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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

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Russische Briefe

Kerl! Aladjin und Shilkin haben ja in der Duma gesagt, daß bei der Duma¬
auflösung das Volk aufspringen würde wie ein gereizter Tiger -- Winawer,
daß sich die Bajonette vor den Volksvertretern senken würden, und daß dann
der Zar und die Beamten der Gnade aber auch der Wut des Volks ausge¬
liefert sein würden. Wie sagte doch Shilkin? "Wir sind zwar nicht fest in Staats¬
wissenschaften, aber wir sind erfüllt von jenem Feuer des Hasses, von dem ganz
Rußland glimmt!" und der beunruhigte Bürger zieht sich erschreckt in seine Be¬
hausung zurück; der Kaufmann läßt seine Läden verrammeln. Niemand gibt
sich Rechenschaft von dem, was eigentlich geschehn könnte, aber jeder einzelne
erwartet, daß Petersburg in wenig Stunden der Schauplatz blutiger Kämpfe
sein wird. Es geschah aber nichts.

Als die Abgeordneten an das "Taurische Palais" kamen, sagte ihnen der
militärische Hausvorsteher, die Räume seien geschlossen; daß sie fest geschlossen
waren, bewiesen die zahlreichen Posten und Patrouillen an allen Eingängen.
Hatte man noch gestern in der Duma laut geschimpft, so zog man es heute
vor, die Faust in der Tasche zu ballen.




Die innern Gründe für die Dumaauflösuug (siehe Grenzboten Ur. 46)
waren ans der einen Seite das revolutionäre Treiben der "Arbeitsgruppe", auf
der andern die UnVersöhnlichkeit der Kadetten in der Agrarfrage. Mit der Auf¬
lösung wurde kein Ventil verstopft, das, wie die liberale Presse im In- und
Auslande behauptete, Morden und Raubanfällen vorbeugte, sondern eine Organi¬
sation wurde unschädlich gemacht, die Mord und Raub in großem Stile vorbereitete.
Man vergleiche nur folgende Zahlen: Vor dem Zusammentritt der Duma wurden
Mordanschläge auf Regierungsvertreter ausgeführt im Februar 39, im März 39,
im April 42. Dann trat die Duma zusammen. Es wurden ermordet im
Mai 126, im Juni 142, im Juli 239, im August 322, im September 168.
An Agrarnnruhen kamen vor im Februar 11 Fälle, im März 18, im April 13,
nach dem Zusammentritt der Duma im Mai 64, im Juni 235, im Juli 332,
nach Einführung der Feldkriegsgerichte im August 190, im September 73, im
Oktober 12. (Siehe Professor Mich. Kaufmann in "Strana" Ur. 188.)

Zur Beruhigung der unter den früher geschilderten Verhältnissen äußerst
erregten Bauern erließ das Kabinett am 20. Juni*) eine Regierungserklärung,
die ungefähr besagte: In Ausführung der allerhöchst befohlnen Maßregeln zur
Besserung der Lage der Bauern hat die Regierung Entwürfe über die Art der
Erweiterung und Verbesserung des bäuerlichen Landbesitzes und über die Ver¬
änderungen in der Art der Nutznießung des Landes von den Bauern in der
Reichsduma eingebracht. Unter den von der Negierung in Aussicht genommnen
und der Neichsduma zur Prüfung vorgelegten Maßregeln befinden sich unter
andern folgende: 1. Neben den Kronländereien, die allein zur Beseitigung der



Alle Daten sind in russischem Stil angegeben.
Russische Briefe

Kerl! Aladjin und Shilkin haben ja in der Duma gesagt, daß bei der Duma¬
auflösung das Volk aufspringen würde wie ein gereizter Tiger — Winawer,
daß sich die Bajonette vor den Volksvertretern senken würden, und daß dann
der Zar und die Beamten der Gnade aber auch der Wut des Volks ausge¬
liefert sein würden. Wie sagte doch Shilkin? „Wir sind zwar nicht fest in Staats¬
wissenschaften, aber wir sind erfüllt von jenem Feuer des Hasses, von dem ganz
Rußland glimmt!" und der beunruhigte Bürger zieht sich erschreckt in seine Be¬
hausung zurück; der Kaufmann läßt seine Läden verrammeln. Niemand gibt
sich Rechenschaft von dem, was eigentlich geschehn könnte, aber jeder einzelne
erwartet, daß Petersburg in wenig Stunden der Schauplatz blutiger Kämpfe
sein wird. Es geschah aber nichts.

Als die Abgeordneten an das „Taurische Palais" kamen, sagte ihnen der
militärische Hausvorsteher, die Räume seien geschlossen; daß sie fest geschlossen
waren, bewiesen die zahlreichen Posten und Patrouillen an allen Eingängen.
Hatte man noch gestern in der Duma laut geschimpft, so zog man es heute
vor, die Faust in der Tasche zu ballen.




Die innern Gründe für die Dumaauflösuug (siehe Grenzboten Ur. 46)
waren ans der einen Seite das revolutionäre Treiben der „Arbeitsgruppe", auf
der andern die UnVersöhnlichkeit der Kadetten in der Agrarfrage. Mit der Auf¬
lösung wurde kein Ventil verstopft, das, wie die liberale Presse im In- und
Auslande behauptete, Morden und Raubanfällen vorbeugte, sondern eine Organi¬
sation wurde unschädlich gemacht, die Mord und Raub in großem Stile vorbereitete.
Man vergleiche nur folgende Zahlen: Vor dem Zusammentritt der Duma wurden
Mordanschläge auf Regierungsvertreter ausgeführt im Februar 39, im März 39,
im April 42. Dann trat die Duma zusammen. Es wurden ermordet im
Mai 126, im Juni 142, im Juli 239, im August 322, im September 168.
An Agrarnnruhen kamen vor im Februar 11 Fälle, im März 18, im April 13,
nach dem Zusammentritt der Duma im Mai 64, im Juni 235, im Juli 332,
nach Einführung der Feldkriegsgerichte im August 190, im September 73, im
Oktober 12. (Siehe Professor Mich. Kaufmann in „Strana" Ur. 188.)

Zur Beruhigung der unter den früher geschilderten Verhältnissen äußerst
erregten Bauern erließ das Kabinett am 20. Juni*) eine Regierungserklärung,
die ungefähr besagte: In Ausführung der allerhöchst befohlnen Maßregeln zur
Besserung der Lage der Bauern hat die Regierung Entwürfe über die Art der
Erweiterung und Verbesserung des bäuerlichen Landbesitzes und über die Ver¬
änderungen in der Art der Nutznießung des Landes von den Bauern in der
Reichsduma eingebracht. Unter den von der Negierung in Aussicht genommnen
und der Neichsduma zur Prüfung vorgelegten Maßregeln befinden sich unter
andern folgende: 1. Neben den Kronländereien, die allein zur Beseitigung der



Alle Daten sind in russischem Stil angegeben.
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[0524] Russische Briefe Kerl! Aladjin und Shilkin haben ja in der Duma gesagt, daß bei der Duma¬ auflösung das Volk aufspringen würde wie ein gereizter Tiger — Winawer, daß sich die Bajonette vor den Volksvertretern senken würden, und daß dann der Zar und die Beamten der Gnade aber auch der Wut des Volks ausge¬ liefert sein würden. Wie sagte doch Shilkin? „Wir sind zwar nicht fest in Staats¬ wissenschaften, aber wir sind erfüllt von jenem Feuer des Hasses, von dem ganz Rußland glimmt!" und der beunruhigte Bürger zieht sich erschreckt in seine Be¬ hausung zurück; der Kaufmann läßt seine Läden verrammeln. Niemand gibt sich Rechenschaft von dem, was eigentlich geschehn könnte, aber jeder einzelne erwartet, daß Petersburg in wenig Stunden der Schauplatz blutiger Kämpfe sein wird. Es geschah aber nichts. Als die Abgeordneten an das „Taurische Palais" kamen, sagte ihnen der militärische Hausvorsteher, die Räume seien geschlossen; daß sie fest geschlossen waren, bewiesen die zahlreichen Posten und Patrouillen an allen Eingängen. Hatte man noch gestern in der Duma laut geschimpft, so zog man es heute vor, die Faust in der Tasche zu ballen. Die innern Gründe für die Dumaauflösuug (siehe Grenzboten Ur. 46) waren ans der einen Seite das revolutionäre Treiben der „Arbeitsgruppe", auf der andern die UnVersöhnlichkeit der Kadetten in der Agrarfrage. Mit der Auf¬ lösung wurde kein Ventil verstopft, das, wie die liberale Presse im In- und Auslande behauptete, Morden und Raubanfällen vorbeugte, sondern eine Organi¬ sation wurde unschädlich gemacht, die Mord und Raub in großem Stile vorbereitete. Man vergleiche nur folgende Zahlen: Vor dem Zusammentritt der Duma wurden Mordanschläge auf Regierungsvertreter ausgeführt im Februar 39, im März 39, im April 42. Dann trat die Duma zusammen. Es wurden ermordet im Mai 126, im Juni 142, im Juli 239, im August 322, im September 168. An Agrarnnruhen kamen vor im Februar 11 Fälle, im März 18, im April 13, nach dem Zusammentritt der Duma im Mai 64, im Juni 235, im Juli 332, nach Einführung der Feldkriegsgerichte im August 190, im September 73, im Oktober 12. (Siehe Professor Mich. Kaufmann in „Strana" Ur. 188.) Zur Beruhigung der unter den früher geschilderten Verhältnissen äußerst erregten Bauern erließ das Kabinett am 20. Juni*) eine Regierungserklärung, die ungefähr besagte: In Ausführung der allerhöchst befohlnen Maßregeln zur Besserung der Lage der Bauern hat die Regierung Entwürfe über die Art der Erweiterung und Verbesserung des bäuerlichen Landbesitzes und über die Ver¬ änderungen in der Art der Nutznießung des Landes von den Bauern in der Reichsduma eingebracht. Unter den von der Negierung in Aussicht genommnen und der Neichsduma zur Prüfung vorgelegten Maßregeln befinden sich unter andern folgende: 1. Neben den Kronländereien, die allein zur Beseitigung der Alle Daten sind in russischem Stil angegeben.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/524>, abgerufen am 15.05.2024.