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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

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Apollo und Dionysos

ein gutes Symbol für eine vernunftgemäße Lebensweise, die durch Selbst¬
beherrschung geregelt wird, dadurch auch die Herrschaft über andre zu erringen
befähigt und auf dem ästhetischen Gebiet klassische Kunstwerke schafft, während
der trunkne Dionysos mit seinem Silen, seinen Satyrn, wilden Tieren und
sonstigem orgiastischen Gefolge offenbar auch nach Meinung der Griechen den
von keiner Vernunft gefesselten Naturtrieb bedeutete. Beide Kräfte leben in
jedem menschlichen Individuum, in jedem Volke, und nur die Grade ihrer
Stärke und die sich daraus ergebenden Mischungen sind verschieden. In hoch¬
begabten Individuen pflegen beide stark zu sein. In Nietzsche überwog nun
anfangs, in der Schopenhauer-Wagnerperiode, der Gott Dionysos; dann brach
der Philosoph mit seinen beiden Meistern und wandte sich, Wissenschaft und strenge
Disziplin feiernd, Apollo zu -- so freilich, daß er dessen Kult nicht allein und
folgerichtig betrieb, sondern zwischen seinen beiden Göttern hin und her
taumelte -- zuletzt ergab er sich ganz dem Gotte des Rausches, obwohl er immer
noch lichte Augenblicke hatte, wo einzelne, von Phöbus gesandte Strahlen ein
wenig Ordnung in dem Chaos seiner Seele zu stiften ermöglichten. Nehmen
wir die reizbare Empfänglichkeit hinzu, die jede ihm aufstoßende Erscheinung in
Wissenschaft, Literatur und Leben zu seinem eignen Erlebnis machte, die aber
nicht mit der Kraft verbunden war, das Zusagende organisch einzugliedern, das
Ungeeignete kritisch abzustoßen, und endlich sein leibliches Siechtum, so haben
wir die Grundbestandteile dieser verwickelten und außerordentlichen Persönlichkeit
beisammen. Die ewige Kränklichkeit hatte zunächst Einfluß auf die Form seiner
Produkte. Seilliere wird Recht haben mit der Vermutung, daß sie ihn vollends
zum Aphvristiker gemacht habe. Neigung zur aphoristischen Darstellung war
schon in der Jugend vorhanden; wir haben gelegentlich erwähnt, daß er mit
Philologischen Aphorismen debütieren wollte, daß ihn aber Ritschls unwillige und
entschiedne Abmahnung bewog, darauf zu verzichten. Seilliere bemerkt, Nietzsche
habe die Gewohnheit eingenommen, seine Einfälle zu notieren und ihnen dabei
die präzise Form einer Sentenz zu geben; aber bis zur vierten "Unzeitgemäßen"
habe er solche Aufzeichnungen nur als Material für spätere Ausarbeitungen
angesehen. Jedoch verursachte ihm die Ausarbeitung große Beschwerde (wohl
wahrscheinlich deswegen, weil er dabei gewöhnlich Widersprechendes an- und
ineinander zu fügen hatte), und als nun seine Gesundheit immer schlechter
wurde, glaubte er sich diese mühsame und peinvolle Arbeit ersparen zu dürfen.
War feine Gesundheit einmal besser, so wurden die Aphorismen länger, kleine
Abhandlungen. Im allgemeinen aber ließ er die kurzen Sätze in der Reihen¬
folge stehn, wie sie ihm eingefallen waren, "auf die geduldige und unermüd¬
liche Mitarbeit des Lesers rechnend, von dem er verlangte, daß er die seinem
wohlwollenden Nachdenken in buntem Durcheinander übergebnen Sätze durch¬
arbeite, erkläre und ordne". Dann aber erzeugte die Krankheit auch die sonder¬
barsten Illusionen. Einen Herrn über sich anzuerkennen, der die Leiden, sei
es als unvermeidlichen Bestandteil der Natureinrichtung, sei es zu sozialen


Apollo und Dionysos

ein gutes Symbol für eine vernunftgemäße Lebensweise, die durch Selbst¬
beherrschung geregelt wird, dadurch auch die Herrschaft über andre zu erringen
befähigt und auf dem ästhetischen Gebiet klassische Kunstwerke schafft, während
der trunkne Dionysos mit seinem Silen, seinen Satyrn, wilden Tieren und
sonstigem orgiastischen Gefolge offenbar auch nach Meinung der Griechen den
von keiner Vernunft gefesselten Naturtrieb bedeutete. Beide Kräfte leben in
jedem menschlichen Individuum, in jedem Volke, und nur die Grade ihrer
Stärke und die sich daraus ergebenden Mischungen sind verschieden. In hoch¬
begabten Individuen pflegen beide stark zu sein. In Nietzsche überwog nun
anfangs, in der Schopenhauer-Wagnerperiode, der Gott Dionysos; dann brach
der Philosoph mit seinen beiden Meistern und wandte sich, Wissenschaft und strenge
Disziplin feiernd, Apollo zu — so freilich, daß er dessen Kult nicht allein und
folgerichtig betrieb, sondern zwischen seinen beiden Göttern hin und her
taumelte — zuletzt ergab er sich ganz dem Gotte des Rausches, obwohl er immer
noch lichte Augenblicke hatte, wo einzelne, von Phöbus gesandte Strahlen ein
wenig Ordnung in dem Chaos seiner Seele zu stiften ermöglichten. Nehmen
wir die reizbare Empfänglichkeit hinzu, die jede ihm aufstoßende Erscheinung in
Wissenschaft, Literatur und Leben zu seinem eignen Erlebnis machte, die aber
nicht mit der Kraft verbunden war, das Zusagende organisch einzugliedern, das
Ungeeignete kritisch abzustoßen, und endlich sein leibliches Siechtum, so haben
wir die Grundbestandteile dieser verwickelten und außerordentlichen Persönlichkeit
beisammen. Die ewige Kränklichkeit hatte zunächst Einfluß auf die Form seiner
Produkte. Seilliere wird Recht haben mit der Vermutung, daß sie ihn vollends
zum Aphvristiker gemacht habe. Neigung zur aphoristischen Darstellung war
schon in der Jugend vorhanden; wir haben gelegentlich erwähnt, daß er mit
Philologischen Aphorismen debütieren wollte, daß ihn aber Ritschls unwillige und
entschiedne Abmahnung bewog, darauf zu verzichten. Seilliere bemerkt, Nietzsche
habe die Gewohnheit eingenommen, seine Einfälle zu notieren und ihnen dabei
die präzise Form einer Sentenz zu geben; aber bis zur vierten „Unzeitgemäßen"
habe er solche Aufzeichnungen nur als Material für spätere Ausarbeitungen
angesehen. Jedoch verursachte ihm die Ausarbeitung große Beschwerde (wohl
wahrscheinlich deswegen, weil er dabei gewöhnlich Widersprechendes an- und
ineinander zu fügen hatte), und als nun seine Gesundheit immer schlechter
wurde, glaubte er sich diese mühsame und peinvolle Arbeit ersparen zu dürfen.
War feine Gesundheit einmal besser, so wurden die Aphorismen länger, kleine
Abhandlungen. Im allgemeinen aber ließ er die kurzen Sätze in der Reihen¬
folge stehn, wie sie ihm eingefallen waren, „auf die geduldige und unermüd¬
liche Mitarbeit des Lesers rechnend, von dem er verlangte, daß er die seinem
wohlwollenden Nachdenken in buntem Durcheinander übergebnen Sätze durch¬
arbeite, erkläre und ordne". Dann aber erzeugte die Krankheit auch die sonder¬
barsten Illusionen. Einen Herrn über sich anzuerkennen, der die Leiden, sei
es als unvermeidlichen Bestandteil der Natureinrichtung, sei es zu sozialen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/35>, abgerufen am 15.05.2024.