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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

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Volkstümlichkeit der Gesetze und vertrauen zur Rechtspflege

nicht klar und richtig erscheinen können. Er muß aber in ständiger enger
Fühlung mit dem praktischen Leben bleiben und Land und Leute kennen; er
muß seiner wichtigen sozialen Aufgaben eingedenk sein und darf bei allem be¬
rechtigten Standesbewußtsein auch nicht einen Augenblick vergessen, daß er
ein Glied der armen schwer ringenden Menschheit ist, der zu dienen, zu raten
und zu helfen mit seiner Kenntnis und Machtfülle seine edelste und schönste
Aufgabe ist.

Die Mehrzahl unsrer deutschen Richter, das kann freimütig ausgesprochen
werden, faßt ihre richterliche Stellung heute so auf und strebt unablässig danach,
sich in allen den genannten Richtungen zu vervollkommnen und den gewaltigen
Anforderungen, die die Gegenwart an den Richterstand stellt, gerecht zu werden.
Von dem weniger glücklichen Wirken vereinzelter nicht auf der Höhe ihres
Berufes stehender Richter ist keine Gefahr zu besorgen, um so weniger als in
den obern Instanzen überall ein Kollegium, also eine Mehrheit von Richtern,
die einander korrigieren und ergänzen, tütig ist, und gegen die Entscheidungen
der Untergeriehte Rechtsmittel aller Art zum Zwecke der Nachprüfung vor der
übergeordneten Instanz gegeben sind.

Hier kann also wohl für keinen Einsichtigen ein Grund für eine wirkliche
Verstimmung, für eine Abnahme des Vertrauens zur Rechtspflege liegen.

Die wahre Ursache ist eine andre: der Mangel an Kenntnissen in allen
juristischen Dingen bei den Laien, die Vorstellung, daß der Juristenstand eine
volksfeindliche Kaste, seine Wissenschaft eine Geheimkunde sei, das instinktive
Mißtrauen gegen alles Unbekannte! Nach dem alten Satze: "Der Wissende ist
duldsamer als der Nichtwissende" sollte deshalb vor allem in gewissen Grenzen
Aufklärung über Recht, Gesetz und Rechtspflege unter dem deutschen Volke
angestrebt werden. Die Anzeichen einer Krankheit und die Anwendung der
gewöhnlichen Heilmittel sind jetzt, nachdem das Volk in den letzten Jahr¬
zehnten dnrch Zeitungen, Broschüren, von den akademischen Lehrstühlen aus
und von den Sanitätsbehörden immer wieder aufgeklärt und über alle wichtigen
Punkte belehrt worden ist, ziemlich allgemein bekannt; die Furcht vor den
Krankheiten ist dadurch gemindert, das Vertrauen in die ärztliche Wissenschaft
gestärkt worden. Wie viele -- sogar hochgebildete -- Laien kennen aber
Wesen und Wirkung der Hypothek, der Bürgschaft, des Testaments und der¬
gleichen, wissen den Unterschied zwischen Zivilrecht und Strafrecht darzulegen
und sind mit dem Nechtsgange vertraut? Man steht in jedem Einzelfalle noch
so einfachen Rechtsfragen ratlos gegenüber und muß den Rechtsanwalt oder
gar den unseligen Volksanwalt befragen, man hat eine gewisse Scheu vor dem
Richter und seiner Tätigkeit, die man nicht kennt und nicht würdigt. Dem Laien
die Grundzüge des Rechts bekannt zu machen, Zweck, Wirkung und Zusammen¬
hang der wichtigsten Rechtsregeln, die keineswegs "Geheimparagraphen" sind,
klarzulegen, den Prozeßgang zu veranschaulichen und ihm einen Blick in die
Werkstatt des deutschen Richters -- den dieser wahrlich nicht zu scheuen


Volkstümlichkeit der Gesetze und vertrauen zur Rechtspflege

nicht klar und richtig erscheinen können. Er muß aber in ständiger enger
Fühlung mit dem praktischen Leben bleiben und Land und Leute kennen; er
muß seiner wichtigen sozialen Aufgaben eingedenk sein und darf bei allem be¬
rechtigten Standesbewußtsein auch nicht einen Augenblick vergessen, daß er
ein Glied der armen schwer ringenden Menschheit ist, der zu dienen, zu raten
und zu helfen mit seiner Kenntnis und Machtfülle seine edelste und schönste
Aufgabe ist.

Die Mehrzahl unsrer deutschen Richter, das kann freimütig ausgesprochen
werden, faßt ihre richterliche Stellung heute so auf und strebt unablässig danach,
sich in allen den genannten Richtungen zu vervollkommnen und den gewaltigen
Anforderungen, die die Gegenwart an den Richterstand stellt, gerecht zu werden.
Von dem weniger glücklichen Wirken vereinzelter nicht auf der Höhe ihres
Berufes stehender Richter ist keine Gefahr zu besorgen, um so weniger als in
den obern Instanzen überall ein Kollegium, also eine Mehrheit von Richtern,
die einander korrigieren und ergänzen, tütig ist, und gegen die Entscheidungen
der Untergeriehte Rechtsmittel aller Art zum Zwecke der Nachprüfung vor der
übergeordneten Instanz gegeben sind.

Hier kann also wohl für keinen Einsichtigen ein Grund für eine wirkliche
Verstimmung, für eine Abnahme des Vertrauens zur Rechtspflege liegen.

Die wahre Ursache ist eine andre: der Mangel an Kenntnissen in allen
juristischen Dingen bei den Laien, die Vorstellung, daß der Juristenstand eine
volksfeindliche Kaste, seine Wissenschaft eine Geheimkunde sei, das instinktive
Mißtrauen gegen alles Unbekannte! Nach dem alten Satze: „Der Wissende ist
duldsamer als der Nichtwissende" sollte deshalb vor allem in gewissen Grenzen
Aufklärung über Recht, Gesetz und Rechtspflege unter dem deutschen Volke
angestrebt werden. Die Anzeichen einer Krankheit und die Anwendung der
gewöhnlichen Heilmittel sind jetzt, nachdem das Volk in den letzten Jahr¬
zehnten dnrch Zeitungen, Broschüren, von den akademischen Lehrstühlen aus
und von den Sanitätsbehörden immer wieder aufgeklärt und über alle wichtigen
Punkte belehrt worden ist, ziemlich allgemein bekannt; die Furcht vor den
Krankheiten ist dadurch gemindert, das Vertrauen in die ärztliche Wissenschaft
gestärkt worden. Wie viele — sogar hochgebildete — Laien kennen aber
Wesen und Wirkung der Hypothek, der Bürgschaft, des Testaments und der¬
gleichen, wissen den Unterschied zwischen Zivilrecht und Strafrecht darzulegen
und sind mit dem Nechtsgange vertraut? Man steht in jedem Einzelfalle noch
so einfachen Rechtsfragen ratlos gegenüber und muß den Rechtsanwalt oder
gar den unseligen Volksanwalt befragen, man hat eine gewisse Scheu vor dem
Richter und seiner Tätigkeit, die man nicht kennt und nicht würdigt. Dem Laien
die Grundzüge des Rechts bekannt zu machen, Zweck, Wirkung und Zusammen¬
hang der wichtigsten Rechtsregeln, die keineswegs „Geheimparagraphen" sind,
klarzulegen, den Prozeßgang zu veranschaulichen und ihm einen Blick in die
Werkstatt des deutschen Richters — den dieser wahrlich nicht zu scheuen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/93>, abgerufen am 15.05.2024.