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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

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Deutsche Volks- und Bauernkunst

Bourgeois-Gentilhomme Molieres, der Prosa sprach, ohne es zu wissen.
Freilich wer verbürgt, daß nicht auch ihm im Augenblicke der Erkenntnis die
Unbewußtheit und die Naivität, die der Bauernkunst die Frische und die
Treffsicherheit gibt, abhanden kommt, und daß ein albernes Streben nach
Geziertheit und Künstelei das Ende vorbereitet? Diese Bedenken dürfte man
aufrecht erhalten, wenn nicht die glückliche Unbewußtheit zur größern Gefahr
der Geringschätzung des eignen Gutes und zur allzu bereiten Empfänglichkeit
für den städtischen Einfluß geführt hätte. Das Wort Bauernkunst ist gemünzt
gegen Stadtkunst, allerdings nur gegen die städtische Pseudokunst, die mit
ihren billigen Surrogaten den jetzigen bedauerlichen Stand der Dinge, der
zur Abwehr reizt, herbeigeführt hat. Gute Stadtkunst weiß gute Landkunst
zu ehren, denn beide können in vorteilhafter Wechselwirkung stehn; sie be¬
halten beide ihre Vorzüge und ihren Rang und verhalten sich zueinander wie
der frische Feldblumenstrauß zu den prächtigen Blüten einer hochentwickelten
Kultur. Wie aber sollte sich der Bauer, unfähig zu unterscheiden, gegen den
Talmiwert schützen, da doch sogar der größte Teil der Städter, ungeachtet
der vorhandnen hohen Stadtkunst, meist in einem Zustande trauriger Unkultur
lebt? Zweifellos durch die Stärkung seines Selbstbewußtseins, das ihn stolzer
auf seine Eigenart, mißtrauischer und widerstandsfähiger gegen alles Fremde
und Nichtartgemäße macht. Bauernkunst muß also auch gegen den Bauer geschützt
werden, der anfängt, an sich irre zu werden.

Die Bauernkunst auf unserm Lande zu finden hält nicht schwer. Wandert
man lautem, abseits von großen Städten, Kurorten und Verkehrspunkten,
kommt sie einem auf allen Wegen entgegen. Lange bevor wir das Dorf be¬
treten, verspüren wir ihren Segen. Die Feldeinfriedungen, die Umzäunungen
sind in vielen Fällen Muster einer hochentwickelten Flechtkunst, und die außer¬
ordentlich geschickte Weise, in der lange Scheite, Bretter und Latten durch¬
einandergesteckt sind, offenbart ebensoviel Erfindung als praktischen Sinn-
Primitive kindliche Kunstblüten, schlichten Wegwarten gleich, sind auch die
Bildstöcke und Marterln aus Stein, Eisen oder Holz, mit Inschriften und
Malereien bedeckt. Unbeholfen und linkisch wie die bäuerliche Hand, die den
Pinsel führt, ist die Phantasie, die das Bild komponiert und die Verse
schmiedet. Hart und holperig wie die Malerei sind auch die Strophen-
Knittelverse und Knittelmalerei. Aber naiv und herzhaft sind sie, bodenständig
und wurzelhaft, anspruchlose Denkmäler, die den Wandrer um stille Andacht
oder Gebetlein anflehen und oftmals auch durch gewollten oder ungewollten
Humor erquicken.

Kommt nun das Dorf in Sicht, so gibt es für den Kunstwandrer eine
Fülle von interessanten Wahrnehmungen in bezug auf die Dorfanlage, die
Straßenführung und den Hausbau zu machen. Was auf den ersten Blick
regellos und willkürlich erscheint, enthüllt sich bei näherm Zusehen als Aus¬
druck strenger Gesetzmäßigkeit, die aus der Natur, dem Klima, der Stammes-


Deutsche Volks- und Bauernkunst

Bourgeois-Gentilhomme Molieres, der Prosa sprach, ohne es zu wissen.
Freilich wer verbürgt, daß nicht auch ihm im Augenblicke der Erkenntnis die
Unbewußtheit und die Naivität, die der Bauernkunst die Frische und die
Treffsicherheit gibt, abhanden kommt, und daß ein albernes Streben nach
Geziertheit und Künstelei das Ende vorbereitet? Diese Bedenken dürfte man
aufrecht erhalten, wenn nicht die glückliche Unbewußtheit zur größern Gefahr
der Geringschätzung des eignen Gutes und zur allzu bereiten Empfänglichkeit
für den städtischen Einfluß geführt hätte. Das Wort Bauernkunst ist gemünzt
gegen Stadtkunst, allerdings nur gegen die städtische Pseudokunst, die mit
ihren billigen Surrogaten den jetzigen bedauerlichen Stand der Dinge, der
zur Abwehr reizt, herbeigeführt hat. Gute Stadtkunst weiß gute Landkunst
zu ehren, denn beide können in vorteilhafter Wechselwirkung stehn; sie be¬
halten beide ihre Vorzüge und ihren Rang und verhalten sich zueinander wie
der frische Feldblumenstrauß zu den prächtigen Blüten einer hochentwickelten
Kultur. Wie aber sollte sich der Bauer, unfähig zu unterscheiden, gegen den
Talmiwert schützen, da doch sogar der größte Teil der Städter, ungeachtet
der vorhandnen hohen Stadtkunst, meist in einem Zustande trauriger Unkultur
lebt? Zweifellos durch die Stärkung seines Selbstbewußtseins, das ihn stolzer
auf seine Eigenart, mißtrauischer und widerstandsfähiger gegen alles Fremde
und Nichtartgemäße macht. Bauernkunst muß also auch gegen den Bauer geschützt
werden, der anfängt, an sich irre zu werden.

Die Bauernkunst auf unserm Lande zu finden hält nicht schwer. Wandert
man lautem, abseits von großen Städten, Kurorten und Verkehrspunkten,
kommt sie einem auf allen Wegen entgegen. Lange bevor wir das Dorf be¬
treten, verspüren wir ihren Segen. Die Feldeinfriedungen, die Umzäunungen
sind in vielen Fällen Muster einer hochentwickelten Flechtkunst, und die außer¬
ordentlich geschickte Weise, in der lange Scheite, Bretter und Latten durch¬
einandergesteckt sind, offenbart ebensoviel Erfindung als praktischen Sinn-
Primitive kindliche Kunstblüten, schlichten Wegwarten gleich, sind auch die
Bildstöcke und Marterln aus Stein, Eisen oder Holz, mit Inschriften und
Malereien bedeckt. Unbeholfen und linkisch wie die bäuerliche Hand, die den
Pinsel führt, ist die Phantasie, die das Bild komponiert und die Verse
schmiedet. Hart und holperig wie die Malerei sind auch die Strophen-
Knittelverse und Knittelmalerei. Aber naiv und herzhaft sind sie, bodenständig
und wurzelhaft, anspruchlose Denkmäler, die den Wandrer um stille Andacht
oder Gebetlein anflehen und oftmals auch durch gewollten oder ungewollten
Humor erquicken.

Kommt nun das Dorf in Sicht, so gibt es für den Kunstwandrer eine
Fülle von interessanten Wahrnehmungen in bezug auf die Dorfanlage, die
Straßenführung und den Hausbau zu machen. Was auf den ersten Blick
regellos und willkürlich erscheint, enthüllt sich bei näherm Zusehen als Aus¬
druck strenger Gesetzmäßigkeit, die aus der Natur, dem Klima, der Stammes-


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[0258] Deutsche Volks- und Bauernkunst Bourgeois-Gentilhomme Molieres, der Prosa sprach, ohne es zu wissen. Freilich wer verbürgt, daß nicht auch ihm im Augenblicke der Erkenntnis die Unbewußtheit und die Naivität, die der Bauernkunst die Frische und die Treffsicherheit gibt, abhanden kommt, und daß ein albernes Streben nach Geziertheit und Künstelei das Ende vorbereitet? Diese Bedenken dürfte man aufrecht erhalten, wenn nicht die glückliche Unbewußtheit zur größern Gefahr der Geringschätzung des eignen Gutes und zur allzu bereiten Empfänglichkeit für den städtischen Einfluß geführt hätte. Das Wort Bauernkunst ist gemünzt gegen Stadtkunst, allerdings nur gegen die städtische Pseudokunst, die mit ihren billigen Surrogaten den jetzigen bedauerlichen Stand der Dinge, der zur Abwehr reizt, herbeigeführt hat. Gute Stadtkunst weiß gute Landkunst zu ehren, denn beide können in vorteilhafter Wechselwirkung stehn; sie be¬ halten beide ihre Vorzüge und ihren Rang und verhalten sich zueinander wie der frische Feldblumenstrauß zu den prächtigen Blüten einer hochentwickelten Kultur. Wie aber sollte sich der Bauer, unfähig zu unterscheiden, gegen den Talmiwert schützen, da doch sogar der größte Teil der Städter, ungeachtet der vorhandnen hohen Stadtkunst, meist in einem Zustande trauriger Unkultur lebt? Zweifellos durch die Stärkung seines Selbstbewußtseins, das ihn stolzer auf seine Eigenart, mißtrauischer und widerstandsfähiger gegen alles Fremde und Nichtartgemäße macht. Bauernkunst muß also auch gegen den Bauer geschützt werden, der anfängt, an sich irre zu werden. Die Bauernkunst auf unserm Lande zu finden hält nicht schwer. Wandert man lautem, abseits von großen Städten, Kurorten und Verkehrspunkten, kommt sie einem auf allen Wegen entgegen. Lange bevor wir das Dorf be¬ treten, verspüren wir ihren Segen. Die Feldeinfriedungen, die Umzäunungen sind in vielen Fällen Muster einer hochentwickelten Flechtkunst, und die außer¬ ordentlich geschickte Weise, in der lange Scheite, Bretter und Latten durch¬ einandergesteckt sind, offenbart ebensoviel Erfindung als praktischen Sinn- Primitive kindliche Kunstblüten, schlichten Wegwarten gleich, sind auch die Bildstöcke und Marterln aus Stein, Eisen oder Holz, mit Inschriften und Malereien bedeckt. Unbeholfen und linkisch wie die bäuerliche Hand, die den Pinsel führt, ist die Phantasie, die das Bild komponiert und die Verse schmiedet. Hart und holperig wie die Malerei sind auch die Strophen- Knittelverse und Knittelmalerei. Aber naiv und herzhaft sind sie, bodenständig und wurzelhaft, anspruchlose Denkmäler, die den Wandrer um stille Andacht oder Gebetlein anflehen und oftmals auch durch gewollten oder ungewollten Humor erquicken. Kommt nun das Dorf in Sicht, so gibt es für den Kunstwandrer eine Fülle von interessanten Wahrnehmungen in bezug auf die Dorfanlage, die Straßenführung und den Hausbau zu machen. Was auf den ersten Blick regellos und willkürlich erscheint, enthüllt sich bei näherm Zusehen als Aus¬ druck strenger Gesetzmäßigkeit, die aus der Natur, dem Klima, der Stammes-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/258>, abgerufen am 15.05.2024.