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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

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Wundes Geschichte der bildenden Künste

Vollkommenheit, mit der er in dem Kunstwerk verwirklicht ist. Ein Gebäude,
dem man nicht ansieht, ob es ein Theater, ein Rathaus oder eine Kirche ist,
hat auch ästhetisch seinen Zweck verfehlt, mag es noch so gefällige Proportionen
und Ornamente aufweisen. Was von der Architektur, das gilt nun aber auch
für alle andern Künste, und das gilt vor allem von den zur Jdealkunst sich
erhebenden Werken der Plastik und Malerei, die durchaus in der Anlehnung
an die Architektur entstanden und darum von den Ideen, die diese darstellt, er¬
füllt sind. Eine Götterstatue und ein Altarbild tragen die Ideen, die sie be¬
seelen, nicht bloß in sich selber, sondern sie gewinnen sie zugleich aus ihrer
architektonischen Umgebung, mit der sie sich zu einer einheitlichen, von den
gleichen Ideen getragnen Gesamtwirkung verbinden sollen." Nun haben sich
Zwar Plastik und Malerei von der Architektur, die immer eine durch praktische
Zwecke gebundne Kunst bleiben muß, losgelöst und sind insofern freie Künste
geworden, als sie Werke schaffen können und wirklich schaffen, die tatsächlich
keinem außerhalb des Künstlers, der in ihnen seine Ideen ausdrückt, liegenden
Zwecke dienen. Aber jede der heutigen freien Künste ist einmal gebundne Kunst
gewesen und bleibt immer in dem Sinne gebundne Kunst, daß ihre Werke der
Übereinstimmung mit ihrer Umgebung bedürfen, wenn die in ihnen verkörperten
Ideen ihre volle Wirkung üben sollen. Ein Altarbild wirkt nicht in der Bilder¬
galerie sondern in der Kirche. Museen mögen dazu beigetragen haben, den
Begriff der reinen Schönheit und des ganz auf sich selbst gestellten Kunstwerks
Zu erzeugen (heut lebt dieser Begriff wieder auf in der Losung l'art xcmr l'ary.
"Doch der natürliche Beruf der Jdealkunst ist es, die Ideen, die das Leben be¬
wegen, in ihren Gebilden zur Anschauung zu bringen. Dazu aber muß sie
mitten in das Leben selber an den Orten und in der Umgebung gestellt sein,
w die jene Ideen hingehören."

Aus der Geschichte der Architektur heben wir das Kapitel über den Stil¬
wandel als für unsre Zeit ganz besonders interessant hervor. Wundt bestreitet,
daß Ermüdung die Ursache des Wechsels sei. Ermüden könne der Einzelne für
ästhetische Eindrücke, die durch Wiederholung ihren Reiz verlieren, aber das sei
nicht ein Prozeß, der sich über Jahrhunderte erstrecke. Wenn ein Stil verfällt
und schließlich verlassen wird, so geschehe das nicht, weil die lange Dauer seiner
Herrschaft irgendwen ermüdet habe; davon empfinde ja der Jetztlebende nichts,
daß schon vor hundert Jahren in diesem Stile gebaut worden ist. Den Stil¬
wandel verursache teils das praktische Bedürfnis, teils der Wandel der Ideen.
Unter den bestimmenden Ideen stehn die religiösen in der ersten Reihe. "Um die
Frage, ob ein Zeitalter religiös oder weltlich gesinnt, und wie in jedem dieser
Fälle das religiöse Gefühl oder die Freude an der Welt gerichtet ist, darum
dreht sich die Geschichte des Stilwandels bis auf die neueste Zeit; und stillos,
unsicher zwischen überlieferten Formen herumtastend ist eine Zeit dann, wenn
sie in beiden Richtungen, in den Formen der religiösen Erhebung wie des
Weltgenusses, der festen Ziele und der Ideale entbehrt." In der Geschichte


Grenzboten IV 1906 ^
Wundes Geschichte der bildenden Künste

Vollkommenheit, mit der er in dem Kunstwerk verwirklicht ist. Ein Gebäude,
dem man nicht ansieht, ob es ein Theater, ein Rathaus oder eine Kirche ist,
hat auch ästhetisch seinen Zweck verfehlt, mag es noch so gefällige Proportionen
und Ornamente aufweisen. Was von der Architektur, das gilt nun aber auch
für alle andern Künste, und das gilt vor allem von den zur Jdealkunst sich
erhebenden Werken der Plastik und Malerei, die durchaus in der Anlehnung
an die Architektur entstanden und darum von den Ideen, die diese darstellt, er¬
füllt sind. Eine Götterstatue und ein Altarbild tragen die Ideen, die sie be¬
seelen, nicht bloß in sich selber, sondern sie gewinnen sie zugleich aus ihrer
architektonischen Umgebung, mit der sie sich zu einer einheitlichen, von den
gleichen Ideen getragnen Gesamtwirkung verbinden sollen." Nun haben sich
Zwar Plastik und Malerei von der Architektur, die immer eine durch praktische
Zwecke gebundne Kunst bleiben muß, losgelöst und sind insofern freie Künste
geworden, als sie Werke schaffen können und wirklich schaffen, die tatsächlich
keinem außerhalb des Künstlers, der in ihnen seine Ideen ausdrückt, liegenden
Zwecke dienen. Aber jede der heutigen freien Künste ist einmal gebundne Kunst
gewesen und bleibt immer in dem Sinne gebundne Kunst, daß ihre Werke der
Übereinstimmung mit ihrer Umgebung bedürfen, wenn die in ihnen verkörperten
Ideen ihre volle Wirkung üben sollen. Ein Altarbild wirkt nicht in der Bilder¬
galerie sondern in der Kirche. Museen mögen dazu beigetragen haben, den
Begriff der reinen Schönheit und des ganz auf sich selbst gestellten Kunstwerks
Zu erzeugen (heut lebt dieser Begriff wieder auf in der Losung l'art xcmr l'ary.
"Doch der natürliche Beruf der Jdealkunst ist es, die Ideen, die das Leben be¬
wegen, in ihren Gebilden zur Anschauung zu bringen. Dazu aber muß sie
mitten in das Leben selber an den Orten und in der Umgebung gestellt sein,
w die jene Ideen hingehören."

Aus der Geschichte der Architektur heben wir das Kapitel über den Stil¬
wandel als für unsre Zeit ganz besonders interessant hervor. Wundt bestreitet,
daß Ermüdung die Ursache des Wechsels sei. Ermüden könne der Einzelne für
ästhetische Eindrücke, die durch Wiederholung ihren Reiz verlieren, aber das sei
nicht ein Prozeß, der sich über Jahrhunderte erstrecke. Wenn ein Stil verfällt
und schließlich verlassen wird, so geschehe das nicht, weil die lange Dauer seiner
Herrschaft irgendwen ermüdet habe; davon empfinde ja der Jetztlebende nichts,
daß schon vor hundert Jahren in diesem Stile gebaut worden ist. Den Stil¬
wandel verursache teils das praktische Bedürfnis, teils der Wandel der Ideen.
Unter den bestimmenden Ideen stehn die religiösen in der ersten Reihe. „Um die
Frage, ob ein Zeitalter religiös oder weltlich gesinnt, und wie in jedem dieser
Fälle das religiöse Gefühl oder die Freude an der Welt gerichtet ist, darum
dreht sich die Geschichte des Stilwandels bis auf die neueste Zeit; und stillos,
unsicher zwischen überlieferten Formen herumtastend ist eine Zeit dann, wenn
sie in beiden Richtungen, in den Formen der religiösen Erhebung wie des
Weltgenusses, der festen Ziele und der Ideale entbehrt." In der Geschichte


Grenzboten IV 1906 ^
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[0489] Wundes Geschichte der bildenden Künste Vollkommenheit, mit der er in dem Kunstwerk verwirklicht ist. Ein Gebäude, dem man nicht ansieht, ob es ein Theater, ein Rathaus oder eine Kirche ist, hat auch ästhetisch seinen Zweck verfehlt, mag es noch so gefällige Proportionen und Ornamente aufweisen. Was von der Architektur, das gilt nun aber auch für alle andern Künste, und das gilt vor allem von den zur Jdealkunst sich erhebenden Werken der Plastik und Malerei, die durchaus in der Anlehnung an die Architektur entstanden und darum von den Ideen, die diese darstellt, er¬ füllt sind. Eine Götterstatue und ein Altarbild tragen die Ideen, die sie be¬ seelen, nicht bloß in sich selber, sondern sie gewinnen sie zugleich aus ihrer architektonischen Umgebung, mit der sie sich zu einer einheitlichen, von den gleichen Ideen getragnen Gesamtwirkung verbinden sollen." Nun haben sich Zwar Plastik und Malerei von der Architektur, die immer eine durch praktische Zwecke gebundne Kunst bleiben muß, losgelöst und sind insofern freie Künste geworden, als sie Werke schaffen können und wirklich schaffen, die tatsächlich keinem außerhalb des Künstlers, der in ihnen seine Ideen ausdrückt, liegenden Zwecke dienen. Aber jede der heutigen freien Künste ist einmal gebundne Kunst gewesen und bleibt immer in dem Sinne gebundne Kunst, daß ihre Werke der Übereinstimmung mit ihrer Umgebung bedürfen, wenn die in ihnen verkörperten Ideen ihre volle Wirkung üben sollen. Ein Altarbild wirkt nicht in der Bilder¬ galerie sondern in der Kirche. Museen mögen dazu beigetragen haben, den Begriff der reinen Schönheit und des ganz auf sich selbst gestellten Kunstwerks Zu erzeugen (heut lebt dieser Begriff wieder auf in der Losung l'art xcmr l'ary. "Doch der natürliche Beruf der Jdealkunst ist es, die Ideen, die das Leben be¬ wegen, in ihren Gebilden zur Anschauung zu bringen. Dazu aber muß sie mitten in das Leben selber an den Orten und in der Umgebung gestellt sein, w die jene Ideen hingehören." Aus der Geschichte der Architektur heben wir das Kapitel über den Stil¬ wandel als für unsre Zeit ganz besonders interessant hervor. Wundt bestreitet, daß Ermüdung die Ursache des Wechsels sei. Ermüden könne der Einzelne für ästhetische Eindrücke, die durch Wiederholung ihren Reiz verlieren, aber das sei nicht ein Prozeß, der sich über Jahrhunderte erstrecke. Wenn ein Stil verfällt und schließlich verlassen wird, so geschehe das nicht, weil die lange Dauer seiner Herrschaft irgendwen ermüdet habe; davon empfinde ja der Jetztlebende nichts, daß schon vor hundert Jahren in diesem Stile gebaut worden ist. Den Stil¬ wandel verursache teils das praktische Bedürfnis, teils der Wandel der Ideen. Unter den bestimmenden Ideen stehn die religiösen in der ersten Reihe. „Um die Frage, ob ein Zeitalter religiös oder weltlich gesinnt, und wie in jedem dieser Fälle das religiöse Gefühl oder die Freude an der Welt gerichtet ist, darum dreht sich die Geschichte des Stilwandels bis auf die neueste Zeit; und stillos, unsicher zwischen überlieferten Formen herumtastend ist eine Zeit dann, wenn sie in beiden Richtungen, in den Formen der religiösen Erhebung wie des Weltgenusses, der festen Ziele und der Ideale entbehrt." In der Geschichte Grenzboten IV 1906 ^

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/489>, abgerufen am 16.05.2024.