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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr.

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Zum Ursprung des Märchens

lungen, einen typischen Märchenschauplatz. Typisch sind auch die seelischen
Grundlagen der Handlung. Immer kehren dieselben Personen wieder, Jäger,
Fischer, Schiffer (bei den seeanwohnenden Völkern), Zauberer, Häuptlinge,
Häuptlingssöhne, der Mann, die Frau, das Mädchen, das Kind schlechthin.
Wir haben immer dasselbe Fundament der Handlung: eine Person wird auf
irgendeine Weise zum Verlassen des Ortes gebracht, und auf dem Wege oder
am Ziele begegnet ihm sein Abenteuer oder eine Reihe von Abenteuern. Es
sind immer dieselben allgemein menschlichen Handlungen, die den novellistischen
Kern des Märchens ausmachen, und die zumeist auf einer Störung der Ord¬
nung des Gemeinschaftslebens beruhen: eine gefährliche Werbung, gewaltsamer
Vrautraub, verfloßne Kinder, durch Sturm Vertriebne Schiffer, in die Gewalt
von Kannibalen geratne Jünglinge oder Mädchen, Auszüge auf die Jagd oder
in den Krieg usw. Ebenso haben die übernatürlichen Motive durch Auslese und
immer wiederkehrende Verwendung schon bei den Wilden typischen Charakter
bekommen. Ich habe schon eine Auslese dieser Märchenbestandteile gegeben, hier
kommt es nur darauf an, zu betonen, daß sie schon auf der primitiven Ent¬
wicklungsstufe durch ihre häufige Anwendung typisch geworden sind.

Wir haben nun noch den dritten Punkt in Betracht zu ziehn, der für die
Entwicklung des spezifischen Charakters des Märchens von größter Bedeutung
ist, und der ebenfalls in der primitiven Zeit schon im Werden ist, das ist die
Neigung zum Extrem. Im allgemeinen sind die primitiven Menschen noch
sparsam mit der Hyperbolisierung von Handlungen und Eigenschaften, weil ihre
Phantasie noch gebunden ist, und weil sie den Gegensatz des Natürlichen und
des Übernatürlichen noch nicht bewußt empfinden. Doch legen auch sie schon
ihren Helden über das gewöhnliche Maß hinausragende Stärke und gewaltigen
Mut bei. Auch sie wissen schon von Stöcken, die in die Erde gesteckt bis in
den Himmel wachsen. Aber eigentlich wirksam zu werden fängt dieses Prinzip
erst an, nachdem das Märchen über den primitiven Kreis hinausgewachsen ist,
und das Übernatürliche als solches empfunden wird.

Das Märchen gehört zu der mündlichen Erzühlungsliteratur. Aus dieser
Tatsache ergeben sich nun noch einige weitere Entwicklungsbedingungen, die
wenigstens kurz skizziert werden müssen. Erzähler und Hörer stehn im engsten
Kontakt miteinander, im Banne einer gemeinsamen Stimmung. Im Banne
dieser Stimmung werden die stärksten Gefühle im Hörer wach, die um so ele¬
mentarer sind, je triebmäßiger das Seelenleben ist. Der Ausbruch der Gefühle
wird weder beim Kinde noch beim Naturmenschen durch den hemmenden Willen
und den regulierenden Verstand eingeengt. Teilnahme und Mitleid auf der
einen, Haß und Furcht auf der andern Seite begleiten den Verlauf der Er¬
zählung von den Abenteuern des Helden. Diese innere Erregung der Hörer
wirkt nun belebend auf den Erzähler zurück; sie steigert seine eigne Teilnahme
zu erhobner, rauschähnlicher Stimmung, die zu unmittelbarem, momentanen
Schaffen aufregt. Zunächst wird diese Gemeinsamkeit der erregten Stimmung


Zum Ursprung des Märchens

lungen, einen typischen Märchenschauplatz. Typisch sind auch die seelischen
Grundlagen der Handlung. Immer kehren dieselben Personen wieder, Jäger,
Fischer, Schiffer (bei den seeanwohnenden Völkern), Zauberer, Häuptlinge,
Häuptlingssöhne, der Mann, die Frau, das Mädchen, das Kind schlechthin.
Wir haben immer dasselbe Fundament der Handlung: eine Person wird auf
irgendeine Weise zum Verlassen des Ortes gebracht, und auf dem Wege oder
am Ziele begegnet ihm sein Abenteuer oder eine Reihe von Abenteuern. Es
sind immer dieselben allgemein menschlichen Handlungen, die den novellistischen
Kern des Märchens ausmachen, und die zumeist auf einer Störung der Ord¬
nung des Gemeinschaftslebens beruhen: eine gefährliche Werbung, gewaltsamer
Vrautraub, verfloßne Kinder, durch Sturm Vertriebne Schiffer, in die Gewalt
von Kannibalen geratne Jünglinge oder Mädchen, Auszüge auf die Jagd oder
in den Krieg usw. Ebenso haben die übernatürlichen Motive durch Auslese und
immer wiederkehrende Verwendung schon bei den Wilden typischen Charakter
bekommen. Ich habe schon eine Auslese dieser Märchenbestandteile gegeben, hier
kommt es nur darauf an, zu betonen, daß sie schon auf der primitiven Ent¬
wicklungsstufe durch ihre häufige Anwendung typisch geworden sind.

Wir haben nun noch den dritten Punkt in Betracht zu ziehn, der für die
Entwicklung des spezifischen Charakters des Märchens von größter Bedeutung
ist, und der ebenfalls in der primitiven Zeit schon im Werden ist, das ist die
Neigung zum Extrem. Im allgemeinen sind die primitiven Menschen noch
sparsam mit der Hyperbolisierung von Handlungen und Eigenschaften, weil ihre
Phantasie noch gebunden ist, und weil sie den Gegensatz des Natürlichen und
des Übernatürlichen noch nicht bewußt empfinden. Doch legen auch sie schon
ihren Helden über das gewöhnliche Maß hinausragende Stärke und gewaltigen
Mut bei. Auch sie wissen schon von Stöcken, die in die Erde gesteckt bis in
den Himmel wachsen. Aber eigentlich wirksam zu werden fängt dieses Prinzip
erst an, nachdem das Märchen über den primitiven Kreis hinausgewachsen ist,
und das Übernatürliche als solches empfunden wird.

Das Märchen gehört zu der mündlichen Erzühlungsliteratur. Aus dieser
Tatsache ergeben sich nun noch einige weitere Entwicklungsbedingungen, die
wenigstens kurz skizziert werden müssen. Erzähler und Hörer stehn im engsten
Kontakt miteinander, im Banne einer gemeinsamen Stimmung. Im Banne
dieser Stimmung werden die stärksten Gefühle im Hörer wach, die um so ele¬
mentarer sind, je triebmäßiger das Seelenleben ist. Der Ausbruch der Gefühle
wird weder beim Kinde noch beim Naturmenschen durch den hemmenden Willen
und den regulierenden Verstand eingeengt. Teilnahme und Mitleid auf der
einen, Haß und Furcht auf der andern Seite begleiten den Verlauf der Er¬
zählung von den Abenteuern des Helden. Diese innere Erregung der Hörer
wirkt nun belebend auf den Erzähler zurück; sie steigert seine eigne Teilnahme
zu erhobner, rauschähnlicher Stimmung, die zu unmittelbarem, momentanen
Schaffen aufregt. Zunächst wird diese Gemeinsamkeit der erregten Stimmung


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[0149] Zum Ursprung des Märchens lungen, einen typischen Märchenschauplatz. Typisch sind auch die seelischen Grundlagen der Handlung. Immer kehren dieselben Personen wieder, Jäger, Fischer, Schiffer (bei den seeanwohnenden Völkern), Zauberer, Häuptlinge, Häuptlingssöhne, der Mann, die Frau, das Mädchen, das Kind schlechthin. Wir haben immer dasselbe Fundament der Handlung: eine Person wird auf irgendeine Weise zum Verlassen des Ortes gebracht, und auf dem Wege oder am Ziele begegnet ihm sein Abenteuer oder eine Reihe von Abenteuern. Es sind immer dieselben allgemein menschlichen Handlungen, die den novellistischen Kern des Märchens ausmachen, und die zumeist auf einer Störung der Ord¬ nung des Gemeinschaftslebens beruhen: eine gefährliche Werbung, gewaltsamer Vrautraub, verfloßne Kinder, durch Sturm Vertriebne Schiffer, in die Gewalt von Kannibalen geratne Jünglinge oder Mädchen, Auszüge auf die Jagd oder in den Krieg usw. Ebenso haben die übernatürlichen Motive durch Auslese und immer wiederkehrende Verwendung schon bei den Wilden typischen Charakter bekommen. Ich habe schon eine Auslese dieser Märchenbestandteile gegeben, hier kommt es nur darauf an, zu betonen, daß sie schon auf der primitiven Ent¬ wicklungsstufe durch ihre häufige Anwendung typisch geworden sind. Wir haben nun noch den dritten Punkt in Betracht zu ziehn, der für die Entwicklung des spezifischen Charakters des Märchens von größter Bedeutung ist, und der ebenfalls in der primitiven Zeit schon im Werden ist, das ist die Neigung zum Extrem. Im allgemeinen sind die primitiven Menschen noch sparsam mit der Hyperbolisierung von Handlungen und Eigenschaften, weil ihre Phantasie noch gebunden ist, und weil sie den Gegensatz des Natürlichen und des Übernatürlichen noch nicht bewußt empfinden. Doch legen auch sie schon ihren Helden über das gewöhnliche Maß hinausragende Stärke und gewaltigen Mut bei. Auch sie wissen schon von Stöcken, die in die Erde gesteckt bis in den Himmel wachsen. Aber eigentlich wirksam zu werden fängt dieses Prinzip erst an, nachdem das Märchen über den primitiven Kreis hinausgewachsen ist, und das Übernatürliche als solches empfunden wird. Das Märchen gehört zu der mündlichen Erzühlungsliteratur. Aus dieser Tatsache ergeben sich nun noch einige weitere Entwicklungsbedingungen, die wenigstens kurz skizziert werden müssen. Erzähler und Hörer stehn im engsten Kontakt miteinander, im Banne einer gemeinsamen Stimmung. Im Banne dieser Stimmung werden die stärksten Gefühle im Hörer wach, die um so ele¬ mentarer sind, je triebmäßiger das Seelenleben ist. Der Ausbruch der Gefühle wird weder beim Kinde noch beim Naturmenschen durch den hemmenden Willen und den regulierenden Verstand eingeengt. Teilnahme und Mitleid auf der einen, Haß und Furcht auf der andern Seite begleiten den Verlauf der Er¬ zählung von den Abenteuern des Helden. Diese innere Erregung der Hörer wirkt nun belebend auf den Erzähler zurück; sie steigert seine eigne Teilnahme zu erhobner, rauschähnlicher Stimmung, die zu unmittelbarem, momentanen Schaffen aufregt. Zunächst wird diese Gemeinsamkeit der erregten Stimmung

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701/149>, abgerufen am 30.05.2024.