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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr.

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Bernard Shaw als Dramatiker

hier eine ganze Schar von Ärzten auf die Bühne, und das Dilemma des
Dr. Nidgeon besteht in dem Zweifel, ob er mit seinem nur noch für einen
Patienten zulangenden Mittel gegen die Tuberkulose den begabten aber schurken-
haften Künstler Dubedat vor dem Tode retten soll oder einen moralisch hoch¬
stehenden aber sonst unbedeutenden Kranken. Da dem Arzt die schöne Mrs.
Dubedat sehr gefüllt, und er sich in sie verliebt, so übergibt er Mr. Dubedat
einem Charlatan, der den Kranken bald ins Jenseits befördert. Kurze Zeit
darauf bewirbt sich Dr. Ridgeon um die Hand der schönen Witwe, erfährt aber,
daß sich die edle Dame schon wieder -- verheiratet habe. Manche Kritiker,
zum Beispiel der des <?iAM", sind über dieses Stück empört und halten
Shaw für einen Narren; aber William Archer sagt in der^ribnne: Bis zum
Ende des zweiten Akts ist dieses Stück das beste, was Shaw jemals geschrieben
hat. Bis zum vierten sei es gewagt, originell und bewundernswert, leider sei
der Schluß absolut langweilig.

Bernard Shaw ist bei einem großen Teil des englischen Publikums wenig
beliebt, weil er die Schäden und Gebrechen der Gesellschaft mit einer dem
englischen Philister peinlichen Offenheit und Rücksichtslosigkeit behandelt, ihm
liebgewordne Illusionen raubt und die konventionelle Draperie von seinen
Gestalten wegreißt. Von dem gepriesenen Fortschritt der Menschheit hält er
nichts. "Alle die Roheit, sagt er in seinen Anmerkungen zu vassÄr g,na
LüsoMrs,, die Barbarei, das Mittelalter und alle übrige, was in der Ver¬
gangenheit existiert hat, existiert noch in diesem Augenblick." Er ist der
Meinung, daß die Menschen mit ihrer Moraltheorie während der letzten
2500 Jahre im Irrtum seien: "Es muß für viele von uns ein bestündiges
Rätsel bleiben, wie die christliche Ära, so herrlich in ihren Absichten, praktisch
eine so entehrende Episode in der Geschichte der Menschheit werden konnte."
Shaws Vorliebe für paradoxe Wendungen, für Antithesen und Hyperbeln,
mit deren Hilfe sich heutzutage ja fast alle Reformer den Anschein von Ge¬
dankentiefe und Originalität zu geben pflegen, bis man sie als Phantasten
und Charlatane erkannt hat, diese Vorliebe zeigt sich auch in seinen sozialistischen
Schriften, zum Beispiel in dem Büchelchen "Sozialismus für Millionäre"
(übersetzt von G. Landauer, Berlin, 1907, Concordia, Deutsche Verlagsanstalt),
worin er den Wohltätern der Menschheit den Rat erteilt: "Gebt dem Volke
nie, was es braucht; gebt ihm etwas, was es brauchen sollte und nicht be¬
gehrt." Es ist erklärlich, daß Shaw mit seiner Weltanschauung in England
bis jetzt nur wenig Beifall und Anhänger hat finden können, trotzdem bleibt
er eine der interessantesten Erscheinungen der gegenwärtigen Literatur.




Bernard Shaw als Dramatiker

hier eine ganze Schar von Ärzten auf die Bühne, und das Dilemma des
Dr. Nidgeon besteht in dem Zweifel, ob er mit seinem nur noch für einen
Patienten zulangenden Mittel gegen die Tuberkulose den begabten aber schurken-
haften Künstler Dubedat vor dem Tode retten soll oder einen moralisch hoch¬
stehenden aber sonst unbedeutenden Kranken. Da dem Arzt die schöne Mrs.
Dubedat sehr gefüllt, und er sich in sie verliebt, so übergibt er Mr. Dubedat
einem Charlatan, der den Kranken bald ins Jenseits befördert. Kurze Zeit
darauf bewirbt sich Dr. Ridgeon um die Hand der schönen Witwe, erfährt aber,
daß sich die edle Dame schon wieder — verheiratet habe. Manche Kritiker,
zum Beispiel der des <?iAM«, sind über dieses Stück empört und halten
Shaw für einen Narren; aber William Archer sagt in der^ribnne: Bis zum
Ende des zweiten Akts ist dieses Stück das beste, was Shaw jemals geschrieben
hat. Bis zum vierten sei es gewagt, originell und bewundernswert, leider sei
der Schluß absolut langweilig.

Bernard Shaw ist bei einem großen Teil des englischen Publikums wenig
beliebt, weil er die Schäden und Gebrechen der Gesellschaft mit einer dem
englischen Philister peinlichen Offenheit und Rücksichtslosigkeit behandelt, ihm
liebgewordne Illusionen raubt und die konventionelle Draperie von seinen
Gestalten wegreißt. Von dem gepriesenen Fortschritt der Menschheit hält er
nichts. „Alle die Roheit, sagt er in seinen Anmerkungen zu vassÄr g,na
LüsoMrs,, die Barbarei, das Mittelalter und alle übrige, was in der Ver¬
gangenheit existiert hat, existiert noch in diesem Augenblick." Er ist der
Meinung, daß die Menschen mit ihrer Moraltheorie während der letzten
2500 Jahre im Irrtum seien: „Es muß für viele von uns ein bestündiges
Rätsel bleiben, wie die christliche Ära, so herrlich in ihren Absichten, praktisch
eine so entehrende Episode in der Geschichte der Menschheit werden konnte."
Shaws Vorliebe für paradoxe Wendungen, für Antithesen und Hyperbeln,
mit deren Hilfe sich heutzutage ja fast alle Reformer den Anschein von Ge¬
dankentiefe und Originalität zu geben pflegen, bis man sie als Phantasten
und Charlatane erkannt hat, diese Vorliebe zeigt sich auch in seinen sozialistischen
Schriften, zum Beispiel in dem Büchelchen „Sozialismus für Millionäre"
(übersetzt von G. Landauer, Berlin, 1907, Concordia, Deutsche Verlagsanstalt),
worin er den Wohltätern der Menschheit den Rat erteilt: „Gebt dem Volke
nie, was es braucht; gebt ihm etwas, was es brauchen sollte und nicht be¬
gehrt." Es ist erklärlich, daß Shaw mit seiner Weltanschauung in England
bis jetzt nur wenig Beifall und Anhänger hat finden können, trotzdem bleibt
er eine der interessantesten Erscheinungen der gegenwärtigen Literatur.




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[0573] Bernard Shaw als Dramatiker hier eine ganze Schar von Ärzten auf die Bühne, und das Dilemma des Dr. Nidgeon besteht in dem Zweifel, ob er mit seinem nur noch für einen Patienten zulangenden Mittel gegen die Tuberkulose den begabten aber schurken- haften Künstler Dubedat vor dem Tode retten soll oder einen moralisch hoch¬ stehenden aber sonst unbedeutenden Kranken. Da dem Arzt die schöne Mrs. Dubedat sehr gefüllt, und er sich in sie verliebt, so übergibt er Mr. Dubedat einem Charlatan, der den Kranken bald ins Jenseits befördert. Kurze Zeit darauf bewirbt sich Dr. Ridgeon um die Hand der schönen Witwe, erfährt aber, daß sich die edle Dame schon wieder — verheiratet habe. Manche Kritiker, zum Beispiel der des <?iAM«, sind über dieses Stück empört und halten Shaw für einen Narren; aber William Archer sagt in der^ribnne: Bis zum Ende des zweiten Akts ist dieses Stück das beste, was Shaw jemals geschrieben hat. Bis zum vierten sei es gewagt, originell und bewundernswert, leider sei der Schluß absolut langweilig. Bernard Shaw ist bei einem großen Teil des englischen Publikums wenig beliebt, weil er die Schäden und Gebrechen der Gesellschaft mit einer dem englischen Philister peinlichen Offenheit und Rücksichtslosigkeit behandelt, ihm liebgewordne Illusionen raubt und die konventionelle Draperie von seinen Gestalten wegreißt. Von dem gepriesenen Fortschritt der Menschheit hält er nichts. „Alle die Roheit, sagt er in seinen Anmerkungen zu vassÄr g,na LüsoMrs,, die Barbarei, das Mittelalter und alle übrige, was in der Ver¬ gangenheit existiert hat, existiert noch in diesem Augenblick." Er ist der Meinung, daß die Menschen mit ihrer Moraltheorie während der letzten 2500 Jahre im Irrtum seien: „Es muß für viele von uns ein bestündiges Rätsel bleiben, wie die christliche Ära, so herrlich in ihren Absichten, praktisch eine so entehrende Episode in der Geschichte der Menschheit werden konnte." Shaws Vorliebe für paradoxe Wendungen, für Antithesen und Hyperbeln, mit deren Hilfe sich heutzutage ja fast alle Reformer den Anschein von Ge¬ dankentiefe und Originalität zu geben pflegen, bis man sie als Phantasten und Charlatane erkannt hat, diese Vorliebe zeigt sich auch in seinen sozialistischen Schriften, zum Beispiel in dem Büchelchen „Sozialismus für Millionäre" (übersetzt von G. Landauer, Berlin, 1907, Concordia, Deutsche Verlagsanstalt), worin er den Wohltätern der Menschheit den Rat erteilt: „Gebt dem Volke nie, was es braucht; gebt ihm etwas, was es brauchen sollte und nicht be¬ gehrt." Es ist erklärlich, daß Shaw mit seiner Weltanschauung in England bis jetzt nur wenig Beifall und Anhänger hat finden können, trotzdem bleibt er eine der interessantesten Erscheinungen der gegenwärtigen Literatur.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301253/573>, abgerufen am 15.05.2024.