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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

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Volkstümlichkeit der Gesetze und vertrauen zur Rechtspflege

einzelne Materien und Vorschriften als undeutsch, ungeschickt, verfehlt be¬
zeichnen -- das ist nicht schwer. Der Gesetzgeber hat schwierige Aufgaben zu
lösen, er muß nicht nur einen durchdringenden Verstand und ein umfassendes
positives Wissen auf dem gesamten juristischen Gebiete haben, sondern auch
mit der historischen Entwicklung der in Frage kommenden Rechtsgebilde und
ihrer praktischen Ausgestaltung im heutigen Leben vertraut sein; er muß Jurist
und Historiker, Nationalökonom und Sozialpolitiker in einer Person sein.
Nur so gearteten, in jeder Beziehung durchgebildeten, zugleich gelehrten und
modernen Persönlichkeiten kann ein solches Gesetzes- und Kulturwerk, wie es
das Bürgerliche Gesetzbuch für das Deutsche Reich ist, gelingen. Die Auf¬
stellung einiger weniger Leitsätze mochte wohl in grauer Vorzeit, die Zusammen¬
stellung schlichter Rechtsregeln, die auf den Einzelfall zugeschnitten waren,
konnte noch vor einigen hundert Jahren genügen. Heute wäre bei der enormen
Entwicklung von Handel und Wandel, Industrie und Technik, bei der fabel¬
haften Steigerung der Lebensbedürfnisse jeder Art ein solches Gesetzbuch un¬
brauchbar. Die Millionen von verschieden liegenden Füllen, die das prak¬
tische Leben in jedem Augenblick erzeugt, können unmöglich vorausgesehen
und bei Festlegung der Gesetzesnormen berücksichtigt werden; Tag für Tag
spottet das wirkliche Leben aller menschlichen Voraussicht und Phantasie!
Darum gilt es für die moderne Gesetzgebung, aus Tausenden von einigermaßen
gleichartigen Rechtsfällen und Rechtssützen einen Obersatz, sozusagen das
juristische Prinzip, zu formen, der die Hauptgesichtspunkte festlegend und die
allen Füllen dieser und ähnlicher Art gemeinsamen charakteristischen Merkmale
herausschälend gewissermaßen den einen Hut darstellt, unter den das bunte
Gewimmel zu bringen ist. Dabei ist die geschichtliche Entwicklung des so ge¬
wonnenen Rechtsgedankens ebensowenig aus dem Auge zu verlieren wie die
heutige Anschauungsweise der verschiednen Völkergruppen innerhalb des deutschen
Vaterlandes und die Ansprüche des modernen Verkehrs; unser heutiges Recht
soll ein soziales Recht sein! Volkstümlichkeit kann keiner hervorragenden wissen¬
schaftlichen Schöpfung eigen sein; sie kann nicht "gemeinverständlich" sein, weil
die Gedanken und die Sprache hochentwickelter Geistesbildung immer nnr von
solchen verstanden werden wird, die wenigstens annähernd auf derselben geistigen
und wissenschaftlichen Stufe stehn wie die Verfasser der Geisteswerke. Wer
nicht mit genügender fachwissenschaftlicher Vorbildung und mit der Fähigkeit
ausgestattet ist, sich in den Gedankengang des Gesetzgebers zu versetzen, kann
deshalb auch nicht die Schwierigkeiten eines Gesetzgebungswerks voll ermessen
und es ohne weiteres verstehn. Aber auch wenn der einsichtige und gebildete
Laie die einzelne Gesetzesvorschrift ihrem Sinne und ihrer Tragweite nach
begreift -- von der Verwirklichung der Forderung, daß sich jedermann aus
dem Gesetzbuche, das er nur aufzuschlagen braucht, sofort über den ihn an¬
gehenden Spezialfall soll unterrichten können, ist man da immer noch himmel¬
weit entfernt. Es kann eben nicht für jeden der Tausende und Abertausende


Volkstümlichkeit der Gesetze und vertrauen zur Rechtspflege

einzelne Materien und Vorschriften als undeutsch, ungeschickt, verfehlt be¬
zeichnen — das ist nicht schwer. Der Gesetzgeber hat schwierige Aufgaben zu
lösen, er muß nicht nur einen durchdringenden Verstand und ein umfassendes
positives Wissen auf dem gesamten juristischen Gebiete haben, sondern auch
mit der historischen Entwicklung der in Frage kommenden Rechtsgebilde und
ihrer praktischen Ausgestaltung im heutigen Leben vertraut sein; er muß Jurist
und Historiker, Nationalökonom und Sozialpolitiker in einer Person sein.
Nur so gearteten, in jeder Beziehung durchgebildeten, zugleich gelehrten und
modernen Persönlichkeiten kann ein solches Gesetzes- und Kulturwerk, wie es
das Bürgerliche Gesetzbuch für das Deutsche Reich ist, gelingen. Die Auf¬
stellung einiger weniger Leitsätze mochte wohl in grauer Vorzeit, die Zusammen¬
stellung schlichter Rechtsregeln, die auf den Einzelfall zugeschnitten waren,
konnte noch vor einigen hundert Jahren genügen. Heute wäre bei der enormen
Entwicklung von Handel und Wandel, Industrie und Technik, bei der fabel¬
haften Steigerung der Lebensbedürfnisse jeder Art ein solches Gesetzbuch un¬
brauchbar. Die Millionen von verschieden liegenden Füllen, die das prak¬
tische Leben in jedem Augenblick erzeugt, können unmöglich vorausgesehen
und bei Festlegung der Gesetzesnormen berücksichtigt werden; Tag für Tag
spottet das wirkliche Leben aller menschlichen Voraussicht und Phantasie!
Darum gilt es für die moderne Gesetzgebung, aus Tausenden von einigermaßen
gleichartigen Rechtsfällen und Rechtssützen einen Obersatz, sozusagen das
juristische Prinzip, zu formen, der die Hauptgesichtspunkte festlegend und die
allen Füllen dieser und ähnlicher Art gemeinsamen charakteristischen Merkmale
herausschälend gewissermaßen den einen Hut darstellt, unter den das bunte
Gewimmel zu bringen ist. Dabei ist die geschichtliche Entwicklung des so ge¬
wonnenen Rechtsgedankens ebensowenig aus dem Auge zu verlieren wie die
heutige Anschauungsweise der verschiednen Völkergruppen innerhalb des deutschen
Vaterlandes und die Ansprüche des modernen Verkehrs; unser heutiges Recht
soll ein soziales Recht sein! Volkstümlichkeit kann keiner hervorragenden wissen¬
schaftlichen Schöpfung eigen sein; sie kann nicht „gemeinverständlich" sein, weil
die Gedanken und die Sprache hochentwickelter Geistesbildung immer nnr von
solchen verstanden werden wird, die wenigstens annähernd auf derselben geistigen
und wissenschaftlichen Stufe stehn wie die Verfasser der Geisteswerke. Wer
nicht mit genügender fachwissenschaftlicher Vorbildung und mit der Fähigkeit
ausgestattet ist, sich in den Gedankengang des Gesetzgebers zu versetzen, kann
deshalb auch nicht die Schwierigkeiten eines Gesetzgebungswerks voll ermessen
und es ohne weiteres verstehn. Aber auch wenn der einsichtige und gebildete
Laie die einzelne Gesetzesvorschrift ihrem Sinne und ihrer Tragweite nach
begreift — von der Verwirklichung der Forderung, daß sich jedermann aus
dem Gesetzbuche, das er nur aufzuschlagen braucht, sofort über den ihn an¬
gehenden Spezialfall soll unterrichten können, ist man da immer noch himmel¬
weit entfernt. Es kann eben nicht für jeden der Tausende und Abertausende


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[0091] Volkstümlichkeit der Gesetze und vertrauen zur Rechtspflege einzelne Materien und Vorschriften als undeutsch, ungeschickt, verfehlt be¬ zeichnen — das ist nicht schwer. Der Gesetzgeber hat schwierige Aufgaben zu lösen, er muß nicht nur einen durchdringenden Verstand und ein umfassendes positives Wissen auf dem gesamten juristischen Gebiete haben, sondern auch mit der historischen Entwicklung der in Frage kommenden Rechtsgebilde und ihrer praktischen Ausgestaltung im heutigen Leben vertraut sein; er muß Jurist und Historiker, Nationalökonom und Sozialpolitiker in einer Person sein. Nur so gearteten, in jeder Beziehung durchgebildeten, zugleich gelehrten und modernen Persönlichkeiten kann ein solches Gesetzes- und Kulturwerk, wie es das Bürgerliche Gesetzbuch für das Deutsche Reich ist, gelingen. Die Auf¬ stellung einiger weniger Leitsätze mochte wohl in grauer Vorzeit, die Zusammen¬ stellung schlichter Rechtsregeln, die auf den Einzelfall zugeschnitten waren, konnte noch vor einigen hundert Jahren genügen. Heute wäre bei der enormen Entwicklung von Handel und Wandel, Industrie und Technik, bei der fabel¬ haften Steigerung der Lebensbedürfnisse jeder Art ein solches Gesetzbuch un¬ brauchbar. Die Millionen von verschieden liegenden Füllen, die das prak¬ tische Leben in jedem Augenblick erzeugt, können unmöglich vorausgesehen und bei Festlegung der Gesetzesnormen berücksichtigt werden; Tag für Tag spottet das wirkliche Leben aller menschlichen Voraussicht und Phantasie! Darum gilt es für die moderne Gesetzgebung, aus Tausenden von einigermaßen gleichartigen Rechtsfällen und Rechtssützen einen Obersatz, sozusagen das juristische Prinzip, zu formen, der die Hauptgesichtspunkte festlegend und die allen Füllen dieser und ähnlicher Art gemeinsamen charakteristischen Merkmale herausschälend gewissermaßen den einen Hut darstellt, unter den das bunte Gewimmel zu bringen ist. Dabei ist die geschichtliche Entwicklung des so ge¬ wonnenen Rechtsgedankens ebensowenig aus dem Auge zu verlieren wie die heutige Anschauungsweise der verschiednen Völkergruppen innerhalb des deutschen Vaterlandes und die Ansprüche des modernen Verkehrs; unser heutiges Recht soll ein soziales Recht sein! Volkstümlichkeit kann keiner hervorragenden wissen¬ schaftlichen Schöpfung eigen sein; sie kann nicht „gemeinverständlich" sein, weil die Gedanken und die Sprache hochentwickelter Geistesbildung immer nnr von solchen verstanden werden wird, die wenigstens annähernd auf derselben geistigen und wissenschaftlichen Stufe stehn wie die Verfasser der Geisteswerke. Wer nicht mit genügender fachwissenschaftlicher Vorbildung und mit der Fähigkeit ausgestattet ist, sich in den Gedankengang des Gesetzgebers zu versetzen, kann deshalb auch nicht die Schwierigkeiten eines Gesetzgebungswerks voll ermessen und es ohne weiteres verstehn. Aber auch wenn der einsichtige und gebildete Laie die einzelne Gesetzesvorschrift ihrem Sinne und ihrer Tragweite nach begreift — von der Verwirklichung der Forderung, daß sich jedermann aus dem Gesetzbuche, das er nur aufzuschlagen braucht, sofort über den ihn an¬ gehenden Spezialfall soll unterrichten können, ist man da immer noch himmel¬ weit entfernt. Es kann eben nicht für jeden der Tausende und Abertausende

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/91>, abgerufen am 15.05.2024.