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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr.

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Für die Reichshauptstadt

mancher im Reich, und um so gläubiger, als es der ihm von jeher geläufigen
Vorstellung von diesem Spreebabel nur allzusehr entspricht.

In der Tat, man denkt in weiten Schichten unsers Volkes herzlich schlecht
von Berlin, genauer gesagt: von den Berlinern. Ehedem standen diese, besonders
in Süddeutschland, im Rufe eines widerlichen geistigen Hochmuts, eines sich
liberall hervordrängenden Besserwissenwollens; zu Hause, meinte man, möchten
sie vielleicht erträglich, unter Umständen sogar liebenswürdig sein, draußen
seien sie unausstehlich. Dieses Vorurteil hat sich im Laufe der Zeit ziemlich
abgeschwächt. An seine Stelle ist das von der ins ungeheuerliche wachsenden
Berliner Liederlichkeit getreten. Je weiter von der Hauptstadt entfernt, um so
intensiver die Scheu vor ihr. Und zwar nicht nur bei dem eines eignen
Urteils ermangelnden niedern Volke. In ländlichen Gegenden des Westens
und des Südens, die sich auch in der heutigen Zeit noch eine erfreuliche Einfalt
der Sitten bewahrt haben, kann man die Erfahrung machen, daß sich Eltern
mit Händen und Füßen dagegen sträuben, ihre Kinder in Berlin Dienst nehmen
zu lassen. Nicht minder gibt es Handwerker, die ihre in die Welt hinausziehenden
Söhne vor Berlin warnen zu müssen glauben. Was aber mehr, als dies alles,
befremden muß: es kommt vor, daß sogar in gebildeten Kreisen der Umgang
mit Berlinern wie eine moralische Pest gemieden wird. Ein Beispiel! Eine
absolut einwandfreie Berliner Familie der höhern Stände befand sich in einem
Landstädtchen des westdeutschen Waldgebirges in der Sommerfrische. Mann
und Frau verkehrten vielfach mit den Honoratioren des Ortes, aber vergebens
bemühten sie sich, ihre achtzehnjährige Tochter, ein durchaus wohlerzognes
Mädchen, mit den jungen Damen dieses Kreises in nähere Beziehung zu bringen;
es mißlang, nicht weil die jungen Damen ihrerseits abgeneigt gewesen wären,
sondern weil die Eltern, was sie auch deutlich genug zu verstehen gaben, von
der in dem vermeintlichen Berliner Sumpf aufgewachsnen einen unheilvollen
Einfluß auf ihre Kinder befürchteten.

Das schmeckt stark nach Krähwinkel. Aber es hat doch seine sehr ernste
Seite. Entweder diese Urteile über die Berliner sind begründet; dann ist durch¬
greifende Abhilfe, koste es, was es wolle, eine zwingende Pflicht. Oder sie
sind nicht begründet; dann muß man die irrigen Vorstellungen im Lande be¬
seitigen, und es kann nicht scharf genug getadelt werden, wenn ihnen durch
grundlose Behauptungen und übertriebne Schilderungen von irgendwie ma߬
gebender Stelle aus noch Vorschub geleistet wird. Denn die Verfassung, worin
sich die Hauptstadt eines großen Reiches befindet, ist nicht gleichgültig für das
Wohl und Wehe des Ganzen. Im Gegenteil, auch in stark dezentralisierten
Staaten wird und muß sie immer bis zu einem gewissen Grade ein Spiegelbild
des Gesamtzustandes des Volkes sein. Im Deutschen Reiche wäre es zuviel
gesagt, wollte man Berlin geradezu als Kopf und Herz der Nation bezeichnen.
Aber eine Naturnotwendigkeit ist es doch, daß an keinem andern Punkte das
Gesamtleben des Reiches so konzentriert in die Erscheinung tritt wie hier, daß


Für die Reichshauptstadt

mancher im Reich, und um so gläubiger, als es der ihm von jeher geläufigen
Vorstellung von diesem Spreebabel nur allzusehr entspricht.

In der Tat, man denkt in weiten Schichten unsers Volkes herzlich schlecht
von Berlin, genauer gesagt: von den Berlinern. Ehedem standen diese, besonders
in Süddeutschland, im Rufe eines widerlichen geistigen Hochmuts, eines sich
liberall hervordrängenden Besserwissenwollens; zu Hause, meinte man, möchten
sie vielleicht erträglich, unter Umständen sogar liebenswürdig sein, draußen
seien sie unausstehlich. Dieses Vorurteil hat sich im Laufe der Zeit ziemlich
abgeschwächt. An seine Stelle ist das von der ins ungeheuerliche wachsenden
Berliner Liederlichkeit getreten. Je weiter von der Hauptstadt entfernt, um so
intensiver die Scheu vor ihr. Und zwar nicht nur bei dem eines eignen
Urteils ermangelnden niedern Volke. In ländlichen Gegenden des Westens
und des Südens, die sich auch in der heutigen Zeit noch eine erfreuliche Einfalt
der Sitten bewahrt haben, kann man die Erfahrung machen, daß sich Eltern
mit Händen und Füßen dagegen sträuben, ihre Kinder in Berlin Dienst nehmen
zu lassen. Nicht minder gibt es Handwerker, die ihre in die Welt hinausziehenden
Söhne vor Berlin warnen zu müssen glauben. Was aber mehr, als dies alles,
befremden muß: es kommt vor, daß sogar in gebildeten Kreisen der Umgang
mit Berlinern wie eine moralische Pest gemieden wird. Ein Beispiel! Eine
absolut einwandfreie Berliner Familie der höhern Stände befand sich in einem
Landstädtchen des westdeutschen Waldgebirges in der Sommerfrische. Mann
und Frau verkehrten vielfach mit den Honoratioren des Ortes, aber vergebens
bemühten sie sich, ihre achtzehnjährige Tochter, ein durchaus wohlerzognes
Mädchen, mit den jungen Damen dieses Kreises in nähere Beziehung zu bringen;
es mißlang, nicht weil die jungen Damen ihrerseits abgeneigt gewesen wären,
sondern weil die Eltern, was sie auch deutlich genug zu verstehen gaben, von
der in dem vermeintlichen Berliner Sumpf aufgewachsnen einen unheilvollen
Einfluß auf ihre Kinder befürchteten.

Das schmeckt stark nach Krähwinkel. Aber es hat doch seine sehr ernste
Seite. Entweder diese Urteile über die Berliner sind begründet; dann ist durch¬
greifende Abhilfe, koste es, was es wolle, eine zwingende Pflicht. Oder sie
sind nicht begründet; dann muß man die irrigen Vorstellungen im Lande be¬
seitigen, und es kann nicht scharf genug getadelt werden, wenn ihnen durch
grundlose Behauptungen und übertriebne Schilderungen von irgendwie ma߬
gebender Stelle aus noch Vorschub geleistet wird. Denn die Verfassung, worin
sich die Hauptstadt eines großen Reiches befindet, ist nicht gleichgültig für das
Wohl und Wehe des Ganzen. Im Gegenteil, auch in stark dezentralisierten
Staaten wird und muß sie immer bis zu einem gewissen Grade ein Spiegelbild
des Gesamtzustandes des Volkes sein. Im Deutschen Reiche wäre es zuviel
gesagt, wollte man Berlin geradezu als Kopf und Herz der Nation bezeichnen.
Aber eine Naturnotwendigkeit ist es doch, daß an keinem andern Punkte das
Gesamtleben des Reiches so konzentriert in die Erscheinung tritt wie hier, daß


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[0231] Für die Reichshauptstadt mancher im Reich, und um so gläubiger, als es der ihm von jeher geläufigen Vorstellung von diesem Spreebabel nur allzusehr entspricht. In der Tat, man denkt in weiten Schichten unsers Volkes herzlich schlecht von Berlin, genauer gesagt: von den Berlinern. Ehedem standen diese, besonders in Süddeutschland, im Rufe eines widerlichen geistigen Hochmuts, eines sich liberall hervordrängenden Besserwissenwollens; zu Hause, meinte man, möchten sie vielleicht erträglich, unter Umständen sogar liebenswürdig sein, draußen seien sie unausstehlich. Dieses Vorurteil hat sich im Laufe der Zeit ziemlich abgeschwächt. An seine Stelle ist das von der ins ungeheuerliche wachsenden Berliner Liederlichkeit getreten. Je weiter von der Hauptstadt entfernt, um so intensiver die Scheu vor ihr. Und zwar nicht nur bei dem eines eignen Urteils ermangelnden niedern Volke. In ländlichen Gegenden des Westens und des Südens, die sich auch in der heutigen Zeit noch eine erfreuliche Einfalt der Sitten bewahrt haben, kann man die Erfahrung machen, daß sich Eltern mit Händen und Füßen dagegen sträuben, ihre Kinder in Berlin Dienst nehmen zu lassen. Nicht minder gibt es Handwerker, die ihre in die Welt hinausziehenden Söhne vor Berlin warnen zu müssen glauben. Was aber mehr, als dies alles, befremden muß: es kommt vor, daß sogar in gebildeten Kreisen der Umgang mit Berlinern wie eine moralische Pest gemieden wird. Ein Beispiel! Eine absolut einwandfreie Berliner Familie der höhern Stände befand sich in einem Landstädtchen des westdeutschen Waldgebirges in der Sommerfrische. Mann und Frau verkehrten vielfach mit den Honoratioren des Ortes, aber vergebens bemühten sie sich, ihre achtzehnjährige Tochter, ein durchaus wohlerzognes Mädchen, mit den jungen Damen dieses Kreises in nähere Beziehung zu bringen; es mißlang, nicht weil die jungen Damen ihrerseits abgeneigt gewesen wären, sondern weil die Eltern, was sie auch deutlich genug zu verstehen gaben, von der in dem vermeintlichen Berliner Sumpf aufgewachsnen einen unheilvollen Einfluß auf ihre Kinder befürchteten. Das schmeckt stark nach Krähwinkel. Aber es hat doch seine sehr ernste Seite. Entweder diese Urteile über die Berliner sind begründet; dann ist durch¬ greifende Abhilfe, koste es, was es wolle, eine zwingende Pflicht. Oder sie sind nicht begründet; dann muß man die irrigen Vorstellungen im Lande be¬ seitigen, und es kann nicht scharf genug getadelt werden, wenn ihnen durch grundlose Behauptungen und übertriebne Schilderungen von irgendwie ma߬ gebender Stelle aus noch Vorschub geleistet wird. Denn die Verfassung, worin sich die Hauptstadt eines großen Reiches befindet, ist nicht gleichgültig für das Wohl und Wehe des Ganzen. Im Gegenteil, auch in stark dezentralisierten Staaten wird und muß sie immer bis zu einem gewissen Grade ein Spiegelbild des Gesamtzustandes des Volkes sein. Im Deutschen Reiche wäre es zuviel gesagt, wollte man Berlin geradezu als Kopf und Herz der Nation bezeichnen. Aber eine Naturnotwendigkeit ist es doch, daß an keinem andern Punkte das Gesamtleben des Reiches so konzentriert in die Erscheinung tritt wie hier, daß

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301987/231>, abgerufen am 20.05.2024.