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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

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nationalen Forderung "Nein" zu sagen. Dadurch gab es sich noch einmal eine
Blöße. Und Fürst Bülow hat noch einmal geschlagen nud den Reichstag aufge¬
löst. Das weitere ist Sache der Nation. Gelingen und Mißlingen liegt bei ihr!

Das Ziel ist, im neuen Reichstag eine Majorität aus der Rechten und
der bürgerlichen Linken zu bilden. Dieses Ziel ist erreichbar, wenn sowohl Kon¬
servative als Liberale für ihr Verhalten sowohl bei den Wahlen als im Reichstag
die notwendigen und naheliegenden Konsequenzen ziehen. Das neue Ziel stellt
beide Parteien vor eine neue Situation. Und beide Parteien haben sich neu
zu orientieren.

Die Konservativen werden nicht gegen die wesentlichen ihrer Interessen noch
gegen ihre großen Traditionen von nationalem Anstand und politischem Sinn ver¬
stoßen, wenn sie lieber den Liberalen als dem Zentrum entgegenkommen. Vielleicht
werden sich in ihrer Mitte Stimmen erheben, Stimmen, denen es nicht darauf
ankommt, Politik, sondern Geschäfte zu machen. Schon haben die Organe des
Zentrums den Konservativen zugerufen, daß nur das Zentrum ihre Wirtschafts¬
politik machen könne. Diesen Lockungen nicht Folge zu leisten, wird von der
politischen Begabung der konservativen Führer verlangt werden. Ist die Ab¬
hängigkeit der Regierung vom Zentrum wirklich im konservativen Interesse,
vorausgesetzt, daß dieses Interesse richtig verstanden wird? In einem, wenn
wir nicht irren, 1853 geschriebnen Aufsatze hat Lagarde gesagt, das Wort
konservativ bedeute eigentlich eine Frage. Es käme alles darauf an, zu dem
Zeitwort konservieren den richtigen Akkusativ zu finden. Dieser Akkusativ ist
aber nicht: das Bestehende, sondern das, was von dem Bestehenden lebenskräftig
ist, zu dem eigentümlichen Leben und natürlichen Wachstum der Nation gehört.
Vergleicht man das Leben des Staates mit dem des menschlichen Körpers: nicht
das bestehende, nicht die Gestalt, in der das Kind geboren wird, ist zu konser¬
vieren -- nicht das Unverdauliche von der Nahrung, die der Mensch zu sich
nimmt, sondern alles, was zum natürlichen Wachstum des Körpers beiträgt,
das gesunde und lebensfähige. Die Art von Rückschrittlichkeit, die das Zentrum
kennzeichnet, ist sicherlich nicht konservativ. Konservativismus als Weltanschauung
ist die natürliche Ergänzung des Liberalismus. Er wacht, daß sich die Entwicklung
in der Bahn natürlichen geraden und stetigen Wachstums, nicht in gewagten
Seitensprüngen, in gefährlichem Gegensatz zu Tradition und Geschichte befindet.
Eine gesunde Nation muß beides haben: Konservative und Liberale. Wenn sie
nicht auch konservativ empfindet, so ist ihre Geschichte nichts wert.

Mögen die Konservativen den richtigen Akkusativ finden und begreifen, daß
es anständig und klug ist, ein Zusammenarbeiten mit den Liberalen zu ermög¬
lichen.

Die Liberalen müssen freilich ihrerseits aus der neue" Situation die richtigen
Konsequenzen ziehen. Sie müssen ausrechnen, was im gegenwärtigen Augen¬
blicke möglich und erreichbar ist. Sie müssen statt Prinzipien politische Möglich¬
keiten ins Auge fassen. Sie sollen weder von der Negierung noch von den
Konservativen das Unmögliche verlangen. Nur Kinder begehren alles auf
einmal. Es ist kein Verrat, wenn man sich bescheidet. Verharren die Liberalen


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nationalen Forderung „Nein" zu sagen. Dadurch gab es sich noch einmal eine
Blöße. Und Fürst Bülow hat noch einmal geschlagen nud den Reichstag aufge¬
löst. Das weitere ist Sache der Nation. Gelingen und Mißlingen liegt bei ihr!

Das Ziel ist, im neuen Reichstag eine Majorität aus der Rechten und
der bürgerlichen Linken zu bilden. Dieses Ziel ist erreichbar, wenn sowohl Kon¬
servative als Liberale für ihr Verhalten sowohl bei den Wahlen als im Reichstag
die notwendigen und naheliegenden Konsequenzen ziehen. Das neue Ziel stellt
beide Parteien vor eine neue Situation. Und beide Parteien haben sich neu
zu orientieren.

Die Konservativen werden nicht gegen die wesentlichen ihrer Interessen noch
gegen ihre großen Traditionen von nationalem Anstand und politischem Sinn ver¬
stoßen, wenn sie lieber den Liberalen als dem Zentrum entgegenkommen. Vielleicht
werden sich in ihrer Mitte Stimmen erheben, Stimmen, denen es nicht darauf
ankommt, Politik, sondern Geschäfte zu machen. Schon haben die Organe des
Zentrums den Konservativen zugerufen, daß nur das Zentrum ihre Wirtschafts¬
politik machen könne. Diesen Lockungen nicht Folge zu leisten, wird von der
politischen Begabung der konservativen Führer verlangt werden. Ist die Ab¬
hängigkeit der Regierung vom Zentrum wirklich im konservativen Interesse,
vorausgesetzt, daß dieses Interesse richtig verstanden wird? In einem, wenn
wir nicht irren, 1853 geschriebnen Aufsatze hat Lagarde gesagt, das Wort
konservativ bedeute eigentlich eine Frage. Es käme alles darauf an, zu dem
Zeitwort konservieren den richtigen Akkusativ zu finden. Dieser Akkusativ ist
aber nicht: das Bestehende, sondern das, was von dem Bestehenden lebenskräftig
ist, zu dem eigentümlichen Leben und natürlichen Wachstum der Nation gehört.
Vergleicht man das Leben des Staates mit dem des menschlichen Körpers: nicht
das bestehende, nicht die Gestalt, in der das Kind geboren wird, ist zu konser¬
vieren — nicht das Unverdauliche von der Nahrung, die der Mensch zu sich
nimmt, sondern alles, was zum natürlichen Wachstum des Körpers beiträgt,
das gesunde und lebensfähige. Die Art von Rückschrittlichkeit, die das Zentrum
kennzeichnet, ist sicherlich nicht konservativ. Konservativismus als Weltanschauung
ist die natürliche Ergänzung des Liberalismus. Er wacht, daß sich die Entwicklung
in der Bahn natürlichen geraden und stetigen Wachstums, nicht in gewagten
Seitensprüngen, in gefährlichem Gegensatz zu Tradition und Geschichte befindet.
Eine gesunde Nation muß beides haben: Konservative und Liberale. Wenn sie
nicht auch konservativ empfindet, so ist ihre Geschichte nichts wert.

Mögen die Konservativen den richtigen Akkusativ finden und begreifen, daß
es anständig und klug ist, ein Zusammenarbeiten mit den Liberalen zu ermög¬
lichen.

Die Liberalen müssen freilich ihrerseits aus der neue» Situation die richtigen
Konsequenzen ziehen. Sie müssen ausrechnen, was im gegenwärtigen Augen¬
blicke möglich und erreichbar ist. Sie müssen statt Prinzipien politische Möglich¬
keiten ins Auge fassen. Sie sollen weder von der Negierung noch von den
Konservativen das Unmögliche verlangen. Nur Kinder begehren alles auf
einmal. Es ist kein Verrat, wenn man sich bescheidet. Verharren die Liberalen


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[0692] Lin Mahnruf nationalen Forderung „Nein" zu sagen. Dadurch gab es sich noch einmal eine Blöße. Und Fürst Bülow hat noch einmal geschlagen nud den Reichstag aufge¬ löst. Das weitere ist Sache der Nation. Gelingen und Mißlingen liegt bei ihr! Das Ziel ist, im neuen Reichstag eine Majorität aus der Rechten und der bürgerlichen Linken zu bilden. Dieses Ziel ist erreichbar, wenn sowohl Kon¬ servative als Liberale für ihr Verhalten sowohl bei den Wahlen als im Reichstag die notwendigen und naheliegenden Konsequenzen ziehen. Das neue Ziel stellt beide Parteien vor eine neue Situation. Und beide Parteien haben sich neu zu orientieren. Die Konservativen werden nicht gegen die wesentlichen ihrer Interessen noch gegen ihre großen Traditionen von nationalem Anstand und politischem Sinn ver¬ stoßen, wenn sie lieber den Liberalen als dem Zentrum entgegenkommen. Vielleicht werden sich in ihrer Mitte Stimmen erheben, Stimmen, denen es nicht darauf ankommt, Politik, sondern Geschäfte zu machen. Schon haben die Organe des Zentrums den Konservativen zugerufen, daß nur das Zentrum ihre Wirtschafts¬ politik machen könne. Diesen Lockungen nicht Folge zu leisten, wird von der politischen Begabung der konservativen Führer verlangt werden. Ist die Ab¬ hängigkeit der Regierung vom Zentrum wirklich im konservativen Interesse, vorausgesetzt, daß dieses Interesse richtig verstanden wird? In einem, wenn wir nicht irren, 1853 geschriebnen Aufsatze hat Lagarde gesagt, das Wort konservativ bedeute eigentlich eine Frage. Es käme alles darauf an, zu dem Zeitwort konservieren den richtigen Akkusativ zu finden. Dieser Akkusativ ist aber nicht: das Bestehende, sondern das, was von dem Bestehenden lebenskräftig ist, zu dem eigentümlichen Leben und natürlichen Wachstum der Nation gehört. Vergleicht man das Leben des Staates mit dem des menschlichen Körpers: nicht das bestehende, nicht die Gestalt, in der das Kind geboren wird, ist zu konser¬ vieren — nicht das Unverdauliche von der Nahrung, die der Mensch zu sich nimmt, sondern alles, was zum natürlichen Wachstum des Körpers beiträgt, das gesunde und lebensfähige. Die Art von Rückschrittlichkeit, die das Zentrum kennzeichnet, ist sicherlich nicht konservativ. Konservativismus als Weltanschauung ist die natürliche Ergänzung des Liberalismus. Er wacht, daß sich die Entwicklung in der Bahn natürlichen geraden und stetigen Wachstums, nicht in gewagten Seitensprüngen, in gefährlichem Gegensatz zu Tradition und Geschichte befindet. Eine gesunde Nation muß beides haben: Konservative und Liberale. Wenn sie nicht auch konservativ empfindet, so ist ihre Geschichte nichts wert. Mögen die Konservativen den richtigen Akkusativ finden und begreifen, daß es anständig und klug ist, ein Zusammenarbeiten mit den Liberalen zu ermög¬ lichen. Die Liberalen müssen freilich ihrerseits aus der neue» Situation die richtigen Konsequenzen ziehen. Sie müssen ausrechnen, was im gegenwärtigen Augen¬ blicke möglich und erreichbar ist. Sie müssen statt Prinzipien politische Möglich¬ keiten ins Auge fassen. Sie sollen weder von der Negierung noch von den Konservativen das Unmögliche verlangen. Nur Kinder begehren alles auf einmal. Es ist kein Verrat, wenn man sich bescheidet. Verharren die Liberalen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/692>, abgerufen am 15.05.2024.