Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Unter Runden, Komödianten und wilden Tieren

Brennmaterial um. Einer der Kunden fand schließlich ein Paar "linke Trittchen"
(schlecht erhaltne Stiefel), die er ohne weiteres in den Ofen steckte. Der Eigen¬
tümer dieser Wertobjekte bemerkte den Verlust erst, als sie schon eine Weile im
Ofen gelegen hatten, und holte sie schleunigst wieder heraus. Am Nachmittag ging
ich nach Leipzig und nahm mein Nachtquartier in dem Asyl für Obdachlose in der
Talstraße. Hier suchte ich zunächst die "deutschen Reichskäfer" los zu werden, die
ich von der Penue in Taucha mitgebracht hatte.

Ich mußte meine Papiere abgeben, mich von Kopf bis zu Fuß waschen und
bekam als Ersatz für meine Kleider, die einer Reinigung und Desinfektion unter¬
worfen wurden, einen Drillichanzug. Zum Abendessen gab es eine Mehlsuppe mit
einem Stück Brot, dann mußten wir unser Lager im Schlafsaal aufsuchen, das aus
einer sehr harten Drahtmatratze und zwei wollnen Decken bestand, und Vertrieben
uns noch eine Weile die Zeit mit dem Erzcihleu der unter den Kunden so be¬
liebten Räubergeschichten. Am andern Morgen wurden wir zeitig geweckt und in
den Keller hinunter kommandiert, wo sich jeder seine "Kluft" (Anzug) aus einem
großen Kleiderhaufen heraussuchen mußte. Der Boos, der uns dabei zusah, trieb
uns zur Eile an und zog einem Kunden, der seine "Kreuzspanne" (Weste) nicht
gleich finden konnte, einen Hieb mit dem Rohrstock über, wodurch die Findigkeit
des betreffenden in der günstigsten Weise beeinflußt wurde. Dann bekamen wir
Kaffee und Semmel, erhielten unsre Fleppe zurück und zogen "veiter. Ich wanderte
über Delitzsch, Bitterfeld, Halle, Weißenfels und Zeitz uach Weida. Dort stieß ich
die "Krauterer" und kam zu einem alten Meister, der gerade mit seiner Familie
beim Kaffee saß und dazu trocknes Brot verzehrte. Das Ganze machte einen arm¬
seligen Eindruck, und ich wunderte mich deshalb nicht wenig, als der Meister mich
zu dem Kaffee einlud und mir erklärte, ich könne Arbeit bei ihm finden.

Im ganzen Hause war kein Sack Mehl. Der Meister holte es, wenn er
backen wollte, im Konsumverein, der auch sein einziger Kunde war. Da aber
Weihnachten vor der Tür stand, und der Meister darauf rechnete, Kuchen backen
zu müssen, so konnte er gerade eine Arbeitskraft brauchen. Ich fing denn auch
sofort an zu arbeiten und schlief die erste Nacht auf einer Bank, die auf dem
Backofen stand. Früh beim Kaffee holte die Tochter bei einem andern Bäcker eine
Zeile Semmel für mich, womit ich sehr bald fertig wurde; sie aber sagte, nachdem
schon alles verzehrt war: Robert, essen Sie nur! Für die zweite Nacht wurde mir
ein Kämmerchen eingerichtet, und ich erhielt zum zweiten Frühstück Brot und Käse.
Das Mittagessen war sehr schlecht und spärlich, sodaß von Sättigung keine Rede
war. Für den weitern Aufenthalt wurde mir ein Kämmerchen unter dem Dach
angewiesen, da aber in der Treppe zwei Stufen fehlten, und ich wenig Lust ver¬
spürte, früh in der Dunkelheit den Hals zu brechen, beschloß ich, nicht vor Tages¬
anbruch aufzustehn. Als ich um acht Uhr hinunterkam, geriet ich mit dem Meister
aneinander und verließ sofort die Stelle.

Ich zog weiter über Gera uach Reichenbach zu meinem Onkel, wo ich scherzes-
halber als armer Reisender vorsprach. Die Tante hatte gerade Kuchen gebacken,
und meine Cousine gab mir ein Stück davon. Ich bedankte mich und gab mich
schließlich als Verwandter zu erkennen, worüber sie sich sehr belustigt zeigten.
Noch an demselben Abend ging ich nach meiner Heimatstadt Lengenfeld, fand aber
meine Eltern nicht mehr in der alten Wohnung und traf, als ich in ihrer neuen
vorsprach, Zuwachs in der Familie an. Obwohl gerade eine schlechte Zeit war,
wurde ich doch mit offnen Armen empfangen und sah mich nach Arbeit um. Diese
fand ich erst im Februar, und zwar in Reichenbach, wo es freilich auch nicht viel
besser war als bei dem Meister in Weida.

Im April kehrte ich nach Lengenfeld zurück, wohnte dort bei den Eltern und
verschaffte mir ein "Germaniabuch," wonach ich auf der Wanderschaft öfters ge¬
fragt worden war, und das mir zum Fortkommen unentbehrlich schien. Das soge¬
nannte Germaniabuch ist das Verbandsbuch des Germaniaverbandes der deutschen


Unter Runden, Komödianten und wilden Tieren

Brennmaterial um. Einer der Kunden fand schließlich ein Paar „linke Trittchen"
(schlecht erhaltne Stiefel), die er ohne weiteres in den Ofen steckte. Der Eigen¬
tümer dieser Wertobjekte bemerkte den Verlust erst, als sie schon eine Weile im
Ofen gelegen hatten, und holte sie schleunigst wieder heraus. Am Nachmittag ging
ich nach Leipzig und nahm mein Nachtquartier in dem Asyl für Obdachlose in der
Talstraße. Hier suchte ich zunächst die „deutschen Reichskäfer" los zu werden, die
ich von der Penue in Taucha mitgebracht hatte.

Ich mußte meine Papiere abgeben, mich von Kopf bis zu Fuß waschen und
bekam als Ersatz für meine Kleider, die einer Reinigung und Desinfektion unter¬
worfen wurden, einen Drillichanzug. Zum Abendessen gab es eine Mehlsuppe mit
einem Stück Brot, dann mußten wir unser Lager im Schlafsaal aufsuchen, das aus
einer sehr harten Drahtmatratze und zwei wollnen Decken bestand, und Vertrieben
uns noch eine Weile die Zeit mit dem Erzcihleu der unter den Kunden so be¬
liebten Räubergeschichten. Am andern Morgen wurden wir zeitig geweckt und in
den Keller hinunter kommandiert, wo sich jeder seine „Kluft" (Anzug) aus einem
großen Kleiderhaufen heraussuchen mußte. Der Boos, der uns dabei zusah, trieb
uns zur Eile an und zog einem Kunden, der seine „Kreuzspanne" (Weste) nicht
gleich finden konnte, einen Hieb mit dem Rohrstock über, wodurch die Findigkeit
des betreffenden in der günstigsten Weise beeinflußt wurde. Dann bekamen wir
Kaffee und Semmel, erhielten unsre Fleppe zurück und zogen »veiter. Ich wanderte
über Delitzsch, Bitterfeld, Halle, Weißenfels und Zeitz uach Weida. Dort stieß ich
die „Krauterer" und kam zu einem alten Meister, der gerade mit seiner Familie
beim Kaffee saß und dazu trocknes Brot verzehrte. Das Ganze machte einen arm¬
seligen Eindruck, und ich wunderte mich deshalb nicht wenig, als der Meister mich
zu dem Kaffee einlud und mir erklärte, ich könne Arbeit bei ihm finden.

Im ganzen Hause war kein Sack Mehl. Der Meister holte es, wenn er
backen wollte, im Konsumverein, der auch sein einziger Kunde war. Da aber
Weihnachten vor der Tür stand, und der Meister darauf rechnete, Kuchen backen
zu müssen, so konnte er gerade eine Arbeitskraft brauchen. Ich fing denn auch
sofort an zu arbeiten und schlief die erste Nacht auf einer Bank, die auf dem
Backofen stand. Früh beim Kaffee holte die Tochter bei einem andern Bäcker eine
Zeile Semmel für mich, womit ich sehr bald fertig wurde; sie aber sagte, nachdem
schon alles verzehrt war: Robert, essen Sie nur! Für die zweite Nacht wurde mir
ein Kämmerchen eingerichtet, und ich erhielt zum zweiten Frühstück Brot und Käse.
Das Mittagessen war sehr schlecht und spärlich, sodaß von Sättigung keine Rede
war. Für den weitern Aufenthalt wurde mir ein Kämmerchen unter dem Dach
angewiesen, da aber in der Treppe zwei Stufen fehlten, und ich wenig Lust ver¬
spürte, früh in der Dunkelheit den Hals zu brechen, beschloß ich, nicht vor Tages¬
anbruch aufzustehn. Als ich um acht Uhr hinunterkam, geriet ich mit dem Meister
aneinander und verließ sofort die Stelle.

Ich zog weiter über Gera uach Reichenbach zu meinem Onkel, wo ich scherzes-
halber als armer Reisender vorsprach. Die Tante hatte gerade Kuchen gebacken,
und meine Cousine gab mir ein Stück davon. Ich bedankte mich und gab mich
schließlich als Verwandter zu erkennen, worüber sie sich sehr belustigt zeigten.
Noch an demselben Abend ging ich nach meiner Heimatstadt Lengenfeld, fand aber
meine Eltern nicht mehr in der alten Wohnung und traf, als ich in ihrer neuen
vorsprach, Zuwachs in der Familie an. Obwohl gerade eine schlechte Zeit war,
wurde ich doch mit offnen Armen empfangen und sah mich nach Arbeit um. Diese
fand ich erst im Februar, und zwar in Reichenbach, wo es freilich auch nicht viel
besser war als bei dem Meister in Weida.

Im April kehrte ich nach Lengenfeld zurück, wohnte dort bei den Eltern und
verschaffte mir ein „Germaniabuch," wonach ich auf der Wanderschaft öfters ge¬
fragt worden war, und das mir zum Fortkommen unentbehrlich schien. Das soge¬
nannte Germaniabuch ist das Verbandsbuch des Germaniaverbandes der deutschen


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0556" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/296935"/>
            <fw type="header" place="top"> Unter Runden, Komödianten und wilden Tieren</fw><lb/>
            <p xml:id="ID_2537" prev="#ID_2536"> Brennmaterial um. Einer der Kunden fand schließlich ein Paar &#x201E;linke Trittchen"<lb/>
(schlecht erhaltne Stiefel), die er ohne weiteres in den Ofen steckte. Der Eigen¬<lb/>
tümer dieser Wertobjekte bemerkte den Verlust erst, als sie schon eine Weile im<lb/>
Ofen gelegen hatten, und holte sie schleunigst wieder heraus. Am Nachmittag ging<lb/>
ich nach Leipzig und nahm mein Nachtquartier in dem Asyl für Obdachlose in der<lb/>
Talstraße. Hier suchte ich zunächst die &#x201E;deutschen Reichskäfer" los zu werden, die<lb/>
ich von der Penue in Taucha mitgebracht hatte.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_2538"> Ich mußte meine Papiere abgeben, mich von Kopf bis zu Fuß waschen und<lb/>
bekam als Ersatz für meine Kleider, die einer Reinigung und Desinfektion unter¬<lb/>
worfen wurden, einen Drillichanzug. Zum Abendessen gab es eine Mehlsuppe mit<lb/>
einem Stück Brot, dann mußten wir unser Lager im Schlafsaal aufsuchen, das aus<lb/>
einer sehr harten Drahtmatratze und zwei wollnen Decken bestand, und Vertrieben<lb/>
uns noch eine Weile die Zeit mit dem Erzcihleu der unter den Kunden so be¬<lb/>
liebten Räubergeschichten. Am andern Morgen wurden wir zeitig geweckt und in<lb/>
den Keller hinunter kommandiert, wo sich jeder seine &#x201E;Kluft" (Anzug) aus einem<lb/>
großen Kleiderhaufen heraussuchen mußte. Der Boos, der uns dabei zusah, trieb<lb/>
uns zur Eile an und zog einem Kunden, der seine &#x201E;Kreuzspanne" (Weste) nicht<lb/>
gleich finden konnte, einen Hieb mit dem Rohrstock über, wodurch die Findigkeit<lb/>
des betreffenden in der günstigsten Weise beeinflußt wurde. Dann bekamen wir<lb/>
Kaffee und Semmel, erhielten unsre Fleppe zurück und zogen »veiter. Ich wanderte<lb/>
über Delitzsch, Bitterfeld, Halle, Weißenfels und Zeitz uach Weida. Dort stieß ich<lb/>
die &#x201E;Krauterer" und kam zu einem alten Meister, der gerade mit seiner Familie<lb/>
beim Kaffee saß und dazu trocknes Brot verzehrte. Das Ganze machte einen arm¬<lb/>
seligen Eindruck, und ich wunderte mich deshalb nicht wenig, als der Meister mich<lb/>
zu dem Kaffee einlud und mir erklärte, ich könne Arbeit bei ihm finden.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_2539"> Im ganzen Hause war kein Sack Mehl. Der Meister holte es, wenn er<lb/>
backen wollte, im Konsumverein, der auch sein einziger Kunde war. Da aber<lb/>
Weihnachten vor der Tür stand, und der Meister darauf rechnete, Kuchen backen<lb/>
zu müssen, so konnte er gerade eine Arbeitskraft brauchen. Ich fing denn auch<lb/>
sofort an zu arbeiten und schlief die erste Nacht auf einer Bank, die auf dem<lb/>
Backofen stand. Früh beim Kaffee holte die Tochter bei einem andern Bäcker eine<lb/>
Zeile Semmel für mich, womit ich sehr bald fertig wurde; sie aber sagte, nachdem<lb/>
schon alles verzehrt war: Robert, essen Sie nur! Für die zweite Nacht wurde mir<lb/>
ein Kämmerchen eingerichtet, und ich erhielt zum zweiten Frühstück Brot und Käse.<lb/>
Das Mittagessen war sehr schlecht und spärlich, sodaß von Sättigung keine Rede<lb/>
war. Für den weitern Aufenthalt wurde mir ein Kämmerchen unter dem Dach<lb/>
angewiesen, da aber in der Treppe zwei Stufen fehlten, und ich wenig Lust ver¬<lb/>
spürte, früh in der Dunkelheit den Hals zu brechen, beschloß ich, nicht vor Tages¬<lb/>
anbruch aufzustehn. Als ich um acht Uhr hinunterkam, geriet ich mit dem Meister<lb/>
aneinander und verließ sofort die Stelle.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_2540"> Ich zog weiter über Gera uach Reichenbach zu meinem Onkel, wo ich scherzes-<lb/>
halber als armer Reisender vorsprach. Die Tante hatte gerade Kuchen gebacken,<lb/>
und meine Cousine gab mir ein Stück davon. Ich bedankte mich und gab mich<lb/>
schließlich als Verwandter zu erkennen, worüber sie sich sehr belustigt zeigten.<lb/>
Noch an demselben Abend ging ich nach meiner Heimatstadt Lengenfeld, fand aber<lb/>
meine Eltern nicht mehr in der alten Wohnung und traf, als ich in ihrer neuen<lb/>
vorsprach, Zuwachs in der Familie an. Obwohl gerade eine schlechte Zeit war,<lb/>
wurde ich doch mit offnen Armen empfangen und sah mich nach Arbeit um. Diese<lb/>
fand ich erst im Februar, und zwar in Reichenbach, wo es freilich auch nicht viel<lb/>
besser war als bei dem Meister in Weida.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_2541" next="#ID_2542"> Im April kehrte ich nach Lengenfeld zurück, wohnte dort bei den Eltern und<lb/>
verschaffte mir ein &#x201E;Germaniabuch," wonach ich auf der Wanderschaft öfters ge¬<lb/>
fragt worden war, und das mir zum Fortkommen unentbehrlich schien. Das soge¬<lb/>
nannte Germaniabuch ist das Verbandsbuch des Germaniaverbandes der deutschen</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0556] Unter Runden, Komödianten und wilden Tieren Brennmaterial um. Einer der Kunden fand schließlich ein Paar „linke Trittchen" (schlecht erhaltne Stiefel), die er ohne weiteres in den Ofen steckte. Der Eigen¬ tümer dieser Wertobjekte bemerkte den Verlust erst, als sie schon eine Weile im Ofen gelegen hatten, und holte sie schleunigst wieder heraus. Am Nachmittag ging ich nach Leipzig und nahm mein Nachtquartier in dem Asyl für Obdachlose in der Talstraße. Hier suchte ich zunächst die „deutschen Reichskäfer" los zu werden, die ich von der Penue in Taucha mitgebracht hatte. Ich mußte meine Papiere abgeben, mich von Kopf bis zu Fuß waschen und bekam als Ersatz für meine Kleider, die einer Reinigung und Desinfektion unter¬ worfen wurden, einen Drillichanzug. Zum Abendessen gab es eine Mehlsuppe mit einem Stück Brot, dann mußten wir unser Lager im Schlafsaal aufsuchen, das aus einer sehr harten Drahtmatratze und zwei wollnen Decken bestand, und Vertrieben uns noch eine Weile die Zeit mit dem Erzcihleu der unter den Kunden so be¬ liebten Räubergeschichten. Am andern Morgen wurden wir zeitig geweckt und in den Keller hinunter kommandiert, wo sich jeder seine „Kluft" (Anzug) aus einem großen Kleiderhaufen heraussuchen mußte. Der Boos, der uns dabei zusah, trieb uns zur Eile an und zog einem Kunden, der seine „Kreuzspanne" (Weste) nicht gleich finden konnte, einen Hieb mit dem Rohrstock über, wodurch die Findigkeit des betreffenden in der günstigsten Weise beeinflußt wurde. Dann bekamen wir Kaffee und Semmel, erhielten unsre Fleppe zurück und zogen »veiter. Ich wanderte über Delitzsch, Bitterfeld, Halle, Weißenfels und Zeitz uach Weida. Dort stieß ich die „Krauterer" und kam zu einem alten Meister, der gerade mit seiner Familie beim Kaffee saß und dazu trocknes Brot verzehrte. Das Ganze machte einen arm¬ seligen Eindruck, und ich wunderte mich deshalb nicht wenig, als der Meister mich zu dem Kaffee einlud und mir erklärte, ich könne Arbeit bei ihm finden. Im ganzen Hause war kein Sack Mehl. Der Meister holte es, wenn er backen wollte, im Konsumverein, der auch sein einziger Kunde war. Da aber Weihnachten vor der Tür stand, und der Meister darauf rechnete, Kuchen backen zu müssen, so konnte er gerade eine Arbeitskraft brauchen. Ich fing denn auch sofort an zu arbeiten und schlief die erste Nacht auf einer Bank, die auf dem Backofen stand. Früh beim Kaffee holte die Tochter bei einem andern Bäcker eine Zeile Semmel für mich, womit ich sehr bald fertig wurde; sie aber sagte, nachdem schon alles verzehrt war: Robert, essen Sie nur! Für die zweite Nacht wurde mir ein Kämmerchen eingerichtet, und ich erhielt zum zweiten Frühstück Brot und Käse. Das Mittagessen war sehr schlecht und spärlich, sodaß von Sättigung keine Rede war. Für den weitern Aufenthalt wurde mir ein Kämmerchen unter dem Dach angewiesen, da aber in der Treppe zwei Stufen fehlten, und ich wenig Lust ver¬ spürte, früh in der Dunkelheit den Hals zu brechen, beschloß ich, nicht vor Tages¬ anbruch aufzustehn. Als ich um acht Uhr hinunterkam, geriet ich mit dem Meister aneinander und verließ sofort die Stelle. Ich zog weiter über Gera uach Reichenbach zu meinem Onkel, wo ich scherzes- halber als armer Reisender vorsprach. Die Tante hatte gerade Kuchen gebacken, und meine Cousine gab mir ein Stück davon. Ich bedankte mich und gab mich schließlich als Verwandter zu erkennen, worüber sie sich sehr belustigt zeigten. Noch an demselben Abend ging ich nach meiner Heimatstadt Lengenfeld, fand aber meine Eltern nicht mehr in der alten Wohnung und traf, als ich in ihrer neuen vorsprach, Zuwachs in der Familie an. Obwohl gerade eine schlechte Zeit war, wurde ich doch mit offnen Armen empfangen und sah mich nach Arbeit um. Diese fand ich erst im Februar, und zwar in Reichenbach, wo es freilich auch nicht viel besser war als bei dem Meister in Weida. Im April kehrte ich nach Lengenfeld zurück, wohnte dort bei den Eltern und verschaffte mir ein „Germaniabuch," wonach ich auf der Wanderschaft öfters ge¬ fragt worden war, und das mir zum Fortkommen unentbehrlich schien. Das soge¬ nannte Germaniabuch ist das Verbandsbuch des Germaniaverbandes der deutschen

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_296764
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_296764/556
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_296764/556>, abgerufen am 19.05.2024.