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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr.

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Naturwissenschaft und Theismus

Töpfe nur in einzelnen Fällen zu unterscheiden, z. B. die grünen Farbkörper
der Pflanzenzellen, in denen durch das Licht die Kohlensäure zersetzt wird."
Und ein geordneter Ablauf zahlreicher chemischer Reaktionen dicht nebeneinander
in einer Fabrik ist nur denkbar, "wenn jeder Topf von einem intelligenten
Arbeiter bedient wird. In der Pflanzen- und Tierzelle indessen sind keine
automatischen Einrichtungen erkennbar", von denen man denken könnte, daß sie
die intelligente Leitung ersetzten. "Wir können sie als unsichtbare Selbstregula-
tionen hinzudenken. Eine Maschine leistet nur etwas im Zustande der Be¬
wegung. Diese Bewegung besteht in der Verrichtung mechanischer Arbeit und
erfordert darum die Zufuhr von Energie. Die Energie vermag aber nur dann
das Beabsichtigte zu leisten, wenn ihre Arbeit gelenkt und geleitet wird durch
eine Struktur, deren Wirksamkeit als kausaler Faktor zur Arbeit hinzukommt."
An einer frühern Stelle ist dargelegt worden, daß Richtungsänderung als eine
Kraft bezeichnet werden muß, und zwar als eine, die nicht energetischer Natur
ist. Ein Nußknacker, der durch horizontalen Fingerdruck in Tätigkeit versetzt
wird, würde seine Arbeit nicht leisten, wenn nicht eine Schraube den horizon¬
talen in vertikalen Druck verwandelte. Jede Maschine wirkt nur dadurch, daß
ihre Formen die Energie zwingen, in einer bestimmten Richtung zu wirken.
Reinke nennt die in der Maschine zu einem System vereinigten Formen System¬
bedingungen oder Systemkrüfte. Kräfte müssen sie genannt werden, weil sie
wirken. Aber energetisch wirken sie nur insofern, als sie ohne zugeführte Energie
nichts leisten können. An sich sind sie nicht energetisch; denn die Energie ist
unzerstörbar, die Form, in der eben das wirksame der Systemkrüfte besteht, ist
zerstörbar, und während die Energie selbst arbeitet, arbeitet die Form nicht
durch sich selbst, sondern nur durch den Stoff, dem sie anhaftet, und der Energie
enthält, z. B. das Eisen. Dieselbe Form in Pappdeckel vermag nichts. Der
Punkt, an dem die Auffassung des Organismus als einer Maschine bestimmt
ein Ende hat (wenn man dieses Ende nicht schon beim Fehlen sichtbarer Leiter
der Arbeit und Bediener der Maschine gekommen sehen will), ist die Entstehung
der Organismen, ihre Fortpflanzung. "Es gibt keine Maschine, und sie ist auch
für die kühnste Phantasie nicht ausdenkbar, die ein El legte, aus dem in schritt¬
weiser Differenzierung die Teile einer neuen Maschine in harmonischem Zu¬
sammenhange hervorwüchsen____ Das Leben des Organismus besteht in
verwickelten Bewegungen, und diese sind der Ausdruck mannigfaltiger Arbeits¬
leistungen. Deren besondre Art ist gegeben in der Betriebsenergie und der
Konfiguration des Systems; diese setzt sich zusammen aus den einzelnen System¬
bedingungen. Die Energie ist nicht erblich; sie tritt von außen in den Organis¬
mus hinein. Die Systembedingungen vererben sich bei den Tieren und Pflanzen.
Sie werden aufgebaut in der Entwicklung, und hierfür sind besondre Kräfte
erforderlich, die gleichfalls vererbt werden, und die gleich den System¬
bedingungen nicht energetischer Art sind; ich habe sie Dominanten genannt.
Für den Organismus als arbeitendes und sich entwickelndes Wesen kommen


Naturwissenschaft und Theismus

Töpfe nur in einzelnen Fällen zu unterscheiden, z. B. die grünen Farbkörper
der Pflanzenzellen, in denen durch das Licht die Kohlensäure zersetzt wird."
Und ein geordneter Ablauf zahlreicher chemischer Reaktionen dicht nebeneinander
in einer Fabrik ist nur denkbar, „wenn jeder Topf von einem intelligenten
Arbeiter bedient wird. In der Pflanzen- und Tierzelle indessen sind keine
automatischen Einrichtungen erkennbar", von denen man denken könnte, daß sie
die intelligente Leitung ersetzten. „Wir können sie als unsichtbare Selbstregula-
tionen hinzudenken. Eine Maschine leistet nur etwas im Zustande der Be¬
wegung. Diese Bewegung besteht in der Verrichtung mechanischer Arbeit und
erfordert darum die Zufuhr von Energie. Die Energie vermag aber nur dann
das Beabsichtigte zu leisten, wenn ihre Arbeit gelenkt und geleitet wird durch
eine Struktur, deren Wirksamkeit als kausaler Faktor zur Arbeit hinzukommt."
An einer frühern Stelle ist dargelegt worden, daß Richtungsänderung als eine
Kraft bezeichnet werden muß, und zwar als eine, die nicht energetischer Natur
ist. Ein Nußknacker, der durch horizontalen Fingerdruck in Tätigkeit versetzt
wird, würde seine Arbeit nicht leisten, wenn nicht eine Schraube den horizon¬
talen in vertikalen Druck verwandelte. Jede Maschine wirkt nur dadurch, daß
ihre Formen die Energie zwingen, in einer bestimmten Richtung zu wirken.
Reinke nennt die in der Maschine zu einem System vereinigten Formen System¬
bedingungen oder Systemkrüfte. Kräfte müssen sie genannt werden, weil sie
wirken. Aber energetisch wirken sie nur insofern, als sie ohne zugeführte Energie
nichts leisten können. An sich sind sie nicht energetisch; denn die Energie ist
unzerstörbar, die Form, in der eben das wirksame der Systemkrüfte besteht, ist
zerstörbar, und während die Energie selbst arbeitet, arbeitet die Form nicht
durch sich selbst, sondern nur durch den Stoff, dem sie anhaftet, und der Energie
enthält, z. B. das Eisen. Dieselbe Form in Pappdeckel vermag nichts. Der
Punkt, an dem die Auffassung des Organismus als einer Maschine bestimmt
ein Ende hat (wenn man dieses Ende nicht schon beim Fehlen sichtbarer Leiter
der Arbeit und Bediener der Maschine gekommen sehen will), ist die Entstehung
der Organismen, ihre Fortpflanzung. „Es gibt keine Maschine, und sie ist auch
für die kühnste Phantasie nicht ausdenkbar, die ein El legte, aus dem in schritt¬
weiser Differenzierung die Teile einer neuen Maschine in harmonischem Zu¬
sammenhange hervorwüchsen____ Das Leben des Organismus besteht in
verwickelten Bewegungen, und diese sind der Ausdruck mannigfaltiger Arbeits¬
leistungen. Deren besondre Art ist gegeben in der Betriebsenergie und der
Konfiguration des Systems; diese setzt sich zusammen aus den einzelnen System¬
bedingungen. Die Energie ist nicht erblich; sie tritt von außen in den Organis¬
mus hinein. Die Systembedingungen vererben sich bei den Tieren und Pflanzen.
Sie werden aufgebaut in der Entwicklung, und hierfür sind besondre Kräfte
erforderlich, die gleichfalls vererbt werden, und die gleich den System¬
bedingungen nicht energetischer Art sind; ich habe sie Dominanten genannt.
Für den Organismus als arbeitendes und sich entwickelndes Wesen kommen


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[0191] Naturwissenschaft und Theismus Töpfe nur in einzelnen Fällen zu unterscheiden, z. B. die grünen Farbkörper der Pflanzenzellen, in denen durch das Licht die Kohlensäure zersetzt wird." Und ein geordneter Ablauf zahlreicher chemischer Reaktionen dicht nebeneinander in einer Fabrik ist nur denkbar, „wenn jeder Topf von einem intelligenten Arbeiter bedient wird. In der Pflanzen- und Tierzelle indessen sind keine automatischen Einrichtungen erkennbar", von denen man denken könnte, daß sie die intelligente Leitung ersetzten. „Wir können sie als unsichtbare Selbstregula- tionen hinzudenken. Eine Maschine leistet nur etwas im Zustande der Be¬ wegung. Diese Bewegung besteht in der Verrichtung mechanischer Arbeit und erfordert darum die Zufuhr von Energie. Die Energie vermag aber nur dann das Beabsichtigte zu leisten, wenn ihre Arbeit gelenkt und geleitet wird durch eine Struktur, deren Wirksamkeit als kausaler Faktor zur Arbeit hinzukommt." An einer frühern Stelle ist dargelegt worden, daß Richtungsänderung als eine Kraft bezeichnet werden muß, und zwar als eine, die nicht energetischer Natur ist. Ein Nußknacker, der durch horizontalen Fingerdruck in Tätigkeit versetzt wird, würde seine Arbeit nicht leisten, wenn nicht eine Schraube den horizon¬ talen in vertikalen Druck verwandelte. Jede Maschine wirkt nur dadurch, daß ihre Formen die Energie zwingen, in einer bestimmten Richtung zu wirken. Reinke nennt die in der Maschine zu einem System vereinigten Formen System¬ bedingungen oder Systemkrüfte. Kräfte müssen sie genannt werden, weil sie wirken. Aber energetisch wirken sie nur insofern, als sie ohne zugeführte Energie nichts leisten können. An sich sind sie nicht energetisch; denn die Energie ist unzerstörbar, die Form, in der eben das wirksame der Systemkrüfte besteht, ist zerstörbar, und während die Energie selbst arbeitet, arbeitet die Form nicht durch sich selbst, sondern nur durch den Stoff, dem sie anhaftet, und der Energie enthält, z. B. das Eisen. Dieselbe Form in Pappdeckel vermag nichts. Der Punkt, an dem die Auffassung des Organismus als einer Maschine bestimmt ein Ende hat (wenn man dieses Ende nicht schon beim Fehlen sichtbarer Leiter der Arbeit und Bediener der Maschine gekommen sehen will), ist die Entstehung der Organismen, ihre Fortpflanzung. „Es gibt keine Maschine, und sie ist auch für die kühnste Phantasie nicht ausdenkbar, die ein El legte, aus dem in schritt¬ weiser Differenzierung die Teile einer neuen Maschine in harmonischem Zu¬ sammenhange hervorwüchsen____ Das Leben des Organismus besteht in verwickelten Bewegungen, und diese sind der Ausdruck mannigfaltiger Arbeits¬ leistungen. Deren besondre Art ist gegeben in der Betriebsenergie und der Konfiguration des Systems; diese setzt sich zusammen aus den einzelnen System¬ bedingungen. Die Energie ist nicht erblich; sie tritt von außen in den Organis¬ mus hinein. Die Systembedingungen vererben sich bei den Tieren und Pflanzen. Sie werden aufgebaut in der Entwicklung, und hierfür sind besondre Kräfte erforderlich, die gleichfalls vererbt werden, und die gleich den System¬ bedingungen nicht energetischer Art sind; ich habe sie Dominanten genannt. Für den Organismus als arbeitendes und sich entwickelndes Wesen kommen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701/191>, abgerufen am 15.05.2024.