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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

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Zur Geschichte der algerisch-marokkanischen Grenze

ersten Falle meist als "Strafexpeditionen" hingestellt werden. Das Verfahren
aber ist bei solchen Gelegenheiten auf beiden Seiten dasselbe räuberische und
barbarische.

Obgleich diese "Selbsthilfe" durch räuberische Einfülle in fremdes Gebiet
gegen die elementarsten Begriffe des Völkerrechts verstößt, dabei der den
Gegnern zugefügte Schaden oft in keinerlei Verhältnis zu dem ursprünglichen,
geringfügigen Anlaß zum Raubzuge steht, wurden außerdem jedesmal in Fez
hohe Entschädigungen erpreßt, während man doch sonst dem Sultan jede
Autorität im Süden bestreitet. Auch wenn die französischen Schutzbefohlnen
die Fehde zuerst verschuldet haben, gibt nach einigem Sträuben die sich ihrer
Schwäche bewußte marokkanische Regierung (Maghzen) immer nach, da sie
Ruhe um jeden Preis haben will. Jede solche auf diplomatischen? Wege er¬
preßte Kabinettsorder -- "Aar-el-Scherif" -- erzeugt aber Erbitterung unter
den Eingebornen und veranlaßt oft genug neue Nefras, die von den Franzosen
zu weiter" Razzias benutzt werden.

An die berüchtigten Reunionskammern, wie sie gallischer Übermut einst
im Elsaß gegen das innerlich zerrüttete heilige römische Reich deutscher Nation
w Tätigkeit treten ließ, erinnert ein vielfach zur Wegnahme marokkanischen
Gebiets angewandtes Verfahren, wonach man den zu annektierenden Stämmen
kurzerhand andre Namen gab. So zum Beispiel bei den zahlreiche Einzel-
tribus umfassenden Stammverbänden der Beni-Amur und der Dschemba. Als
General Saussier "im militärischen Interesse", d. h. zum Schutz der schon er¬
wähnten Landkonzessionen, im Mürz 1882 die Annektierung dieser marokkanische
Stämme forderte, wurde angeordnet, daß diese in den offiziellen Akten unter
andern Benennungen einzutragen seien, "um so alle etwaigen Reklamationen
als unbegründet erscheinen zu lassen". Vergeblich protestierte der Sultan
gegen eine solche Auslegung der Verträge: man drohte mit Gewaltmaßregeln!
Ähnlich war das Vorgehn, als es 1902 galt, die Oasen und Brunnen von
Menghub zu besetze", und erst kürzlich hat der Maghzen Frankreich offiziell
beschuldigt, den Anlaß zu den Unruhen im Süden Marokkos gegeben zu haben.
Er habe Kenntnis von den Verhandlungen, die von französischer Seite mit
den Grenzstümmen geführt worden seien, und die ihnen nur die Wahl zwischen
Ergebung oder Verlust ihres Gebiets ließen. Die den Kabylen gegebne
Bedenkzeit werde von diesen vielfach zu Vertcidigungsvorbereitungen benützt.
Helfen wird ihnen dies natürlich nichts. Die Franzosen werden sich durch
die Proteste eines innerlich geschwächten, ohnmächtigen Staatswesens in ihrer
Gewaltpolitik nicht stören lassen. So verweigerte man seit Jahrzehnten in
Paris die Festlegung einer Grenze, deren Verletzung man den Marokkanern
doch immer wieder zum Vorwurf machte, und über deren Nichtbeachtung die
französische Diplomatie und die Pariser Presse nicht genug klagen konnten,
um so Frankreichs Anrecht auf die Oberherrschaft über das ganze mauretanische
Reich zu begründen. Besonders ans dem Gebiete der Kolonialbestrebungen


Zur Geschichte der algerisch-marokkanischen Grenze

ersten Falle meist als „Strafexpeditionen" hingestellt werden. Das Verfahren
aber ist bei solchen Gelegenheiten auf beiden Seiten dasselbe räuberische und
barbarische.

Obgleich diese „Selbsthilfe" durch räuberische Einfülle in fremdes Gebiet
gegen die elementarsten Begriffe des Völkerrechts verstößt, dabei der den
Gegnern zugefügte Schaden oft in keinerlei Verhältnis zu dem ursprünglichen,
geringfügigen Anlaß zum Raubzuge steht, wurden außerdem jedesmal in Fez
hohe Entschädigungen erpreßt, während man doch sonst dem Sultan jede
Autorität im Süden bestreitet. Auch wenn die französischen Schutzbefohlnen
die Fehde zuerst verschuldet haben, gibt nach einigem Sträuben die sich ihrer
Schwäche bewußte marokkanische Regierung (Maghzen) immer nach, da sie
Ruhe um jeden Preis haben will. Jede solche auf diplomatischen? Wege er¬
preßte Kabinettsorder — „Aar-el-Scherif" — erzeugt aber Erbitterung unter
den Eingebornen und veranlaßt oft genug neue Nefras, die von den Franzosen
zu weiter» Razzias benutzt werden.

An die berüchtigten Reunionskammern, wie sie gallischer Übermut einst
im Elsaß gegen das innerlich zerrüttete heilige römische Reich deutscher Nation
w Tätigkeit treten ließ, erinnert ein vielfach zur Wegnahme marokkanischen
Gebiets angewandtes Verfahren, wonach man den zu annektierenden Stämmen
kurzerhand andre Namen gab. So zum Beispiel bei den zahlreiche Einzel-
tribus umfassenden Stammverbänden der Beni-Amur und der Dschemba. Als
General Saussier „im militärischen Interesse", d. h. zum Schutz der schon er¬
wähnten Landkonzessionen, im Mürz 1882 die Annektierung dieser marokkanische
Stämme forderte, wurde angeordnet, daß diese in den offiziellen Akten unter
andern Benennungen einzutragen seien, „um so alle etwaigen Reklamationen
als unbegründet erscheinen zu lassen". Vergeblich protestierte der Sultan
gegen eine solche Auslegung der Verträge: man drohte mit Gewaltmaßregeln!
Ähnlich war das Vorgehn, als es 1902 galt, die Oasen und Brunnen von
Menghub zu besetze«, und erst kürzlich hat der Maghzen Frankreich offiziell
beschuldigt, den Anlaß zu den Unruhen im Süden Marokkos gegeben zu haben.
Er habe Kenntnis von den Verhandlungen, die von französischer Seite mit
den Grenzstümmen geführt worden seien, und die ihnen nur die Wahl zwischen
Ergebung oder Verlust ihres Gebiets ließen. Die den Kabylen gegebne
Bedenkzeit werde von diesen vielfach zu Vertcidigungsvorbereitungen benützt.
Helfen wird ihnen dies natürlich nichts. Die Franzosen werden sich durch
die Proteste eines innerlich geschwächten, ohnmächtigen Staatswesens in ihrer
Gewaltpolitik nicht stören lassen. So verweigerte man seit Jahrzehnten in
Paris die Festlegung einer Grenze, deren Verletzung man den Marokkanern
doch immer wieder zum Vorwurf machte, und über deren Nichtbeachtung die
französische Diplomatie und die Pariser Presse nicht genug klagen konnten,
um so Frankreichs Anrecht auf die Oberherrschaft über das ganze mauretanische
Reich zu begründen. Besonders ans dem Gebiete der Kolonialbestrebungen


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[0641] Zur Geschichte der algerisch-marokkanischen Grenze ersten Falle meist als „Strafexpeditionen" hingestellt werden. Das Verfahren aber ist bei solchen Gelegenheiten auf beiden Seiten dasselbe räuberische und barbarische. Obgleich diese „Selbsthilfe" durch räuberische Einfülle in fremdes Gebiet gegen die elementarsten Begriffe des Völkerrechts verstößt, dabei der den Gegnern zugefügte Schaden oft in keinerlei Verhältnis zu dem ursprünglichen, geringfügigen Anlaß zum Raubzuge steht, wurden außerdem jedesmal in Fez hohe Entschädigungen erpreßt, während man doch sonst dem Sultan jede Autorität im Süden bestreitet. Auch wenn die französischen Schutzbefohlnen die Fehde zuerst verschuldet haben, gibt nach einigem Sträuben die sich ihrer Schwäche bewußte marokkanische Regierung (Maghzen) immer nach, da sie Ruhe um jeden Preis haben will. Jede solche auf diplomatischen? Wege er¬ preßte Kabinettsorder — „Aar-el-Scherif" — erzeugt aber Erbitterung unter den Eingebornen und veranlaßt oft genug neue Nefras, die von den Franzosen zu weiter» Razzias benutzt werden. An die berüchtigten Reunionskammern, wie sie gallischer Übermut einst im Elsaß gegen das innerlich zerrüttete heilige römische Reich deutscher Nation w Tätigkeit treten ließ, erinnert ein vielfach zur Wegnahme marokkanischen Gebiets angewandtes Verfahren, wonach man den zu annektierenden Stämmen kurzerhand andre Namen gab. So zum Beispiel bei den zahlreiche Einzel- tribus umfassenden Stammverbänden der Beni-Amur und der Dschemba. Als General Saussier „im militärischen Interesse", d. h. zum Schutz der schon er¬ wähnten Landkonzessionen, im Mürz 1882 die Annektierung dieser marokkanische Stämme forderte, wurde angeordnet, daß diese in den offiziellen Akten unter andern Benennungen einzutragen seien, „um so alle etwaigen Reklamationen als unbegründet erscheinen zu lassen". Vergeblich protestierte der Sultan gegen eine solche Auslegung der Verträge: man drohte mit Gewaltmaßregeln! Ähnlich war das Vorgehn, als es 1902 galt, die Oasen und Brunnen von Menghub zu besetze«, und erst kürzlich hat der Maghzen Frankreich offiziell beschuldigt, den Anlaß zu den Unruhen im Süden Marokkos gegeben zu haben. Er habe Kenntnis von den Verhandlungen, die von französischer Seite mit den Grenzstümmen geführt worden seien, und die ihnen nur die Wahl zwischen Ergebung oder Verlust ihres Gebiets ließen. Die den Kabylen gegebne Bedenkzeit werde von diesen vielfach zu Vertcidigungsvorbereitungen benützt. Helfen wird ihnen dies natürlich nichts. Die Franzosen werden sich durch die Proteste eines innerlich geschwächten, ohnmächtigen Staatswesens in ihrer Gewaltpolitik nicht stören lassen. So verweigerte man seit Jahrzehnten in Paris die Festlegung einer Grenze, deren Verletzung man den Marokkanern doch immer wieder zum Vorwurf machte, und über deren Nichtbeachtung die französische Diplomatie und die Pariser Presse nicht genug klagen konnten, um so Frankreichs Anrecht auf die Oberherrschaft über das ganze mauretanische Reich zu begründen. Besonders ans dem Gebiete der Kolonialbestrebungen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/641>, abgerufen am 15.05.2024.