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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

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Literarische Rundschau

Sinne Neuland". Anders die "Heimatkunst". Sie hatte es immer und inner¬
halb aller literarischen Lager gegeben. Von den Mitgliedern der Christlich-
Deutschen Tischgesellschaft bis zu denen des Vereins "Durch", der drei Menschen¬
alter später in demselben Berlin junge Schriftsteller vereinte, finden wir immer
wieder Dichter, die ihrer Werke innersten Gehalt und tiefste Stimmung dem
Zusammenhang mit dem Boden der engern Heimat und dem Zusammenklang
mit ihrem Volkstum danken, denn so und nicht allein in der Darstellung des
geschlossenen heimatlichen Schauplatzes wird die Heimatkunst zu definieren sein.
Die Bewegung aber hatte weder ästhetische noch überhaupt andre als geo¬
graphische Grenzen. Man warf schließlich alles in einen Topf, und als gar
der "Jöru Abt" erschienen war und den unerhörten Erfolg gehabt hatte, brauchte
jemand nur irgendeinen marlitthaften Bauernjungen recht breit auszumalen und
konnte als achtbarer Heimatkünstler gelten. Der ganze Vorgang erinnerte in
geradezu amüsanter Weise an die Erscheinungen, die der Erfolg Auerbachs her¬
vorrief, eines Dichters, den man merkwürdigerweise unter den geistigen Nähr¬
vätern Frenssens meist übersehen hat. "Zahlreiche Nachahmer, berichtet Treitschke
(Deutsche Geschichte V, S. 386), die sehr bald in Manier verfielen, bemächtigten
sich sogleich der neu entdeckten Dorfwelt; aus allen dunkeln Winkeln deutscher
Erde, aus Oberschlesien und ans dem Nies, stieg in den nächsten zehn Jahren
ein Geschlecht von Tölpeln und Rüpeln empor, und je roher, je plumper diese
Bauern es trieben, desto lauter wurden sie bewundert als aus dem Leben ge-
griffne Gestalten, desto lebhafter reizten sie das stoffliche, ethnographische Interesse
der Lesewelt." Nur daß diesmal die von Treitschke für jene Periode festgestellten
guten Wirkungen fast völlig ausblieben. Denn was heute im Roman und der
Novelle frisch, echt und zukunftskräftig erscheint, ist nicht von dieser Heimat¬
kunst, sondern wirklich von den nie genug gepriesnen Meistern des silbernen
Zeitalters, von Ludwig, Raabe, Keller, Heyse und andern ihrer Altersgenossen
ausgegangen. Schließlich aber, und das war vielleicht das am meisten Be¬
zeichnende, ist das beste Buch neuerer Heimatkunst geschrieben worden, ehe man
an die neue Tendenz dachte, mitten in den Anfängen des Naturalismus. Es
hieß "Frau Sorge", fand noch Gustav Frevtags bewunderndes Verständnis und
stammte von Hermann Suderinann.

Gerade in der Heimatkunst, die doch nach dem Lärm die Stille bedeuten
sollte, hat man uns mit wahrem Korybantengeschrei die Ohren taub gemacht --
ob der Sang von Berlin oder von wo anders ausging, bleibt für unser
Trommelfell gleich. Nun sich die Wasser verlaufen haben, ist es nicht allzu
viel, was standhält und bleibt. Zu diesem Wenigen rechne ich vor anderm
die Erzählungen des Schleswig-Holsteiners Timm Kröger. Timm Kröger ge¬
hört zu den ganz seltnen Naturen, die keine Zeile schreiben können, die nicht
poetische Stimmung gibt, weil jedes Wort poetischer Stimmung entspringt.
Und diese Stimmung ist bei ihm gekettet an den Mutterboden Holsteins.
"Heimkehr" nennt er ein neu erschienenes Skizzenbuch (Hamburg, Alfred Jenssen),


Literarische Rundschau

Sinne Neuland". Anders die „Heimatkunst". Sie hatte es immer und inner¬
halb aller literarischen Lager gegeben. Von den Mitgliedern der Christlich-
Deutschen Tischgesellschaft bis zu denen des Vereins „Durch", der drei Menschen¬
alter später in demselben Berlin junge Schriftsteller vereinte, finden wir immer
wieder Dichter, die ihrer Werke innersten Gehalt und tiefste Stimmung dem
Zusammenhang mit dem Boden der engern Heimat und dem Zusammenklang
mit ihrem Volkstum danken, denn so und nicht allein in der Darstellung des
geschlossenen heimatlichen Schauplatzes wird die Heimatkunst zu definieren sein.
Die Bewegung aber hatte weder ästhetische noch überhaupt andre als geo¬
graphische Grenzen. Man warf schließlich alles in einen Topf, und als gar
der „Jöru Abt" erschienen war und den unerhörten Erfolg gehabt hatte, brauchte
jemand nur irgendeinen marlitthaften Bauernjungen recht breit auszumalen und
konnte als achtbarer Heimatkünstler gelten. Der ganze Vorgang erinnerte in
geradezu amüsanter Weise an die Erscheinungen, die der Erfolg Auerbachs her¬
vorrief, eines Dichters, den man merkwürdigerweise unter den geistigen Nähr¬
vätern Frenssens meist übersehen hat. „Zahlreiche Nachahmer, berichtet Treitschke
(Deutsche Geschichte V, S. 386), die sehr bald in Manier verfielen, bemächtigten
sich sogleich der neu entdeckten Dorfwelt; aus allen dunkeln Winkeln deutscher
Erde, aus Oberschlesien und ans dem Nies, stieg in den nächsten zehn Jahren
ein Geschlecht von Tölpeln und Rüpeln empor, und je roher, je plumper diese
Bauern es trieben, desto lauter wurden sie bewundert als aus dem Leben ge-
griffne Gestalten, desto lebhafter reizten sie das stoffliche, ethnographische Interesse
der Lesewelt." Nur daß diesmal die von Treitschke für jene Periode festgestellten
guten Wirkungen fast völlig ausblieben. Denn was heute im Roman und der
Novelle frisch, echt und zukunftskräftig erscheint, ist nicht von dieser Heimat¬
kunst, sondern wirklich von den nie genug gepriesnen Meistern des silbernen
Zeitalters, von Ludwig, Raabe, Keller, Heyse und andern ihrer Altersgenossen
ausgegangen. Schließlich aber, und das war vielleicht das am meisten Be¬
zeichnende, ist das beste Buch neuerer Heimatkunst geschrieben worden, ehe man
an die neue Tendenz dachte, mitten in den Anfängen des Naturalismus. Es
hieß „Frau Sorge", fand noch Gustav Frevtags bewunderndes Verständnis und
stammte von Hermann Suderinann.

Gerade in der Heimatkunst, die doch nach dem Lärm die Stille bedeuten
sollte, hat man uns mit wahrem Korybantengeschrei die Ohren taub gemacht —
ob der Sang von Berlin oder von wo anders ausging, bleibt für unser
Trommelfell gleich. Nun sich die Wasser verlaufen haben, ist es nicht allzu
viel, was standhält und bleibt. Zu diesem Wenigen rechne ich vor anderm
die Erzählungen des Schleswig-Holsteiners Timm Kröger. Timm Kröger ge¬
hört zu den ganz seltnen Naturen, die keine Zeile schreiben können, die nicht
poetische Stimmung gibt, weil jedes Wort poetischer Stimmung entspringt.
Und diese Stimmung ist bei ihm gekettet an den Mutterboden Holsteins.
"Heimkehr" nennt er ein neu erschienenes Skizzenbuch (Hamburg, Alfred Jenssen),


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[0545] Literarische Rundschau Sinne Neuland". Anders die „Heimatkunst". Sie hatte es immer und inner¬ halb aller literarischen Lager gegeben. Von den Mitgliedern der Christlich- Deutschen Tischgesellschaft bis zu denen des Vereins „Durch", der drei Menschen¬ alter später in demselben Berlin junge Schriftsteller vereinte, finden wir immer wieder Dichter, die ihrer Werke innersten Gehalt und tiefste Stimmung dem Zusammenhang mit dem Boden der engern Heimat und dem Zusammenklang mit ihrem Volkstum danken, denn so und nicht allein in der Darstellung des geschlossenen heimatlichen Schauplatzes wird die Heimatkunst zu definieren sein. Die Bewegung aber hatte weder ästhetische noch überhaupt andre als geo¬ graphische Grenzen. Man warf schließlich alles in einen Topf, und als gar der „Jöru Abt" erschienen war und den unerhörten Erfolg gehabt hatte, brauchte jemand nur irgendeinen marlitthaften Bauernjungen recht breit auszumalen und konnte als achtbarer Heimatkünstler gelten. Der ganze Vorgang erinnerte in geradezu amüsanter Weise an die Erscheinungen, die der Erfolg Auerbachs her¬ vorrief, eines Dichters, den man merkwürdigerweise unter den geistigen Nähr¬ vätern Frenssens meist übersehen hat. „Zahlreiche Nachahmer, berichtet Treitschke (Deutsche Geschichte V, S. 386), die sehr bald in Manier verfielen, bemächtigten sich sogleich der neu entdeckten Dorfwelt; aus allen dunkeln Winkeln deutscher Erde, aus Oberschlesien und ans dem Nies, stieg in den nächsten zehn Jahren ein Geschlecht von Tölpeln und Rüpeln empor, und je roher, je plumper diese Bauern es trieben, desto lauter wurden sie bewundert als aus dem Leben ge- griffne Gestalten, desto lebhafter reizten sie das stoffliche, ethnographische Interesse der Lesewelt." Nur daß diesmal die von Treitschke für jene Periode festgestellten guten Wirkungen fast völlig ausblieben. Denn was heute im Roman und der Novelle frisch, echt und zukunftskräftig erscheint, ist nicht von dieser Heimat¬ kunst, sondern wirklich von den nie genug gepriesnen Meistern des silbernen Zeitalters, von Ludwig, Raabe, Keller, Heyse und andern ihrer Altersgenossen ausgegangen. Schließlich aber, und das war vielleicht das am meisten Be¬ zeichnende, ist das beste Buch neuerer Heimatkunst geschrieben worden, ehe man an die neue Tendenz dachte, mitten in den Anfängen des Naturalismus. Es hieß „Frau Sorge", fand noch Gustav Frevtags bewunderndes Verständnis und stammte von Hermann Suderinann. Gerade in der Heimatkunst, die doch nach dem Lärm die Stille bedeuten sollte, hat man uns mit wahrem Korybantengeschrei die Ohren taub gemacht — ob der Sang von Berlin oder von wo anders ausging, bleibt für unser Trommelfell gleich. Nun sich die Wasser verlaufen haben, ist es nicht allzu viel, was standhält und bleibt. Zu diesem Wenigen rechne ich vor anderm die Erzählungen des Schleswig-Holsteiners Timm Kröger. Timm Kröger ge¬ hört zu den ganz seltnen Naturen, die keine Zeile schreiben können, die nicht poetische Stimmung gibt, weil jedes Wort poetischer Stimmung entspringt. Und diese Stimmung ist bei ihm gekettet an den Mutterboden Holsteins. "Heimkehr" nennt er ein neu erschienenes Skizzenbuch (Hamburg, Alfred Jenssen),

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/545>, abgerufen am 15.05.2024.