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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

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Luftreisen

Zu allen Reizen einer Vollmondnacht, wie wir sie im Juni kennen ge¬
lernt haben, gesellt sich heute ein neuer: Sternschnuppen kreuzen leuchtend die
Atmosphäre. Zwischen Mulde und Elbe dehnt sich unter uns, nur von wenigen
Blößen bei Crina, Tornau und Söllichau unterbrochen, die Dübener Heide,
in ihrem östlichen Teile über 180 Meter ansteigend. Ihre parallel und recht¬
winklig zueinander verlaufenden Schileisen lassen uns ein großes Waldrechteck
nach dem andern unterscheiden. Da wir uns tief halten, atmen wir den
würzigen Kiefernduft der Heide. In einer Stunde haben wir sie überflogen
und erblicken nun die im Mondschein silbern glänzenden Lförmigen Windungen
der Elbe nördlich von dem als lichten Streifen am südlichen Horizont erkennbaren
Torgau. Eine lange Reihe schwerer Frachtkähne, von einem Dampfer aufwärts
geschleppt, bewegt sich geimu in der Mitte des Stromes, dessen Windungen sich
anpassend. Wir überfliegen ihn zwischen Wörblitz und Grcudnitz.

Aus den Niederungen der Ebene bei Prettin, Resten des alten Bettes der
Elbe, und weiterhin bei Labrum und Bethau ertönt vielstimmiges Froschkonzert.
Das Sumpfgebiet erstreckt sich ostwärts bis in das Annaburger Forstrevier
hinein. Hirsche suhlen sich plätschernd im Wasser, auch hören wir sie schreien
und Rehe schrecken. Bei Herzberg erreichen wir die sich in viele dürftige Rinn¬
sale verzettelnde Schwarze Elster. Ein Lastwagen führt knarrend auf der Land¬
straße, und seltsam berührt uns in der feierlichen Stille der Nacht der Gesang
des Fuhrmanns: O Susanna, wie ist das Leben doch so schön!

Das Mondlicht ermöglicht es uns, die Fahrtlinie genau festzustellen.
Außerdem haben wir heute viel Glück mit dem Anrufen, so wird uns auf
unsre Frage von unten bestätigt, daß der Ort, den wir 12 Uhr 50 Minuten
aus 400 Meter Höhe unter uns sehen, Collochau westlich von Schlichen ist.
Wieder folgt ein großer, wildreicher Forst, die Rochauer Heide, bis zur Dresden-
Elsterw erd a-Berlin er Bahn, die wir an der Stelle erreichen, wo sie von der
Nebenlinie Falkenberg-Lübben gekreuzt wird. Damit sind wir in eine Land¬
schaft eingetreten, die wir schon bei unsrer ersten unvergeßlichen Fahrt von
Charlottenburg nach dem Riesengebirge vor zwei Jahren, von Nordwesten her¬
kommend, schauen durften, den Spreewald mit seinen mehr als hundert Wasser¬
armen, den Überbleibseln eines ehemaligen Binnensees. Es ist der obere, be¬
sonders merkwürdige Teil des Spreewaldes, der seinen Namen nicht mehr mit
der Tat führt, weil ihn kein Wald bedeckt, sondern nur Busch, Feld und Wiese
und dazwischen verstreute Blockhäuschen. Damals schwebten wir 2000 Meter
darüber, und eine Wolke trübte das Bild. Heute stehn wir nur 400 Meter
hoch, aber es ist eben Nacht, und sogar der Vollmond läßt uns nicht viel mehr
sehen als ein Netz glitzernder Wasseradern. Und doch wem ist dieser Anblick
Wohl schon vergönnt gewesen? Es ist halb drei Uhr, und ein Nachtschwärmer
-- oder ists vielleicht ein Frühaufsteher? --, der uns erblickt hat, ladet uns
in unverkennbarem schnurrendem Lausitzer Deutsch freundlich ein: "Kommt doch
herrunter, hier ist weicher Boden!"


Luftreisen

Zu allen Reizen einer Vollmondnacht, wie wir sie im Juni kennen ge¬
lernt haben, gesellt sich heute ein neuer: Sternschnuppen kreuzen leuchtend die
Atmosphäre. Zwischen Mulde und Elbe dehnt sich unter uns, nur von wenigen
Blößen bei Crina, Tornau und Söllichau unterbrochen, die Dübener Heide,
in ihrem östlichen Teile über 180 Meter ansteigend. Ihre parallel und recht¬
winklig zueinander verlaufenden Schileisen lassen uns ein großes Waldrechteck
nach dem andern unterscheiden. Da wir uns tief halten, atmen wir den
würzigen Kiefernduft der Heide. In einer Stunde haben wir sie überflogen
und erblicken nun die im Mondschein silbern glänzenden Lförmigen Windungen
der Elbe nördlich von dem als lichten Streifen am südlichen Horizont erkennbaren
Torgau. Eine lange Reihe schwerer Frachtkähne, von einem Dampfer aufwärts
geschleppt, bewegt sich geimu in der Mitte des Stromes, dessen Windungen sich
anpassend. Wir überfliegen ihn zwischen Wörblitz und Grcudnitz.

Aus den Niederungen der Ebene bei Prettin, Resten des alten Bettes der
Elbe, und weiterhin bei Labrum und Bethau ertönt vielstimmiges Froschkonzert.
Das Sumpfgebiet erstreckt sich ostwärts bis in das Annaburger Forstrevier
hinein. Hirsche suhlen sich plätschernd im Wasser, auch hören wir sie schreien
und Rehe schrecken. Bei Herzberg erreichen wir die sich in viele dürftige Rinn¬
sale verzettelnde Schwarze Elster. Ein Lastwagen führt knarrend auf der Land¬
straße, und seltsam berührt uns in der feierlichen Stille der Nacht der Gesang
des Fuhrmanns: O Susanna, wie ist das Leben doch so schön!

Das Mondlicht ermöglicht es uns, die Fahrtlinie genau festzustellen.
Außerdem haben wir heute viel Glück mit dem Anrufen, so wird uns auf
unsre Frage von unten bestätigt, daß der Ort, den wir 12 Uhr 50 Minuten
aus 400 Meter Höhe unter uns sehen, Collochau westlich von Schlichen ist.
Wieder folgt ein großer, wildreicher Forst, die Rochauer Heide, bis zur Dresden-
Elsterw erd a-Berlin er Bahn, die wir an der Stelle erreichen, wo sie von der
Nebenlinie Falkenberg-Lübben gekreuzt wird. Damit sind wir in eine Land¬
schaft eingetreten, die wir schon bei unsrer ersten unvergeßlichen Fahrt von
Charlottenburg nach dem Riesengebirge vor zwei Jahren, von Nordwesten her¬
kommend, schauen durften, den Spreewald mit seinen mehr als hundert Wasser¬
armen, den Überbleibseln eines ehemaligen Binnensees. Es ist der obere, be¬
sonders merkwürdige Teil des Spreewaldes, der seinen Namen nicht mehr mit
der Tat führt, weil ihn kein Wald bedeckt, sondern nur Busch, Feld und Wiese
und dazwischen verstreute Blockhäuschen. Damals schwebten wir 2000 Meter
darüber, und eine Wolke trübte das Bild. Heute stehn wir nur 400 Meter
hoch, aber es ist eben Nacht, und sogar der Vollmond läßt uns nicht viel mehr
sehen als ein Netz glitzernder Wasseradern. Und doch wem ist dieser Anblick
Wohl schon vergönnt gewesen? Es ist halb drei Uhr, und ein Nachtschwärmer
— oder ists vielleicht ein Frühaufsteher? —, der uns erblickt hat, ladet uns
in unverkennbarem schnurrendem Lausitzer Deutsch freundlich ein: „Kommt doch
herrunter, hier ist weicher Boden!"


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/214>, abgerufen am 15.05.2024.