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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr.

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Papst Pius der Zehnte

tatsächliche Geltung der Kirche nicht nur keinen Fortschritt gemacht, sondern
bedeutende Einbuße erlitten hat.

Es gibt eine Menge Episoden, die sich als Belege dieser Kennzeichnung
verwenden ließen. Allein der päpstliche Brief an den Wiener Professor Commer,
der Schelk und seine Arbeit verurteilt, wäre nach seinem Inhalt und seinen
Begleitumständen zureichend, um die Richtung und Methode Pius des Zehnten
zu erklären und anzudeuten, wie sich gerade unter ihm zum Beispiel die Kata¬
strophe in Frankreich überhaupt und mit solcher Heftigkeit hat ereignen können.
Hierbei wären jedoch sehr vielfältige Voraussetzungen und Einwirkungen in Be¬
tracht zu ziehen, die sich an sich und in ihrer Tragweite bei weitem nicht einfach
und präzis genug umschreiben lassen, als daß man sie im Gefüge einer ge¬
drängten Darstellung der Eigenart einer Persönlichkeit, und sei diese auch noch
so hervorragend und mächtig, überzeugend verwerten könnte. Es ist darum
richtiger, sich an die Äußerungen und Handlungen Pius des Zehnten zu halten,
die er ohne zwingenden äußern Anlaß und ohne wesentliche Beeinflussung
durch die nicht durchaus selbstgewählten Berater als planmäßige Kundgebungen
seiner Überzeugung und seines Willens getan hat.

, Die Enzyklika vom 4. Oktober 1903 snimni "xostol^tus eatlisära, mit
der Pius der Zehnte der Welt zum erstenmal die Kenntnis seines Gedanken¬
ganges vermittelte, macht im allgemeinen den Eindruck, daß sich der neue Papst
in seine große Rolle noch nicht recht hineingefunden habe, und zeigt das Be¬
dürfnis des Neulings, allenthalben zugleich ad c>?o zu reformieren und originale
Gedanken zu offenbaren; sie ist, mit andern Worten, bei allem Ernst naiv, bei
aller Systematik unsystematisch, bei aller Originalität doch der Ausfluß einer
geistigen Überlastung mit unpersönlichen überlieferten Begriffen. Im besondern
geht aus ihr zunächst hervor, daß Pius der Zehnte eine Religiosität neben dem
Bekenntnis des traditionell katholischen festen Dogmen- und Kultussystems oder
als wesentlich subjektives Erleben nicht kennt und nicht hat, also auch bei
andern nicht als faktisch oder berechtigt anerkennt. Er will als Papst durchaus
nicht sowohl ein Vorbild religiösen Verhaltens sein als vielmehr ein Regent
der Menschen in jeder Angelegenheit erkennenden und praktischen Verhaltens;
in jeder, da nichts der Universalität des Religiösen und damit der Autorität
der im Papste personifizierten Kirche entzogen sei. Die Menschheit ist ver¬
derbt, so klagt er, und geht ihrem Ruin entgegen; in der Menschenherde tobt
mit zunehmender "Kultur" ein immer heftigerer und hartnäckigerer Kampf
aller gegen alle. Das liegt, erklärt Pius, an dem sich ausbreitenden und ver¬
tiefenden "Abfall von Gott", und Friede, Heil und Ordnung sind nur dadurch
zu erreichen, das "alles" wieder aufgebaut werde "in Christo": alles soll
Christus sein, und in allem soll Christus sein. Der Papst faßt in diesem
Sinne seine eignen Pläne in die Worte: "Gottes Interessen werden auch
unsre Interessen sein", nachdem er es als seinen Beruf bezeichnet hat, Gottes
Autorität unter den Menschen zu repräsentieren.


Papst Pius der Zehnte

tatsächliche Geltung der Kirche nicht nur keinen Fortschritt gemacht, sondern
bedeutende Einbuße erlitten hat.

Es gibt eine Menge Episoden, die sich als Belege dieser Kennzeichnung
verwenden ließen. Allein der päpstliche Brief an den Wiener Professor Commer,
der Schelk und seine Arbeit verurteilt, wäre nach seinem Inhalt und seinen
Begleitumständen zureichend, um die Richtung und Methode Pius des Zehnten
zu erklären und anzudeuten, wie sich gerade unter ihm zum Beispiel die Kata¬
strophe in Frankreich überhaupt und mit solcher Heftigkeit hat ereignen können.
Hierbei wären jedoch sehr vielfältige Voraussetzungen und Einwirkungen in Be¬
tracht zu ziehen, die sich an sich und in ihrer Tragweite bei weitem nicht einfach
und präzis genug umschreiben lassen, als daß man sie im Gefüge einer ge¬
drängten Darstellung der Eigenart einer Persönlichkeit, und sei diese auch noch
so hervorragend und mächtig, überzeugend verwerten könnte. Es ist darum
richtiger, sich an die Äußerungen und Handlungen Pius des Zehnten zu halten,
die er ohne zwingenden äußern Anlaß und ohne wesentliche Beeinflussung
durch die nicht durchaus selbstgewählten Berater als planmäßige Kundgebungen
seiner Überzeugung und seines Willens getan hat.

, Die Enzyklika vom 4. Oktober 1903 snimni »xostol^tus eatlisära, mit
der Pius der Zehnte der Welt zum erstenmal die Kenntnis seines Gedanken¬
ganges vermittelte, macht im allgemeinen den Eindruck, daß sich der neue Papst
in seine große Rolle noch nicht recht hineingefunden habe, und zeigt das Be¬
dürfnis des Neulings, allenthalben zugleich ad c>?o zu reformieren und originale
Gedanken zu offenbaren; sie ist, mit andern Worten, bei allem Ernst naiv, bei
aller Systematik unsystematisch, bei aller Originalität doch der Ausfluß einer
geistigen Überlastung mit unpersönlichen überlieferten Begriffen. Im besondern
geht aus ihr zunächst hervor, daß Pius der Zehnte eine Religiosität neben dem
Bekenntnis des traditionell katholischen festen Dogmen- und Kultussystems oder
als wesentlich subjektives Erleben nicht kennt und nicht hat, also auch bei
andern nicht als faktisch oder berechtigt anerkennt. Er will als Papst durchaus
nicht sowohl ein Vorbild religiösen Verhaltens sein als vielmehr ein Regent
der Menschen in jeder Angelegenheit erkennenden und praktischen Verhaltens;
in jeder, da nichts der Universalität des Religiösen und damit der Autorität
der im Papste personifizierten Kirche entzogen sei. Die Menschheit ist ver¬
derbt, so klagt er, und geht ihrem Ruin entgegen; in der Menschenherde tobt
mit zunehmender „Kultur" ein immer heftigerer und hartnäckigerer Kampf
aller gegen alle. Das liegt, erklärt Pius, an dem sich ausbreitenden und ver¬
tiefenden „Abfall von Gott", und Friede, Heil und Ordnung sind nur dadurch
zu erreichen, das „alles" wieder aufgebaut werde „in Christo": alles soll
Christus sein, und in allem soll Christus sein. Der Papst faßt in diesem
Sinne seine eignen Pläne in die Worte: „Gottes Interessen werden auch
unsre Interessen sein", nachdem er es als seinen Beruf bezeichnet hat, Gottes
Autorität unter den Menschen zu repräsentieren.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701/226>, abgerufen am 15.05.2024.