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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

nach einer andern Richtung hin dar. Baumeister Solneß zeigt es als politische,
Borkman als wirtschaftliche, Klein Eyolf als Geistesmacht. Die Helden, in denen
sich diese drei Mächte verkörpern, scheitern mit ihren Bestrebungen, weil sie sich
an den untern Klassen und am Weibe versündigen. Der zweiten Art Versündigung
ist besonders noch der Epilog gewidmet. Irene ist "ein greller Hinweis ans die
Auswüchse, die gerade die gewaltsame Unterdrückung des Trieblebens im Weibe
gezeitigt hat, eine blutige Satire auf die moralischen Erfolge des von der Gesellschafts¬
ordnung im Namen der Gesittung an ihm geübten widernatürlichen Zwanges". Und
die Diakonissin, die der Geistesgestörten als Wächterin beigegeben ist, die bedeutet
"die gefürchtete Wächterin des Weibes, die unerbittliche, jede freiere natürliche
Regung in ihr knebelnde, nonnenhafte Sitte". (Wir wissen nicht, ob die norwegischen
Frauen uonuenhaft leben; bei unsern deutschen ist von Nonnenhaftigkeit keine Spur
zu bemerken.) Demnach hat die Revolution oder Reform, die den Menschen aus der
herrschenden christlich-asketischen Kultur in eine glücklichere Zeit der Freiheit und der
Humanität (die beide jedoch mit dem Bewußtsein der Verantwortlichkeit verbunden
sein werden) hineinführen soll, mit der Befreiung des Weibes zu beginnen. Möglich,
daß Ibsen seine Dramen so gemeint hat. Wir jedoch vermögen weder in den
Helden der Trilogie richtig gezeichnete Typen unsers Bürgertums noch in Irene
das Opfer der vorgeblichen Tyrannei der Sitte zu sehen. Wir leugnen das Be¬
stehen dieser Tyrannei, sofern darunter etwas andres verstanden wird als die be¬
stehende Familienordnung, die das Weib freilich einschränkt, aber für gewöhnlich
nicht mehr, als zu seinem Schutze nötig ist. Frei, sodaß er ungestraft allen seinen
Gelüsten nachgeben könnte, ist auch der Mann nicht, und es gibt überhaupt keinen
Menschen, der nicht Beschränkungen unterläge, die er bei einer gewissen Stimmung
als Tyrannei empfindet. Hatte eine Frau den Trieb und die Fähigkeit, über ihren
Familienkreis hinaus zu wirken, so ist sie in der ganzen christlichen Ära niemals
daran gehindert gewesen. Die einzige Reform, die der allgemeine Nutzen und die
Gerechtigkeit fordern, besteht darin, daß den vielen Frauen, die heute gezwungen sind,
sich in einem Berufe ihr Brot zu verdienen, weder die Wege zur Ausbildung für
den Beruf versperrt noch das Koalitionsrecht und das Versammlungsrecht ver¬
weigert werden; aber daß heute so viele Frauen in diese Zwangslage versetzt
werden, halten wir für kein Glück und am wenigsten für eine Befreiung, die Ver¬
allgemeinerung der Berufstätigkeit der Frauen mit der Auflösung der Familie als
unvermeidlicher Wirkung nicht für ein Zukunftsideal, sondern für eine Gefahr.




Maßgebliches und Unmaßgebliches

nach einer andern Richtung hin dar. Baumeister Solneß zeigt es als politische,
Borkman als wirtschaftliche, Klein Eyolf als Geistesmacht. Die Helden, in denen
sich diese drei Mächte verkörpern, scheitern mit ihren Bestrebungen, weil sie sich
an den untern Klassen und am Weibe versündigen. Der zweiten Art Versündigung
ist besonders noch der Epilog gewidmet. Irene ist „ein greller Hinweis ans die
Auswüchse, die gerade die gewaltsame Unterdrückung des Trieblebens im Weibe
gezeitigt hat, eine blutige Satire auf die moralischen Erfolge des von der Gesellschafts¬
ordnung im Namen der Gesittung an ihm geübten widernatürlichen Zwanges". Und
die Diakonissin, die der Geistesgestörten als Wächterin beigegeben ist, die bedeutet
„die gefürchtete Wächterin des Weibes, die unerbittliche, jede freiere natürliche
Regung in ihr knebelnde, nonnenhafte Sitte". (Wir wissen nicht, ob die norwegischen
Frauen uonuenhaft leben; bei unsern deutschen ist von Nonnenhaftigkeit keine Spur
zu bemerken.) Demnach hat die Revolution oder Reform, die den Menschen aus der
herrschenden christlich-asketischen Kultur in eine glücklichere Zeit der Freiheit und der
Humanität (die beide jedoch mit dem Bewußtsein der Verantwortlichkeit verbunden
sein werden) hineinführen soll, mit der Befreiung des Weibes zu beginnen. Möglich,
daß Ibsen seine Dramen so gemeint hat. Wir jedoch vermögen weder in den
Helden der Trilogie richtig gezeichnete Typen unsers Bürgertums noch in Irene
das Opfer der vorgeblichen Tyrannei der Sitte zu sehen. Wir leugnen das Be¬
stehen dieser Tyrannei, sofern darunter etwas andres verstanden wird als die be¬
stehende Familienordnung, die das Weib freilich einschränkt, aber für gewöhnlich
nicht mehr, als zu seinem Schutze nötig ist. Frei, sodaß er ungestraft allen seinen
Gelüsten nachgeben könnte, ist auch der Mann nicht, und es gibt überhaupt keinen
Menschen, der nicht Beschränkungen unterläge, die er bei einer gewissen Stimmung
als Tyrannei empfindet. Hatte eine Frau den Trieb und die Fähigkeit, über ihren
Familienkreis hinaus zu wirken, so ist sie in der ganzen christlichen Ära niemals
daran gehindert gewesen. Die einzige Reform, die der allgemeine Nutzen und die
Gerechtigkeit fordern, besteht darin, daß den vielen Frauen, die heute gezwungen sind,
sich in einem Berufe ihr Brot zu verdienen, weder die Wege zur Ausbildung für
den Beruf versperrt noch das Koalitionsrecht und das Versammlungsrecht ver¬
weigert werden; aber daß heute so viele Frauen in diese Zwangslage versetzt
werden, halten wir für kein Glück und am wenigsten für eine Befreiung, die Ver¬
allgemeinerung der Berufstätigkeit der Frauen mit der Auflösung der Familie als
unvermeidlicher Wirkung nicht für ein Zukunftsideal, sondern für eine Gefahr.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/72>, abgerufen am 15.05.2024.