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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Neue deutsche Romane

des Vaterlandes auf den engern Bezirk der Heimat angewiesen ist, zeigt z. B.
klar der neue Roman von Klara Viebig, "Einer Mutter Sohn" (Berlin, Egon
Fleischcl K Co.). Mit Geschichten aus der Eifel ist diese Rheinlandstochter
erwachsen und hat in der "Wacht am Rhein" bisher ihr bestes geleistet. Sie
bedarf keines schwierigen Umdenkprozesses, keines Suchens und unsichern
Tastens, solange sie die Menschen aus jenem Umkreis schildert, der die Spiele
ihrer Jugend sah. Und noch das "Schlafende Heer" konnte als Wurf Geltung
beanspruchen. Stiegen doch die Konflikte hier aus der Erde selbst hervor,
deren eigentümlichen Schollenduft Klara Viebig schnell spürte, wenn ihr auch
für manchen der auf ihr wandelnden Menschen das Maß fehlte. Jetzt, in
"Einer Mutter Sohn", versucht sie die Geschichte eines Berliner Ehepaars zu
geben, das, leise verbitternd dnrch Mangel an Kindersegen, einen Säugling
aus dem Venn an der deutsch-belgischen Grenze adoptiert. Und da wirkt es
nun ganz eigen, daß es diesem Kinde just geht wie seiner Gestalterin. Es paßt,
je mehr es heranwächst, um so weniger in die Grunewaldvilla seiner ver¬
meintlichen Eltern, und so folgt Wirrung auf Wirrung, bis ein halber Verzicht
kurz vor dem alles lösenden Ende den Knoten mehr in die Länge zieht, als
daß er ihn löste. So wie dieses Landkind vom Venn nicht an seinem Platze
ist in der drückenden Umgebung seiner neuen Familie, so stellt sich -- unbewußt --
Frau Viebig an einen falschen Platz, indem sie in diesen Kreis epischer
Schilderung tritt. Eins nur ist ganz gelungen in diesem Buche, dem man
eifernde (allzu eifernde) Hingebung anmerkt: die Szene mit der Mutter des
Adoptivkindes bei seiner Annahme. Da spricht Zug für Zug die Novellistiu
der Eifel, die sich im Verlauf der Handlung mehr und mehr an unbezwungne,
für sie unbezwingbare Menschen und Probleme verliert. So wird der Roman
breit, ohne erschöpfend zu sein, es gibt Seelenschilderungen, aber keine Seelen-
analhsen. Nur zu sehr fehlt der hochbegabten Schriftstellerin bei allzu schneller
Produktion jenes letzte, das schon manches ihrer Werke vermissen ließ: die
unbewußt ins Rechte drängende dichterische Kraft, die sicher durch Wolken gleitet.
Nur zu sehr redet die kluge Frau dem nach innen gewandten Weibe zu und
führt es immer wieder ab von der Quelle seiner Kraft. So hat man am
Ende dieses Buches lauter Teile in der Hand und keine rechte Freude, wenn
auch selbstverständlich mancher Zug, manches Bild zeigen, mit wem man es
zu tun gehabt hat.

Da steht die Nürnbergerin Lu Volbehr mit ihrem Roman "Die neue Zeit"
(Berlin, Otto Janke) auf festern Füßen. Sie zeigt allerdings lange nicht
soviel Begabung wie Klara Viebig. Ihr fehlen vor allem Nuancen. Zu oft
sprechen ihre Menschen "wie ein Buch", und kein persönlicher Ton charakterisiert
den einzelnen. Aber Nürnberg und sein Leben, sein Aussehen und seine
Wandlungen sind Lu Volbehr keine leblosen Dinge. Ihre ganze Heimatliebe
legt sie in diese Bilder aus der schönen, alten Stadt. Das Buch gibt die
Zeit von dem Anschluß der freien Reichsstadt an Bayern bis zur Eröffnung


Neue deutsche Romane

des Vaterlandes auf den engern Bezirk der Heimat angewiesen ist, zeigt z. B.
klar der neue Roman von Klara Viebig, „Einer Mutter Sohn" (Berlin, Egon
Fleischcl K Co.). Mit Geschichten aus der Eifel ist diese Rheinlandstochter
erwachsen und hat in der „Wacht am Rhein" bisher ihr bestes geleistet. Sie
bedarf keines schwierigen Umdenkprozesses, keines Suchens und unsichern
Tastens, solange sie die Menschen aus jenem Umkreis schildert, der die Spiele
ihrer Jugend sah. Und noch das „Schlafende Heer" konnte als Wurf Geltung
beanspruchen. Stiegen doch die Konflikte hier aus der Erde selbst hervor,
deren eigentümlichen Schollenduft Klara Viebig schnell spürte, wenn ihr auch
für manchen der auf ihr wandelnden Menschen das Maß fehlte. Jetzt, in
„Einer Mutter Sohn", versucht sie die Geschichte eines Berliner Ehepaars zu
geben, das, leise verbitternd dnrch Mangel an Kindersegen, einen Säugling
aus dem Venn an der deutsch-belgischen Grenze adoptiert. Und da wirkt es
nun ganz eigen, daß es diesem Kinde just geht wie seiner Gestalterin. Es paßt,
je mehr es heranwächst, um so weniger in die Grunewaldvilla seiner ver¬
meintlichen Eltern, und so folgt Wirrung auf Wirrung, bis ein halber Verzicht
kurz vor dem alles lösenden Ende den Knoten mehr in die Länge zieht, als
daß er ihn löste. So wie dieses Landkind vom Venn nicht an seinem Platze
ist in der drückenden Umgebung seiner neuen Familie, so stellt sich — unbewußt —
Frau Viebig an einen falschen Platz, indem sie in diesen Kreis epischer
Schilderung tritt. Eins nur ist ganz gelungen in diesem Buche, dem man
eifernde (allzu eifernde) Hingebung anmerkt: die Szene mit der Mutter des
Adoptivkindes bei seiner Annahme. Da spricht Zug für Zug die Novellistiu
der Eifel, die sich im Verlauf der Handlung mehr und mehr an unbezwungne,
für sie unbezwingbare Menschen und Probleme verliert. So wird der Roman
breit, ohne erschöpfend zu sein, es gibt Seelenschilderungen, aber keine Seelen-
analhsen. Nur zu sehr fehlt der hochbegabten Schriftstellerin bei allzu schneller
Produktion jenes letzte, das schon manches ihrer Werke vermissen ließ: die
unbewußt ins Rechte drängende dichterische Kraft, die sicher durch Wolken gleitet.
Nur zu sehr redet die kluge Frau dem nach innen gewandten Weibe zu und
führt es immer wieder ab von der Quelle seiner Kraft. So hat man am
Ende dieses Buches lauter Teile in der Hand und keine rechte Freude, wenn
auch selbstverständlich mancher Zug, manches Bild zeigen, mit wem man es
zu tun gehabt hat.

Da steht die Nürnbergerin Lu Volbehr mit ihrem Roman „Die neue Zeit"
(Berlin, Otto Janke) auf festern Füßen. Sie zeigt allerdings lange nicht
soviel Begabung wie Klara Viebig. Ihr fehlen vor allem Nuancen. Zu oft
sprechen ihre Menschen „wie ein Buch", und kein persönlicher Ton charakterisiert
den einzelnen. Aber Nürnberg und sein Leben, sein Aussehen und seine
Wandlungen sind Lu Volbehr keine leblosen Dinge. Ihre ganze Heimatliebe
legt sie in diese Bilder aus der schönen, alten Stadt. Das Buch gibt die
Zeit von dem Anschluß der freien Reichsstadt an Bayern bis zur Eröffnung


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[0218] Neue deutsche Romane des Vaterlandes auf den engern Bezirk der Heimat angewiesen ist, zeigt z. B. klar der neue Roman von Klara Viebig, „Einer Mutter Sohn" (Berlin, Egon Fleischcl K Co.). Mit Geschichten aus der Eifel ist diese Rheinlandstochter erwachsen und hat in der „Wacht am Rhein" bisher ihr bestes geleistet. Sie bedarf keines schwierigen Umdenkprozesses, keines Suchens und unsichern Tastens, solange sie die Menschen aus jenem Umkreis schildert, der die Spiele ihrer Jugend sah. Und noch das „Schlafende Heer" konnte als Wurf Geltung beanspruchen. Stiegen doch die Konflikte hier aus der Erde selbst hervor, deren eigentümlichen Schollenduft Klara Viebig schnell spürte, wenn ihr auch für manchen der auf ihr wandelnden Menschen das Maß fehlte. Jetzt, in „Einer Mutter Sohn", versucht sie die Geschichte eines Berliner Ehepaars zu geben, das, leise verbitternd dnrch Mangel an Kindersegen, einen Säugling aus dem Venn an der deutsch-belgischen Grenze adoptiert. Und da wirkt es nun ganz eigen, daß es diesem Kinde just geht wie seiner Gestalterin. Es paßt, je mehr es heranwächst, um so weniger in die Grunewaldvilla seiner ver¬ meintlichen Eltern, und so folgt Wirrung auf Wirrung, bis ein halber Verzicht kurz vor dem alles lösenden Ende den Knoten mehr in die Länge zieht, als daß er ihn löste. So wie dieses Landkind vom Venn nicht an seinem Platze ist in der drückenden Umgebung seiner neuen Familie, so stellt sich — unbewußt — Frau Viebig an einen falschen Platz, indem sie in diesen Kreis epischer Schilderung tritt. Eins nur ist ganz gelungen in diesem Buche, dem man eifernde (allzu eifernde) Hingebung anmerkt: die Szene mit der Mutter des Adoptivkindes bei seiner Annahme. Da spricht Zug für Zug die Novellistiu der Eifel, die sich im Verlauf der Handlung mehr und mehr an unbezwungne, für sie unbezwingbare Menschen und Probleme verliert. So wird der Roman breit, ohne erschöpfend zu sein, es gibt Seelenschilderungen, aber keine Seelen- analhsen. Nur zu sehr fehlt der hochbegabten Schriftstellerin bei allzu schneller Produktion jenes letzte, das schon manches ihrer Werke vermissen ließ: die unbewußt ins Rechte drängende dichterische Kraft, die sicher durch Wolken gleitet. Nur zu sehr redet die kluge Frau dem nach innen gewandten Weibe zu und führt es immer wieder ab von der Quelle seiner Kraft. So hat man am Ende dieses Buches lauter Teile in der Hand und keine rechte Freude, wenn auch selbstverständlich mancher Zug, manches Bild zeigen, mit wem man es zu tun gehabt hat. Da steht die Nürnbergerin Lu Volbehr mit ihrem Roman „Die neue Zeit" (Berlin, Otto Janke) auf festern Füßen. Sie zeigt allerdings lange nicht soviel Begabung wie Klara Viebig. Ihr fehlen vor allem Nuancen. Zu oft sprechen ihre Menschen „wie ein Buch", und kein persönlicher Ton charakterisiert den einzelnen. Aber Nürnberg und sein Leben, sein Aussehen und seine Wandlungen sind Lu Volbehr keine leblosen Dinge. Ihre ganze Heimatliebe legt sie in diese Bilder aus der schönen, alten Stadt. Das Buch gibt die Zeit von dem Anschluß der freien Reichsstadt an Bayern bis zur Eröffnung

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/218>, abgerufen am 13.06.2024.