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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr.

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In Taschkend und auf dem neuen Schienenwege nach Vrenburg

seinen angenommnen Feldzugskonserven aufnötigte und jede Einladung unsrer¬
seits zu erwidern ängstlich bemüht war, er suchte auch seine paar deutschen
Brocken zusammen, um den Kameraden Angenehmes zu sagen, legte sich für
uns mit Bahnhofswirten und Kellnern an, bewachte auch gelegentlich unsre
Siebensachen und nahm tränenden Auges, uns alle nach russischer Sitte
küssend, am letzten Abend der gemeinsamen Fahrt von uns Abschied, nachdem
wir hinter Orenburg uns zu einer letzten Teestunde vereinigt hatten. Mehrfach
hat er von der Mandschurei geschrieben, ungeduldig unsre Gruppenbilder ver¬
langt und seinen Besuch in Aussicht gestellt. In den letzten Stunden vor
Orenburg lernten wir einen sehr gebildeten Stabsarzt kennen, der als Voll¬
blutrusse das Deutsch doch so rein sprach, wie man es nur auf guter Bühne
hört. Da er, wie alle Ärzte, durch sein Studium auf gründliche Kenntnis
unsrer Muttersprache angewiesen war und außerdem deutsche Universitäten
besucht hatte, wars erklärlich.

Gelegentliche Gäste in unserm Wagen waren zwei überaus stattliche
Chinesen. Sie radebrechten in lispelnder Sprechweise Russisch, verschworen sich
"bei Gott" und boten rohseidne Waren feil; sie erschienen immer wieder mit
neuen Stücken -- wunderbar, wie sie die Massen über die Grenze geschmuggelt
und als Handgepäck befördert hatten -- ergötzlich die Basarfiliale, die sie auf¬
laden, und die natürlich das weibliche Element besonders anzog. Da die gelbliche
Rohseide ein sehr beliebter Kleidungsstoff in den heißen Sommermonaten im
mittlern und südlichen Rußland ist, so war der Handel äußerst rege. Was
der Zug in der dritten Klasse beherbergte, war nur zum Teil durchreisendes
Publikum, zum andern Teil kleine Beamte, Sarten und Kirgisen, die ein paar
Stationen weit reisten. Hinter Kasalinsk waren die Sarten gänzlich verschwunden,
dagegen mehrten sich die in die Heimat fahrender Russen. Auch Reservisten
für die Mandschureiarmee fanden sich ein und -- bettelten sich zu ihren kümmer¬
lichen achtzehn Kopeken täglicher Verpflegungsgclder noch etwas na tschai, zum
Tee, das heißt zum Wodka zusammen, liefen aber bei unserm Kapitantschik
übel an. Das Problem, in die kleinen Wagen dritter Klasse die üblichen vierzig
Mann zu stecken und ihnen trotzdem Schlafgelegenheit zu geben, war durch
Anbringung von zwei übereinander herauszuklappenden obern Pritschen an
jeder Längswand und einer Fensterwand des Abdens glänzend gelöst. Rätsel¬
haft blieb doch, wie das vom reisenden Russen unabtrennbare Massenhand¬
gepäck verstaut werden konnte. Die Luft in der Hölle kann aber kaum ärger
sein als das Gemisch von stinkendem Atem und dem Geruch von nie ge¬
lüfteten, dauernd getragnen Kleidern, ungereinigten Menschenleibern und aller¬
hand Speiseresten in diesen sorgfältig verschlossenen, mit Doppeltüren ver¬
sehenen Wagen.




Grenzboten III 190727
In Taschkend und auf dem neuen Schienenwege nach Vrenburg

seinen angenommnen Feldzugskonserven aufnötigte und jede Einladung unsrer¬
seits zu erwidern ängstlich bemüht war, er suchte auch seine paar deutschen
Brocken zusammen, um den Kameraden Angenehmes zu sagen, legte sich für
uns mit Bahnhofswirten und Kellnern an, bewachte auch gelegentlich unsre
Siebensachen und nahm tränenden Auges, uns alle nach russischer Sitte
küssend, am letzten Abend der gemeinsamen Fahrt von uns Abschied, nachdem
wir hinter Orenburg uns zu einer letzten Teestunde vereinigt hatten. Mehrfach
hat er von der Mandschurei geschrieben, ungeduldig unsre Gruppenbilder ver¬
langt und seinen Besuch in Aussicht gestellt. In den letzten Stunden vor
Orenburg lernten wir einen sehr gebildeten Stabsarzt kennen, der als Voll¬
blutrusse das Deutsch doch so rein sprach, wie man es nur auf guter Bühne
hört. Da er, wie alle Ärzte, durch sein Studium auf gründliche Kenntnis
unsrer Muttersprache angewiesen war und außerdem deutsche Universitäten
besucht hatte, wars erklärlich.

Gelegentliche Gäste in unserm Wagen waren zwei überaus stattliche
Chinesen. Sie radebrechten in lispelnder Sprechweise Russisch, verschworen sich
„bei Gott" und boten rohseidne Waren feil; sie erschienen immer wieder mit
neuen Stücken — wunderbar, wie sie die Massen über die Grenze geschmuggelt
und als Handgepäck befördert hatten — ergötzlich die Basarfiliale, die sie auf¬
laden, und die natürlich das weibliche Element besonders anzog. Da die gelbliche
Rohseide ein sehr beliebter Kleidungsstoff in den heißen Sommermonaten im
mittlern und südlichen Rußland ist, so war der Handel äußerst rege. Was
der Zug in der dritten Klasse beherbergte, war nur zum Teil durchreisendes
Publikum, zum andern Teil kleine Beamte, Sarten und Kirgisen, die ein paar
Stationen weit reisten. Hinter Kasalinsk waren die Sarten gänzlich verschwunden,
dagegen mehrten sich die in die Heimat fahrender Russen. Auch Reservisten
für die Mandschureiarmee fanden sich ein und — bettelten sich zu ihren kümmer¬
lichen achtzehn Kopeken täglicher Verpflegungsgclder noch etwas na tschai, zum
Tee, das heißt zum Wodka zusammen, liefen aber bei unserm Kapitantschik
übel an. Das Problem, in die kleinen Wagen dritter Klasse die üblichen vierzig
Mann zu stecken und ihnen trotzdem Schlafgelegenheit zu geben, war durch
Anbringung von zwei übereinander herauszuklappenden obern Pritschen an
jeder Längswand und einer Fensterwand des Abdens glänzend gelöst. Rätsel¬
haft blieb doch, wie das vom reisenden Russen unabtrennbare Massenhand¬
gepäck verstaut werden konnte. Die Luft in der Hölle kann aber kaum ärger
sein als das Gemisch von stinkendem Atem und dem Geruch von nie ge¬
lüfteten, dauernd getragnen Kleidern, ungereinigten Menschenleibern und aller¬
hand Speiseresten in diesen sorgfältig verschlossenen, mit Doppeltüren ver¬
sehenen Wagen.




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[0209] In Taschkend und auf dem neuen Schienenwege nach Vrenburg seinen angenommnen Feldzugskonserven aufnötigte und jede Einladung unsrer¬ seits zu erwidern ängstlich bemüht war, er suchte auch seine paar deutschen Brocken zusammen, um den Kameraden Angenehmes zu sagen, legte sich für uns mit Bahnhofswirten und Kellnern an, bewachte auch gelegentlich unsre Siebensachen und nahm tränenden Auges, uns alle nach russischer Sitte küssend, am letzten Abend der gemeinsamen Fahrt von uns Abschied, nachdem wir hinter Orenburg uns zu einer letzten Teestunde vereinigt hatten. Mehrfach hat er von der Mandschurei geschrieben, ungeduldig unsre Gruppenbilder ver¬ langt und seinen Besuch in Aussicht gestellt. In den letzten Stunden vor Orenburg lernten wir einen sehr gebildeten Stabsarzt kennen, der als Voll¬ blutrusse das Deutsch doch so rein sprach, wie man es nur auf guter Bühne hört. Da er, wie alle Ärzte, durch sein Studium auf gründliche Kenntnis unsrer Muttersprache angewiesen war und außerdem deutsche Universitäten besucht hatte, wars erklärlich. Gelegentliche Gäste in unserm Wagen waren zwei überaus stattliche Chinesen. Sie radebrechten in lispelnder Sprechweise Russisch, verschworen sich „bei Gott" und boten rohseidne Waren feil; sie erschienen immer wieder mit neuen Stücken — wunderbar, wie sie die Massen über die Grenze geschmuggelt und als Handgepäck befördert hatten — ergötzlich die Basarfiliale, die sie auf¬ laden, und die natürlich das weibliche Element besonders anzog. Da die gelbliche Rohseide ein sehr beliebter Kleidungsstoff in den heißen Sommermonaten im mittlern und südlichen Rußland ist, so war der Handel äußerst rege. Was der Zug in der dritten Klasse beherbergte, war nur zum Teil durchreisendes Publikum, zum andern Teil kleine Beamte, Sarten und Kirgisen, die ein paar Stationen weit reisten. Hinter Kasalinsk waren die Sarten gänzlich verschwunden, dagegen mehrten sich die in die Heimat fahrender Russen. Auch Reservisten für die Mandschureiarmee fanden sich ein und — bettelten sich zu ihren kümmer¬ lichen achtzehn Kopeken täglicher Verpflegungsgclder noch etwas na tschai, zum Tee, das heißt zum Wodka zusammen, liefen aber bei unserm Kapitantschik übel an. Das Problem, in die kleinen Wagen dritter Klasse die üblichen vierzig Mann zu stecken und ihnen trotzdem Schlafgelegenheit zu geben, war durch Anbringung von zwei übereinander herauszuklappenden obern Pritschen an jeder Längswand und einer Fensterwand des Abdens glänzend gelöst. Rätsel¬ haft blieb doch, wie das vom reisenden Russen unabtrennbare Massenhand¬ gepäck verstaut werden konnte. Die Luft in der Hölle kann aber kaum ärger sein als das Gemisch von stinkendem Atem und dem Geruch von nie ge¬ lüfteten, dauernd getragnen Kleidern, ungereinigten Menschenleibern und aller¬ hand Speiseresten in diesen sorgfältig verschlossenen, mit Doppeltüren ver¬ sehenen Wagen. Grenzboten III 190727

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701/209>, abgerufen am 16.05.2024.