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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

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Apollo und Dionysos

nur übertreibende und durch poetische Ausschmückung ein wenig fälschende Dar¬
stellung wirklicher Kräfte und Bestandteile des Kulturlebens. Und obwohl sich
in der "Geburt der Tragödie" die Abneigung gegen Sokrates schon bemerkbar
macht, wird er doch noch als Verkörperung der apollinischen Klarheit, als der
theoretische Mensch x^r oxosllönos. als Schöpfer des wissenschaftlichen Geistes
und Lehrer eines wohlgeordneten mäßigen Lebens anerkannt.

Aber schon in den nächsten Unzeitgemäßen geht Dionysos, der diesmal
freilich nicht reine Natur sondern Schopenhauerische metaphysische Schwärmerei
ist, mit ihm durch. Er will diese Metaphysik zur Grundlage einer neuen Kultur
machen, der Kultur des Genius, zuvor aber, ehe er ihren Bau beginnt, die be¬
stehende Kultur zerstören. "Nietzsche, dessen wankende Gesundheit unaufhörlich
seine großartigen philosophischen Pläne kreuzte, hat sich frühzeitig auf polemische
und apologetische Arbeiten beschränkt, die er sich imstande fühlte, mit mäßiger
Anstrengung zu Ende zu führen. Von dieser idealen neuen Kultur oder Religion
des Genius, deren Emporkommen er ersehnt und für nahe bevorstehend hält,
und die er "tragisch" oder "deutsch" nennt, je nachdem in ihm humanistische
oder Partikularistische Empfindungen vorherrschen, kennzeichnet er vor allem die
Feinde, die alle von gutem Willen Beseelten ohne Waffenstillstand bekämpfen
müssen. Dann weist er auf die Vorläufer hin und auf jetzt Lebende, die sich
zu Aposteln eignen. Die Dogmen und Vorschriften der neuen Religion zu
lehren, soll einer günstigeren Stunde vorbehalten bleiben. Um der ersten
Forderung dieses Programms zu genügen, stürzt sich Nietzsche mit dem Un¬
gestüm eines durch seinen Glauben fanatisierten Neubekehrten auf die Feinde
^Gesellschaft, Bildnngsphilister, Universitätslehrers. Dieses richtige Amoklaufen
versetzte die Opfer wie Strauß und sogar die nur unmittelbar betroffnen Freunde
wie Ritschl, Burckhardt und mitunter sogar Rohde in einen Zustand der Ver¬
blüffung, die sie mehr oder weniger unumwunden äußerten. Diese besonnenen
Geister fragten sich besorgt, welcher Gott oder Dämon diesen sonderbaren und
mit solcher Sicherheit auftretenden Seher fortriß." Auch Wagner konnte nicht
ganz damit einverstanden sein, daß er als der dithyrambische Dramatiker dar¬
gestellt wurde, der den orgiastischen Kult der Urmenschheit erneuere. "Wir
überschreiten hier sicherlich die Grenzen des erlaubten Symbolismus. Wagner
mußte ein gewisses Erstaunen empfinden, als er sich, wenn auch nur flüchtig,
mit den Zügen eines epileptischen Tänzers im Kreise heulender Derwische oder
eines Cake-Walls auf Dcchomey geschildert sah---- Weil der Satyr in der
Tat der gesunde Naturmensch ist, ehe er der Freund der Rebe wird, so glaubt
sein Bewunderer, Schätze kräftiger Gesundheit, überströmenden Lebens bei zeit¬
genössischen Psendosatyrn zu finden, bei denen die physische und die geistige
Lebendigkeit nicht von bacchischer Trunkenheit, sondern von Entartung und
Psychischer Abnutzung kommt. Man kann an dem beunruhigenden Charakter
der Tanzart, die er bewundert, die Gefahr jener Art Gesundheit ermessen, nach
der er forscht."


Grenzboten IV 1906 4
Apollo und Dionysos

nur übertreibende und durch poetische Ausschmückung ein wenig fälschende Dar¬
stellung wirklicher Kräfte und Bestandteile des Kulturlebens. Und obwohl sich
in der „Geburt der Tragödie" die Abneigung gegen Sokrates schon bemerkbar
macht, wird er doch noch als Verkörperung der apollinischen Klarheit, als der
theoretische Mensch x^r oxosllönos. als Schöpfer des wissenschaftlichen Geistes
und Lehrer eines wohlgeordneten mäßigen Lebens anerkannt.

Aber schon in den nächsten Unzeitgemäßen geht Dionysos, der diesmal
freilich nicht reine Natur sondern Schopenhauerische metaphysische Schwärmerei
ist, mit ihm durch. Er will diese Metaphysik zur Grundlage einer neuen Kultur
machen, der Kultur des Genius, zuvor aber, ehe er ihren Bau beginnt, die be¬
stehende Kultur zerstören. „Nietzsche, dessen wankende Gesundheit unaufhörlich
seine großartigen philosophischen Pläne kreuzte, hat sich frühzeitig auf polemische
und apologetische Arbeiten beschränkt, die er sich imstande fühlte, mit mäßiger
Anstrengung zu Ende zu führen. Von dieser idealen neuen Kultur oder Religion
des Genius, deren Emporkommen er ersehnt und für nahe bevorstehend hält,
und die er „tragisch" oder „deutsch" nennt, je nachdem in ihm humanistische
oder Partikularistische Empfindungen vorherrschen, kennzeichnet er vor allem die
Feinde, die alle von gutem Willen Beseelten ohne Waffenstillstand bekämpfen
müssen. Dann weist er auf die Vorläufer hin und auf jetzt Lebende, die sich
zu Aposteln eignen. Die Dogmen und Vorschriften der neuen Religion zu
lehren, soll einer günstigeren Stunde vorbehalten bleiben. Um der ersten
Forderung dieses Programms zu genügen, stürzt sich Nietzsche mit dem Un¬
gestüm eines durch seinen Glauben fanatisierten Neubekehrten auf die Feinde
^Gesellschaft, Bildnngsphilister, Universitätslehrers. Dieses richtige Amoklaufen
versetzte die Opfer wie Strauß und sogar die nur unmittelbar betroffnen Freunde
wie Ritschl, Burckhardt und mitunter sogar Rohde in einen Zustand der Ver¬
blüffung, die sie mehr oder weniger unumwunden äußerten. Diese besonnenen
Geister fragten sich besorgt, welcher Gott oder Dämon diesen sonderbaren und
mit solcher Sicherheit auftretenden Seher fortriß." Auch Wagner konnte nicht
ganz damit einverstanden sein, daß er als der dithyrambische Dramatiker dar¬
gestellt wurde, der den orgiastischen Kult der Urmenschheit erneuere. „Wir
überschreiten hier sicherlich die Grenzen des erlaubten Symbolismus. Wagner
mußte ein gewisses Erstaunen empfinden, als er sich, wenn auch nur flüchtig,
mit den Zügen eines epileptischen Tänzers im Kreise heulender Derwische oder
eines Cake-Walls auf Dcchomey geschildert sah---- Weil der Satyr in der
Tat der gesunde Naturmensch ist, ehe er der Freund der Rebe wird, so glaubt
sein Bewunderer, Schätze kräftiger Gesundheit, überströmenden Lebens bei zeit¬
genössischen Psendosatyrn zu finden, bei denen die physische und die geistige
Lebendigkeit nicht von bacchischer Trunkenheit, sondern von Entartung und
Psychischer Abnutzung kommt. Man kann an dem beunruhigenden Charakter
der Tanzart, die er bewundert, die Gefahr jener Art Gesundheit ermessen, nach
der er forscht."


Grenzboten IV 1906 4
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[0037] Apollo und Dionysos nur übertreibende und durch poetische Ausschmückung ein wenig fälschende Dar¬ stellung wirklicher Kräfte und Bestandteile des Kulturlebens. Und obwohl sich in der „Geburt der Tragödie" die Abneigung gegen Sokrates schon bemerkbar macht, wird er doch noch als Verkörperung der apollinischen Klarheit, als der theoretische Mensch x^r oxosllönos. als Schöpfer des wissenschaftlichen Geistes und Lehrer eines wohlgeordneten mäßigen Lebens anerkannt. Aber schon in den nächsten Unzeitgemäßen geht Dionysos, der diesmal freilich nicht reine Natur sondern Schopenhauerische metaphysische Schwärmerei ist, mit ihm durch. Er will diese Metaphysik zur Grundlage einer neuen Kultur machen, der Kultur des Genius, zuvor aber, ehe er ihren Bau beginnt, die be¬ stehende Kultur zerstören. „Nietzsche, dessen wankende Gesundheit unaufhörlich seine großartigen philosophischen Pläne kreuzte, hat sich frühzeitig auf polemische und apologetische Arbeiten beschränkt, die er sich imstande fühlte, mit mäßiger Anstrengung zu Ende zu führen. Von dieser idealen neuen Kultur oder Religion des Genius, deren Emporkommen er ersehnt und für nahe bevorstehend hält, und die er „tragisch" oder „deutsch" nennt, je nachdem in ihm humanistische oder Partikularistische Empfindungen vorherrschen, kennzeichnet er vor allem die Feinde, die alle von gutem Willen Beseelten ohne Waffenstillstand bekämpfen müssen. Dann weist er auf die Vorläufer hin und auf jetzt Lebende, die sich zu Aposteln eignen. Die Dogmen und Vorschriften der neuen Religion zu lehren, soll einer günstigeren Stunde vorbehalten bleiben. Um der ersten Forderung dieses Programms zu genügen, stürzt sich Nietzsche mit dem Un¬ gestüm eines durch seinen Glauben fanatisierten Neubekehrten auf die Feinde ^Gesellschaft, Bildnngsphilister, Universitätslehrers. Dieses richtige Amoklaufen versetzte die Opfer wie Strauß und sogar die nur unmittelbar betroffnen Freunde wie Ritschl, Burckhardt und mitunter sogar Rohde in einen Zustand der Ver¬ blüffung, die sie mehr oder weniger unumwunden äußerten. Diese besonnenen Geister fragten sich besorgt, welcher Gott oder Dämon diesen sonderbaren und mit solcher Sicherheit auftretenden Seher fortriß." Auch Wagner konnte nicht ganz damit einverstanden sein, daß er als der dithyrambische Dramatiker dar¬ gestellt wurde, der den orgiastischen Kult der Urmenschheit erneuere. „Wir überschreiten hier sicherlich die Grenzen des erlaubten Symbolismus. Wagner mußte ein gewisses Erstaunen empfinden, als er sich, wenn auch nur flüchtig, mit den Zügen eines epileptischen Tänzers im Kreise heulender Derwische oder eines Cake-Walls auf Dcchomey geschildert sah---- Weil der Satyr in der Tat der gesunde Naturmensch ist, ehe er der Freund der Rebe wird, so glaubt sein Bewunderer, Schätze kräftiger Gesundheit, überströmenden Lebens bei zeit¬ genössischen Psendosatyrn zu finden, bei denen die physische und die geistige Lebendigkeit nicht von bacchischer Trunkenheit, sondern von Entartung und Psychischer Abnutzung kommt. Man kann an dem beunruhigenden Charakter der Tanzart, die er bewundert, die Gefahr jener Art Gesundheit ermessen, nach der er forscht." Grenzboten IV 1906 4

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/37>, abgerufen am 16.05.2024.