Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Nietzsche noch einmal

stände z. B., wie die in den vortrefflichen und sehr nützlichen "Erinnerungen
einer Lehrerin" in den Grenzboten geschilderten. Gegen die Bezeichnung Volks¬
schule für Schulen gleich der, an der sie gewirkt hat, muß man allerdings
protestieren. In den Volksschulen von Dörfer", kleinen und Mittelstädten, die
ich kennen gelernt habe, gab es gar keine solchen Kinder, wie sie dort die
Masse der Schüler und Schülerinnen ausmachen. Dieses Fabrikproletariat,
Erzeugnis der modernen industriellen Entwicklung, verdient nicht den Namen
Volk, und wenn sich unser ganzer jährlicher Bevölkerungszuwachs in diesen
Sumpf ergießt, dann gibt es nach fünfzig Jahren kein deutsches Volk mehr,
sondern bloß noch einen deutscheu Pöbel mit einer dünnen Bildungsschicht
darüber. Der gelegentliche Anblick von Vertretern dieses Pöbels mag in Nietzsche,
dessen Grundstimmung Brandes aristokratischen Radikalismus genannt hat, den
leidenschaftlichen Haß gegen jede Art von Demokratie erzeugt haben.

Aus der Betrachtung der Übelstände des heutigen Demokratismus und der
Gefcchreu der sozialistischen Strömung ist ihm die Überzeugung von der Un¬
Haltbarkeit des ganzen modernen Verfassuugsweseus erwachsen, die ich teile, und
der ich in der Form Ausdruck verliehen habe: Man hat nur die Wahl, ob man
zum Kommunismus fortschreiten oder zum Ständestaat zurückkehren will, natür¬
lich zu einem den heutigen Verhältnissen entsprechend zu gestaltenden Stände¬
staat. Diese Wahrheit ist die wichtigste der von Nietzsche verkündigten Wahr-
heiten und zugleich die, um deren Verbreitung sich bisher noch kein Mensch
bemüht hat. Und obwohl sich Nietzsche um volkswirtschaftliche Fragen gar nicht
kümmerte, auch sicherlich von Nationalökonomie nicht das mindeste verstanden
hat, ist doch seinem Scharfblick das Problem nicht verborgen geblieben, das der
Sozialismus als lösbar und in der Theorie schou gelöst ansieht, und das uns
tatsächlich auf den Leib rückt, seitdem die Erde so klein geworden ist, wie wir
sie jetzt sehen, und alle Entfernungen aufgehoben worden sind, alle Scheide¬
wände zu fallen drohen. "Es naht sich, unabweislich, zögernd, furchtbar wie
das Schicksal, die große Aufgabe und Frage: wie soll die Erde als Ganzes
verwaltet werden?" Außerdem ist die Einführung der Begriffe des Dionysischen
und des Apollinischen in die Betrachtung von Kunst und Leben als eine dauernde
Bereicherung unsers Knlturschatzes anzusehen. Zu den schönsten und treffendsten
von Nietzsches Aphorismen gehört sein anerkennendes Urteil über den heutigen
deutschen Vvlkschcirakter in der "Götzendämmerung," das Frau Förster S. 887
zitiert.

Ein Messias, Bringer einer neuen, erlösenden Weisheit ist Nietzsche nicht:
aber einige unabweisbare Aufgaben unsrer Zeit hat er klar erkannt und die
Wege zu ihrer Lösung angedeutet, und wenn sich der Mann findet, der das
oben als wünschenswert bezeichnete Buch schreibt, so wird das Wertvolle, das
sich ungeordnet und zerstreut in dein Wust seiner Werke findet, dem zukünftigen
L. I- Geschlechte gute Dienste leisten.




Nietzsche noch einmal

stände z. B., wie die in den vortrefflichen und sehr nützlichen „Erinnerungen
einer Lehrerin" in den Grenzboten geschilderten. Gegen die Bezeichnung Volks¬
schule für Schulen gleich der, an der sie gewirkt hat, muß man allerdings
protestieren. In den Volksschulen von Dörfer», kleinen und Mittelstädten, die
ich kennen gelernt habe, gab es gar keine solchen Kinder, wie sie dort die
Masse der Schüler und Schülerinnen ausmachen. Dieses Fabrikproletariat,
Erzeugnis der modernen industriellen Entwicklung, verdient nicht den Namen
Volk, und wenn sich unser ganzer jährlicher Bevölkerungszuwachs in diesen
Sumpf ergießt, dann gibt es nach fünfzig Jahren kein deutsches Volk mehr,
sondern bloß noch einen deutscheu Pöbel mit einer dünnen Bildungsschicht
darüber. Der gelegentliche Anblick von Vertretern dieses Pöbels mag in Nietzsche,
dessen Grundstimmung Brandes aristokratischen Radikalismus genannt hat, den
leidenschaftlichen Haß gegen jede Art von Demokratie erzeugt haben.

Aus der Betrachtung der Übelstände des heutigen Demokratismus und der
Gefcchreu der sozialistischen Strömung ist ihm die Überzeugung von der Un¬
Haltbarkeit des ganzen modernen Verfassuugsweseus erwachsen, die ich teile, und
der ich in der Form Ausdruck verliehen habe: Man hat nur die Wahl, ob man
zum Kommunismus fortschreiten oder zum Ständestaat zurückkehren will, natür¬
lich zu einem den heutigen Verhältnissen entsprechend zu gestaltenden Stände¬
staat. Diese Wahrheit ist die wichtigste der von Nietzsche verkündigten Wahr-
heiten und zugleich die, um deren Verbreitung sich bisher noch kein Mensch
bemüht hat. Und obwohl sich Nietzsche um volkswirtschaftliche Fragen gar nicht
kümmerte, auch sicherlich von Nationalökonomie nicht das mindeste verstanden
hat, ist doch seinem Scharfblick das Problem nicht verborgen geblieben, das der
Sozialismus als lösbar und in der Theorie schou gelöst ansieht, und das uns
tatsächlich auf den Leib rückt, seitdem die Erde so klein geworden ist, wie wir
sie jetzt sehen, und alle Entfernungen aufgehoben worden sind, alle Scheide¬
wände zu fallen drohen. „Es naht sich, unabweislich, zögernd, furchtbar wie
das Schicksal, die große Aufgabe und Frage: wie soll die Erde als Ganzes
verwaltet werden?" Außerdem ist die Einführung der Begriffe des Dionysischen
und des Apollinischen in die Betrachtung von Kunst und Leben als eine dauernde
Bereicherung unsers Knlturschatzes anzusehen. Zu den schönsten und treffendsten
von Nietzsches Aphorismen gehört sein anerkennendes Urteil über den heutigen
deutschen Vvlkschcirakter in der „Götzendämmerung," das Frau Förster S. 887
zitiert.

Ein Messias, Bringer einer neuen, erlösenden Weisheit ist Nietzsche nicht:
aber einige unabweisbare Aufgaben unsrer Zeit hat er klar erkannt und die
Wege zu ihrer Lösung angedeutet, und wenn sich der Mann findet, der das
oben als wünschenswert bezeichnete Buch schreibt, so wird das Wertvolle, das
sich ungeordnet und zerstreut in dein Wust seiner Werke findet, dem zukünftigen
L. I- Geschlechte gute Dienste leisten.




<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0099" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/297231"/>
          <fw type="header" place="top"> Nietzsche noch einmal</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_306" prev="#ID_305"> stände z. B., wie die in den vortrefflichen und sehr nützlichen &#x201E;Erinnerungen<lb/>
einer Lehrerin" in den Grenzboten geschilderten. Gegen die Bezeichnung Volks¬<lb/>
schule für Schulen gleich der, an der sie gewirkt hat, muß man allerdings<lb/>
protestieren. In den Volksschulen von Dörfer», kleinen und Mittelstädten, die<lb/>
ich kennen gelernt habe, gab es gar keine solchen Kinder, wie sie dort die<lb/>
Masse der Schüler und Schülerinnen ausmachen. Dieses Fabrikproletariat,<lb/>
Erzeugnis der modernen industriellen Entwicklung, verdient nicht den Namen<lb/>
Volk, und wenn sich unser ganzer jährlicher Bevölkerungszuwachs in diesen<lb/>
Sumpf ergießt, dann gibt es nach fünfzig Jahren kein deutsches Volk mehr,<lb/>
sondern bloß noch einen deutscheu Pöbel mit einer dünnen Bildungsschicht<lb/>
darüber. Der gelegentliche Anblick von Vertretern dieses Pöbels mag in Nietzsche,<lb/>
dessen Grundstimmung Brandes aristokratischen Radikalismus genannt hat, den<lb/>
leidenschaftlichen Haß gegen jede Art von Demokratie erzeugt haben.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_307"> Aus der Betrachtung der Übelstände des heutigen Demokratismus und der<lb/>
Gefcchreu der sozialistischen Strömung ist ihm die Überzeugung von der Un¬<lb/>
Haltbarkeit des ganzen modernen Verfassuugsweseus erwachsen, die ich teile, und<lb/>
der ich in der Form Ausdruck verliehen habe: Man hat nur die Wahl, ob man<lb/>
zum Kommunismus fortschreiten oder zum Ständestaat zurückkehren will, natür¬<lb/>
lich zu einem den heutigen Verhältnissen entsprechend zu gestaltenden Stände¬<lb/>
staat. Diese Wahrheit ist die wichtigste der von Nietzsche verkündigten Wahr-<lb/>
heiten und zugleich die, um deren Verbreitung sich bisher noch kein Mensch<lb/>
bemüht hat. Und obwohl sich Nietzsche um volkswirtschaftliche Fragen gar nicht<lb/>
kümmerte, auch sicherlich von Nationalökonomie nicht das mindeste verstanden<lb/>
hat, ist doch seinem Scharfblick das Problem nicht verborgen geblieben, das der<lb/>
Sozialismus als lösbar und in der Theorie schou gelöst ansieht, und das uns<lb/>
tatsächlich auf den Leib rückt, seitdem die Erde so klein geworden ist, wie wir<lb/>
sie jetzt sehen, und alle Entfernungen aufgehoben worden sind, alle Scheide¬<lb/>
wände zu fallen drohen. &#x201E;Es naht sich, unabweislich, zögernd, furchtbar wie<lb/>
das Schicksal, die große Aufgabe und Frage: wie soll die Erde als Ganzes<lb/>
verwaltet werden?" Außerdem ist die Einführung der Begriffe des Dionysischen<lb/>
und des Apollinischen in die Betrachtung von Kunst und Leben als eine dauernde<lb/>
Bereicherung unsers Knlturschatzes anzusehen. Zu den schönsten und treffendsten<lb/>
von Nietzsches Aphorismen gehört sein anerkennendes Urteil über den heutigen<lb/>
deutschen Vvlkschcirakter in der &#x201E;Götzendämmerung," das Frau Förster S. 887<lb/>
zitiert.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_308"> Ein Messias, Bringer einer neuen, erlösenden Weisheit ist Nietzsche nicht:<lb/>
aber einige unabweisbare Aufgaben unsrer Zeit hat er klar erkannt und die<lb/>
Wege zu ihrer Lösung angedeutet, und wenn sich der Mann findet, der das<lb/>
oben als wünschenswert bezeichnete Buch schreibt, so wird das Wertvolle, das<lb/>
sich ungeordnet und zerstreut in dein Wust seiner Werke findet, dem zukünftigen<lb/><note type="byline"> L. I-</note> Geschlechte gute Dienste leisten. </p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0099] Nietzsche noch einmal stände z. B., wie die in den vortrefflichen und sehr nützlichen „Erinnerungen einer Lehrerin" in den Grenzboten geschilderten. Gegen die Bezeichnung Volks¬ schule für Schulen gleich der, an der sie gewirkt hat, muß man allerdings protestieren. In den Volksschulen von Dörfer», kleinen und Mittelstädten, die ich kennen gelernt habe, gab es gar keine solchen Kinder, wie sie dort die Masse der Schüler und Schülerinnen ausmachen. Dieses Fabrikproletariat, Erzeugnis der modernen industriellen Entwicklung, verdient nicht den Namen Volk, und wenn sich unser ganzer jährlicher Bevölkerungszuwachs in diesen Sumpf ergießt, dann gibt es nach fünfzig Jahren kein deutsches Volk mehr, sondern bloß noch einen deutscheu Pöbel mit einer dünnen Bildungsschicht darüber. Der gelegentliche Anblick von Vertretern dieses Pöbels mag in Nietzsche, dessen Grundstimmung Brandes aristokratischen Radikalismus genannt hat, den leidenschaftlichen Haß gegen jede Art von Demokratie erzeugt haben. Aus der Betrachtung der Übelstände des heutigen Demokratismus und der Gefcchreu der sozialistischen Strömung ist ihm die Überzeugung von der Un¬ Haltbarkeit des ganzen modernen Verfassuugsweseus erwachsen, die ich teile, und der ich in der Form Ausdruck verliehen habe: Man hat nur die Wahl, ob man zum Kommunismus fortschreiten oder zum Ständestaat zurückkehren will, natür¬ lich zu einem den heutigen Verhältnissen entsprechend zu gestaltenden Stände¬ staat. Diese Wahrheit ist die wichtigste der von Nietzsche verkündigten Wahr- heiten und zugleich die, um deren Verbreitung sich bisher noch kein Mensch bemüht hat. Und obwohl sich Nietzsche um volkswirtschaftliche Fragen gar nicht kümmerte, auch sicherlich von Nationalökonomie nicht das mindeste verstanden hat, ist doch seinem Scharfblick das Problem nicht verborgen geblieben, das der Sozialismus als lösbar und in der Theorie schou gelöst ansieht, und das uns tatsächlich auf den Leib rückt, seitdem die Erde so klein geworden ist, wie wir sie jetzt sehen, und alle Entfernungen aufgehoben worden sind, alle Scheide¬ wände zu fallen drohen. „Es naht sich, unabweislich, zögernd, furchtbar wie das Schicksal, die große Aufgabe und Frage: wie soll die Erde als Ganzes verwaltet werden?" Außerdem ist die Einführung der Begriffe des Dionysischen und des Apollinischen in die Betrachtung von Kunst und Leben als eine dauernde Bereicherung unsers Knlturschatzes anzusehen. Zu den schönsten und treffendsten von Nietzsches Aphorismen gehört sein anerkennendes Urteil über den heutigen deutschen Vvlkschcirakter in der „Götzendämmerung," das Frau Förster S. 887 zitiert. Ein Messias, Bringer einer neuen, erlösenden Weisheit ist Nietzsche nicht: aber einige unabweisbare Aufgaben unsrer Zeit hat er klar erkannt und die Wege zu ihrer Lösung angedeutet, und wenn sich der Mann findet, der das oben als wünschenswert bezeichnete Buch schreibt, so wird das Wertvolle, das sich ungeordnet und zerstreut in dein Wust seiner Werke findet, dem zukünftigen L. I- Geschlechte gute Dienste leisten.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_296764
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_296764/99
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_296764/99>, abgerufen am 19.05.2024.