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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr.

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Lessing als Philosoph

zu den schlimmen Ketzern, "die da lernen immerdar und können nimmer zur
Erkenntnis der Wahrheit kommen". Wahrheit und Irrtum schwächen sich ihm
zum Vorurteil ab, und insofern gibt er keine greifbaren Resultate. Aber eben
durch seine zuwartende, schwebende Haltung entwickelte sich in ihm "das feinste
Gefühl für die intellektuelle Redlichkeit". Die philosophische Größe Lessings
liegt darin und nur darin, daß er den Kampf um das Recht des Zweifels
ungewöhnlich rein durchgeführt hat. Was den Inhalt seiner Philosophie an¬
langt, soweit mau von einer solchen überhaupt sprechen kaun, ist er Eklektiker
von relativ wenig Originalität und Zusammenhang des Denkens, und wenn
man auch aus dem Studium seiner Schriften durchaus nicht etwa nur geringen
materialen Gewinn ziehen kann, so ist doch der Inhalt des Denkens bei ihm
wesentlich "nur der Stoff, an dem er die intellektuelle Moral erkannte, selbst
ausübte, andre lehrte". So beschäftigt ihn mich in seinen theologischen Kämpfen
nicht sowohl der Inhalt als die Form des christlichen Glaubens, das heißt
die Frage, ob und wie sich dieses Glauben mit der intellektuellen Redlichkeit
verträgt. Der Hauptinhalt von Schrempfs Schrift ist demnach die Geschichte
von Lessings Verhältnis zum Christentum. Seine Ästhetik aber, die dem¬
gegenüber zurücktritt, kann in vielen Punkten einen wichtigen Beitrag zum
Verständnis seiner religionsphilosophischen Gedanken geben, ja sie ist in mancher
Hinsicht in ihren Grundideen nur ein Ausfluß seiner ganzen Weltauffassung.

Im ersten Kapitel schildert Schrempf Lessings religiöse und philosophische
Entwicklung bis 1760 und weist darin schon die Grundzüge seiner spätern
Gedanken nach, wobei manches schöne und treffende Wort füllt über die christliche
Glaubenslehre, diese "seltsame Verquickung von Metaphysik, Geschichte und
praktischer Lebensweisheit", über das Verhältnis zwischen Glauben und Denken,
über die Gründe von Lessings Achtung vor der Orthodoxie trotz seiner eignen
liberalen Anschauung und seiner Mißachtung der "neumodischen Rechtgläubig¬
keit", über Leibnizens Philosophie und deren Beziehungen zum Christentum
und zu Lessings Denken u. a. in.

Das zweite Kapitel, "Lessings Gedanken zur Theorie der Kunst", faßt
die betreffenden Probleme von einem wesentlich andern Standpunkt aus auf,
als es gewöhnlich geschieht, indem Schrempf überall auf die tiefern Wurzeln
von Lessings ästhetischen Ansichten, das heißt auf seine gesamte Denk- und
Lebensrichtung hinweist, die ihn zwang, auch in der Kunst eine ernste Sache
zu sehen, die den ganzen Menschen beschäftigen soll und auf den ganzen Menschen
zu wirken bestimmt ist. Freilich hat Lessing manche Gedanken, die er auf den"
Gebiete der Ethik ziemlich weit zu verfolgen wagte, auf ästhetischem Gebiete
nicht mit derselben Konsequenz zu Ende gedacht. So ist es zum Beispiel auf¬
fallend, daß er, obwohl er das sittlich Böse als etwas notwendig zur "besten
Welt" Gehörendes erkennen gelernt hatte, bezüglich des ästhetisch "Bösen",
des Häßlichen, nicht dieselben Folgerungen gezogen hat: so gut die Natur
(er sagt dafür auch "die ewige Weisheit") die Schönheit der Form höhern


Lessing als Philosoph

zu den schlimmen Ketzern, „die da lernen immerdar und können nimmer zur
Erkenntnis der Wahrheit kommen". Wahrheit und Irrtum schwächen sich ihm
zum Vorurteil ab, und insofern gibt er keine greifbaren Resultate. Aber eben
durch seine zuwartende, schwebende Haltung entwickelte sich in ihm „das feinste
Gefühl für die intellektuelle Redlichkeit". Die philosophische Größe Lessings
liegt darin und nur darin, daß er den Kampf um das Recht des Zweifels
ungewöhnlich rein durchgeführt hat. Was den Inhalt seiner Philosophie an¬
langt, soweit mau von einer solchen überhaupt sprechen kaun, ist er Eklektiker
von relativ wenig Originalität und Zusammenhang des Denkens, und wenn
man auch aus dem Studium seiner Schriften durchaus nicht etwa nur geringen
materialen Gewinn ziehen kann, so ist doch der Inhalt des Denkens bei ihm
wesentlich „nur der Stoff, an dem er die intellektuelle Moral erkannte, selbst
ausübte, andre lehrte". So beschäftigt ihn mich in seinen theologischen Kämpfen
nicht sowohl der Inhalt als die Form des christlichen Glaubens, das heißt
die Frage, ob und wie sich dieses Glauben mit der intellektuellen Redlichkeit
verträgt. Der Hauptinhalt von Schrempfs Schrift ist demnach die Geschichte
von Lessings Verhältnis zum Christentum. Seine Ästhetik aber, die dem¬
gegenüber zurücktritt, kann in vielen Punkten einen wichtigen Beitrag zum
Verständnis seiner religionsphilosophischen Gedanken geben, ja sie ist in mancher
Hinsicht in ihren Grundideen nur ein Ausfluß seiner ganzen Weltauffassung.

Im ersten Kapitel schildert Schrempf Lessings religiöse und philosophische
Entwicklung bis 1760 und weist darin schon die Grundzüge seiner spätern
Gedanken nach, wobei manches schöne und treffende Wort füllt über die christliche
Glaubenslehre, diese „seltsame Verquickung von Metaphysik, Geschichte und
praktischer Lebensweisheit", über das Verhältnis zwischen Glauben und Denken,
über die Gründe von Lessings Achtung vor der Orthodoxie trotz seiner eignen
liberalen Anschauung und seiner Mißachtung der „neumodischen Rechtgläubig¬
keit", über Leibnizens Philosophie und deren Beziehungen zum Christentum
und zu Lessings Denken u. a. in.

Das zweite Kapitel, „Lessings Gedanken zur Theorie der Kunst", faßt
die betreffenden Probleme von einem wesentlich andern Standpunkt aus auf,
als es gewöhnlich geschieht, indem Schrempf überall auf die tiefern Wurzeln
von Lessings ästhetischen Ansichten, das heißt auf seine gesamte Denk- und
Lebensrichtung hinweist, die ihn zwang, auch in der Kunst eine ernste Sache
zu sehen, die den ganzen Menschen beschäftigen soll und auf den ganzen Menschen
zu wirken bestimmt ist. Freilich hat Lessing manche Gedanken, die er auf den«
Gebiete der Ethik ziemlich weit zu verfolgen wagte, auf ästhetischem Gebiete
nicht mit derselben Konsequenz zu Ende gedacht. So ist es zum Beispiel auf¬
fallend, daß er, obwohl er das sittlich Böse als etwas notwendig zur „besten
Welt" Gehörendes erkennen gelernt hatte, bezüglich des ästhetisch „Bösen",
des Häßlichen, nicht dieselben Folgerungen gezogen hat: so gut die Natur
(er sagt dafür auch „die ewige Weisheit") die Schönheit der Form höhern


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[0358] Lessing als Philosoph zu den schlimmen Ketzern, „die da lernen immerdar und können nimmer zur Erkenntnis der Wahrheit kommen". Wahrheit und Irrtum schwächen sich ihm zum Vorurteil ab, und insofern gibt er keine greifbaren Resultate. Aber eben durch seine zuwartende, schwebende Haltung entwickelte sich in ihm „das feinste Gefühl für die intellektuelle Redlichkeit". Die philosophische Größe Lessings liegt darin und nur darin, daß er den Kampf um das Recht des Zweifels ungewöhnlich rein durchgeführt hat. Was den Inhalt seiner Philosophie an¬ langt, soweit mau von einer solchen überhaupt sprechen kaun, ist er Eklektiker von relativ wenig Originalität und Zusammenhang des Denkens, und wenn man auch aus dem Studium seiner Schriften durchaus nicht etwa nur geringen materialen Gewinn ziehen kann, so ist doch der Inhalt des Denkens bei ihm wesentlich „nur der Stoff, an dem er die intellektuelle Moral erkannte, selbst ausübte, andre lehrte". So beschäftigt ihn mich in seinen theologischen Kämpfen nicht sowohl der Inhalt als die Form des christlichen Glaubens, das heißt die Frage, ob und wie sich dieses Glauben mit der intellektuellen Redlichkeit verträgt. Der Hauptinhalt von Schrempfs Schrift ist demnach die Geschichte von Lessings Verhältnis zum Christentum. Seine Ästhetik aber, die dem¬ gegenüber zurücktritt, kann in vielen Punkten einen wichtigen Beitrag zum Verständnis seiner religionsphilosophischen Gedanken geben, ja sie ist in mancher Hinsicht in ihren Grundideen nur ein Ausfluß seiner ganzen Weltauffassung. Im ersten Kapitel schildert Schrempf Lessings religiöse und philosophische Entwicklung bis 1760 und weist darin schon die Grundzüge seiner spätern Gedanken nach, wobei manches schöne und treffende Wort füllt über die christliche Glaubenslehre, diese „seltsame Verquickung von Metaphysik, Geschichte und praktischer Lebensweisheit", über das Verhältnis zwischen Glauben und Denken, über die Gründe von Lessings Achtung vor der Orthodoxie trotz seiner eignen liberalen Anschauung und seiner Mißachtung der „neumodischen Rechtgläubig¬ keit", über Leibnizens Philosophie und deren Beziehungen zum Christentum und zu Lessings Denken u. a. in. Das zweite Kapitel, „Lessings Gedanken zur Theorie der Kunst", faßt die betreffenden Probleme von einem wesentlich andern Standpunkt aus auf, als es gewöhnlich geschieht, indem Schrempf überall auf die tiefern Wurzeln von Lessings ästhetischen Ansichten, das heißt auf seine gesamte Denk- und Lebensrichtung hinweist, die ihn zwang, auch in der Kunst eine ernste Sache zu sehen, die den ganzen Menschen beschäftigen soll und auf den ganzen Menschen zu wirken bestimmt ist. Freilich hat Lessing manche Gedanken, die er auf den« Gebiete der Ethik ziemlich weit zu verfolgen wagte, auf ästhetischem Gebiete nicht mit derselben Konsequenz zu Ende gedacht. So ist es zum Beispiel auf¬ fallend, daß er, obwohl er das sittlich Böse als etwas notwendig zur „besten Welt" Gehörendes erkennen gelernt hatte, bezüglich des ästhetisch „Bösen", des Häßlichen, nicht dieselben Folgerungen gezogen hat: so gut die Natur (er sagt dafür auch „die ewige Weisheit") die Schönheit der Form höhern

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301987/358>, abgerufen am 19.05.2024.