem Dichterreich" zu lugen
und sich nur hin und wieder einmal eine einzelne Blume aus dem bunten Flor
da drinnen zu holen. Allmühlich aber gelangte er zu der klaren Erkenntnis,
wo seine Größe liege; das Erscheinen der gelben Hefte wurde ein Ereignis,
ein Ereignis für Groß und Klein, und der Storch hinten auf dem Umschlag
segelte mit weit ausgebreiteten Flügeln über die ganze Welt und trug seinen
Ruhm auf dem Rücken.

Die Märchendichtung ist so alt wie die Dichtung selbst; sie hat ihre Heimat
ebensogut im Morgenlande wie im Eis des Pols, und sie wird zu allen
Zeiten leben, so sicher, wie nur der Dichter uns das verschlossene Land zeigen
kann, von dem wir alle träumen, das hinter den Bergen liegt, wo die Elfen
wohnen, und wo noch niemand gewesen ist. Was macht es nun, daß Andersens
Märchen trotzdem so ganz fiir sich stehn, daß es kein Seitenstück in der Literatur
dazu gibt?


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_296010/88>, abgerufen am 19.05.2024.