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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

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In der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts untersuchten die deutschen
Biologen nur die Lebensvorgänge, ohne danach zu fragen, wie die lebenden
Wesen lind ihre verschiednen Arten entstanden seien, Sie bekannten sich meist
zum Vitalismus, das heißt, sie nahmen mit den alten Philosophen und denen
der Renaissance eine besondre Lebenskraft an, die die Lebensvorgänge bewirke.
Paracelsus hatte seine Lebensgeister gehabt, Haller nannte das unbekannte
Agens Lebenskraft, Blumenbach nannte es Bildungstrieb. Johannes Müller
läßt, von Schelling beeinflußt, "das Lebensprinzip, die organische Kraft, die
Lebenskraft" zu den Stoffen hinzukommen, nicht als Ergebnis aus der Har¬
monie der Teile, "sondern die Teile und ihre Harmonie haben vielmehr ihren
Grund in der Ursache des Ganzen, die früher als die Teile da ist und durch
das Ganze hindurchwirkt. Diese Kraft der Organisation äußert sich zweckmäßig,
aber nach blinder (bewußtloser) Notwendigkeit, nach einem vernünftigen und
strengen Gesetz, wirkt nach einer dem Organismus zugrunde liegenden imma¬
nenten Idee. Beim Wachstum und der Fortpflanzung wird sie aus unbekannten
Quellen vermehrt, beim Tode zieht sie sich dahin zurück, woher sie gekommen
war. Sie kann mit der organischen Struktur der Pflanze oder des Tieres
geteilt werden gleich der empfindenden und vorstellenden Seele." Hartmann
hält den Vitalismns Müllers, dessen letzter Vertreter Justus von Liebig war,
deswegen für unhaltbar und verbesserungsbedürftig, weil er sich die Lebenskraft
als eine impondemble Materie vorstellte. Dubois-Reymond unternahm es, ihn
aus der Wissenschaft auszutreiben, wie Gottsched den Hanswurst von der Schau¬
bühne vertrieben hatte. Er stellte den Grundsatz auf: "Es gibt für uns kein
andres Erkennen als das mechanische, ein wie kümmerliches Surrogat für
wahres Erkennen das auch sein mag, und demgemäß nur eine wahrhaft wissen¬
schaftliche Denkform, die physikalisch-mathematische." Er schließt die Abhandlung,
in der das steht, mit der Aufforderung: lavoroirmö! Hartmann fragt, ob denn
eine Arbeit noch die Mühe lohne, die nur ein kümmerliches Surrogat für wahre
Erkenntnis liefere. Mit Beziehung auf die sieben Welträtsel vou Dubois meint
Hartmann, eine Erkenntnisweise, die auf fünf unüberschreitbare Grenzen stoße
<die ersten zwei Rätsel: Stoff und Kraft und Ursprung der Bewegung, glaubte
Dubois lösen zu können), sollte doch mit negativen dogmatischen Behauptungen
(Leugnung andrer als mechanischer Kräfte) ebenso vorsichtig sein wie mit positiven.
"Woher schöpft sie die Zuversicht, daß die Mechanik der Atome ausreiche, zwei
der sieben Welträtsel zu lösen, wenn sie an fünf andern eingestandnermaßen
scheitert? Und woraus schöpft sie die Gewißheit, daß es keine andre Erkennt-
nisweise für den Menschen außer ihr gebe, daß ihre Grenzen die Grenzen der
Wissenschaft überhaupt seien? Die Unbegreiflichkeit der Empfindung aus mecha¬
nischen Gründen hält Dubois fest, trotzdem er die Möglichkeit ihrer Erzeugung
durch mechanische Vorgänge annimmt- Man sollte im Gegenteil glauben, daß
nur die Überzeugung von der Unmöglichkeit der Erzeugung der Empfindung auf
mechanischem Wege dazu berechtigen könne, die Unbegreiflichkeit aus mechanischen


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In der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts untersuchten die deutschen
Biologen nur die Lebensvorgänge, ohne danach zu fragen, wie die lebenden
Wesen lind ihre verschiednen Arten entstanden seien, Sie bekannten sich meist
zum Vitalismus, das heißt, sie nahmen mit den alten Philosophen und denen
der Renaissance eine besondre Lebenskraft an, die die Lebensvorgänge bewirke.
Paracelsus hatte seine Lebensgeister gehabt, Haller nannte das unbekannte
Agens Lebenskraft, Blumenbach nannte es Bildungstrieb. Johannes Müller
läßt, von Schelling beeinflußt, „das Lebensprinzip, die organische Kraft, die
Lebenskraft" zu den Stoffen hinzukommen, nicht als Ergebnis aus der Har¬
monie der Teile, „sondern die Teile und ihre Harmonie haben vielmehr ihren
Grund in der Ursache des Ganzen, die früher als die Teile da ist und durch
das Ganze hindurchwirkt. Diese Kraft der Organisation äußert sich zweckmäßig,
aber nach blinder (bewußtloser) Notwendigkeit, nach einem vernünftigen und
strengen Gesetz, wirkt nach einer dem Organismus zugrunde liegenden imma¬
nenten Idee. Beim Wachstum und der Fortpflanzung wird sie aus unbekannten
Quellen vermehrt, beim Tode zieht sie sich dahin zurück, woher sie gekommen
war. Sie kann mit der organischen Struktur der Pflanze oder des Tieres
geteilt werden gleich der empfindenden und vorstellenden Seele." Hartmann
hält den Vitalismns Müllers, dessen letzter Vertreter Justus von Liebig war,
deswegen für unhaltbar und verbesserungsbedürftig, weil er sich die Lebenskraft
als eine impondemble Materie vorstellte. Dubois-Reymond unternahm es, ihn
aus der Wissenschaft auszutreiben, wie Gottsched den Hanswurst von der Schau¬
bühne vertrieben hatte. Er stellte den Grundsatz auf: „Es gibt für uns kein
andres Erkennen als das mechanische, ein wie kümmerliches Surrogat für
wahres Erkennen das auch sein mag, und demgemäß nur eine wahrhaft wissen¬
schaftliche Denkform, die physikalisch-mathematische." Er schließt die Abhandlung,
in der das steht, mit der Aufforderung: lavoroirmö! Hartmann fragt, ob denn
eine Arbeit noch die Mühe lohne, die nur ein kümmerliches Surrogat für wahre
Erkenntnis liefere. Mit Beziehung auf die sieben Welträtsel vou Dubois meint
Hartmann, eine Erkenntnisweise, die auf fünf unüberschreitbare Grenzen stoße
<die ersten zwei Rätsel: Stoff und Kraft und Ursprung der Bewegung, glaubte
Dubois lösen zu können), sollte doch mit negativen dogmatischen Behauptungen
(Leugnung andrer als mechanischer Kräfte) ebenso vorsichtig sein wie mit positiven.
„Woher schöpft sie die Zuversicht, daß die Mechanik der Atome ausreiche, zwei
der sieben Welträtsel zu lösen, wenn sie an fünf andern eingestandnermaßen
scheitert? Und woraus schöpft sie die Gewißheit, daß es keine andre Erkennt-
nisweise für den Menschen außer ihr gebe, daß ihre Grenzen die Grenzen der
Wissenschaft überhaupt seien? Die Unbegreiflichkeit der Empfindung aus mecha¬
nischen Gründen hält Dubois fest, trotzdem er die Möglichkeit ihrer Erzeugung
durch mechanische Vorgänge annimmt- Man sollte im Gegenteil glauben, daß
nur die Überzeugung von der Unmöglichkeit der Erzeugung der Empfindung auf
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/370>, abgerufen am 15.05.2024.