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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr.

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Papst plus der Zehnte

jeder Gewalttätigkeit und drohenden Agitation in Massen zu enthalten. Dem
gegenüber sollen die Gerechtigkeitspflichten des Arbeitgebers bestehen (8) darin,
daß er richtigen Lohn zahlt, daß er seine Arbeiter nicht schädigt an ihren Er¬
sparnissen durch Gewalt oder Betrug oder Wucher, daß er sie vor religiösen
und moralischen Gefahren bewahrt, daß er sie dem Familienleben und dem Sparen
befreundet, daß er die Kräfte namentlich der weiblichen und der jugendlichen
Arbeiter nicht mißbraucht. Die Nächstenliebe besteht (9 und 10) für den Reichen
im Unterstützen der Armen und für den Armen in der Annahme der milden
Gaben der Reichen und darin, daß er ob seiner Armut nicht erröte. Im 11. Satze
erkennt Pius der Zehnte in offenbarem Widerspruch gegen seine voraufgehenden
Thesen die Tatsache und Berechtigung einer Arbeiterfrage an. Zu deren Lösung
empfiehlt er die Bildung von Gegenseitigkeitsgesellschaften, die Gründung von
Versicherungsanstalten, Maßnahmen für Kinderschutz und die Schaffung von
Gcwerkvereinen, er erklärt die Betätigung in dieser Richtung als die Aufgabe
und den alleinigen Beruf der "christlichen Demokratie". Diese "christliche
Demokratie", wie noch zu zeigen sein wird, das Sorgenkind des Papstes, läßt,
so will es Satz 13, im Gegensatz zur Sozialdemokratie das Privateigentum
unangetastet und gründet sich auf Evangelium und Naturrecht(I); sie darf sich
niemals mit Politik befassen und hat sich im besondern unter den gegenwärtigen
Umständen in Italien der sorgfältigsten Nachachtung der der staatsbürgerlichen
Betätigung aller Katholiken gesetzten Beschränkungen zu befleißigen, übrigens auch,
wie s,ä 14 und 15 betont wird, in allen sonstigen Dingen der kirchlichen Behörde
absoluten Gehorsam zu bewahren. Eben in diesem Sinne gebieten die vier letzten
Sätze des Erlasses allen katholischen Schriftstellern den absoluten Gehorsam gegen
die Bischöfe und den Papst, Zahmheit der Feder in jeder Beziehung und Unter¬
werfung ihrer sämtlichen religiösen, mvralistischen und sozialpolitischen Schriften
unter die Präventivzensur der Bischöfe.

Die Spitze dieser einer sachlichen Prüfung hier nicht bedürfenden und für
ihren Verfasser so charakteristischen Behauptungen und Ansprüche ist gegen die
"christliche Demokratie" insofern gerichtet, als diese tatsächlich weit ent¬
fernt ist von der Erfüllung dessen, was der Papst als ihren Beruf erachtet.
Zunächst streben die italienischen christlichen Demokraten, auch "die Modernisten"
und "die Jungen" genannt, nach Autonomie der Organisation, nach Freiheit
von der Aufsicht und Bestimmung der Bischöfe. Sodann sind sie der wahrlich
nicht unbegründeten Meinung, daß die Bischöfe und die Kirche auf sozial¬
politischen Felde zwar sehr viel versprochen, aber noch nichts gehalten haben,
und demzufolge erklären sie, daß die Bischöfe von Volkswirtschaft und sozialem
Leben viel zu wenig verstehen, als daß sie eine wirtschaftlich-soziale Organisation
leiten könnten, und daß es übrigens auch ihrem geistlichen Beruf nicht gemäß
sei, sich in den naturnotwendigen Zwist und Kampf der Volksparteien parteiisch
hineinzustellen. Endlich hat ihr erster Wortführer, der Geistliche Romolo Murri.
rund heraus bestritten, daß sich die Kompetenz des Papstes und der Bischöfe


Papst plus der Zehnte

jeder Gewalttätigkeit und drohenden Agitation in Massen zu enthalten. Dem
gegenüber sollen die Gerechtigkeitspflichten des Arbeitgebers bestehen (8) darin,
daß er richtigen Lohn zahlt, daß er seine Arbeiter nicht schädigt an ihren Er¬
sparnissen durch Gewalt oder Betrug oder Wucher, daß er sie vor religiösen
und moralischen Gefahren bewahrt, daß er sie dem Familienleben und dem Sparen
befreundet, daß er die Kräfte namentlich der weiblichen und der jugendlichen
Arbeiter nicht mißbraucht. Die Nächstenliebe besteht (9 und 10) für den Reichen
im Unterstützen der Armen und für den Armen in der Annahme der milden
Gaben der Reichen und darin, daß er ob seiner Armut nicht erröte. Im 11. Satze
erkennt Pius der Zehnte in offenbarem Widerspruch gegen seine voraufgehenden
Thesen die Tatsache und Berechtigung einer Arbeiterfrage an. Zu deren Lösung
empfiehlt er die Bildung von Gegenseitigkeitsgesellschaften, die Gründung von
Versicherungsanstalten, Maßnahmen für Kinderschutz und die Schaffung von
Gcwerkvereinen, er erklärt die Betätigung in dieser Richtung als die Aufgabe
und den alleinigen Beruf der „christlichen Demokratie". Diese „christliche
Demokratie", wie noch zu zeigen sein wird, das Sorgenkind des Papstes, läßt,
so will es Satz 13, im Gegensatz zur Sozialdemokratie das Privateigentum
unangetastet und gründet sich auf Evangelium und Naturrecht(I); sie darf sich
niemals mit Politik befassen und hat sich im besondern unter den gegenwärtigen
Umständen in Italien der sorgfältigsten Nachachtung der der staatsbürgerlichen
Betätigung aller Katholiken gesetzten Beschränkungen zu befleißigen, übrigens auch,
wie s,ä 14 und 15 betont wird, in allen sonstigen Dingen der kirchlichen Behörde
absoluten Gehorsam zu bewahren. Eben in diesem Sinne gebieten die vier letzten
Sätze des Erlasses allen katholischen Schriftstellern den absoluten Gehorsam gegen
die Bischöfe und den Papst, Zahmheit der Feder in jeder Beziehung und Unter¬
werfung ihrer sämtlichen religiösen, mvralistischen und sozialpolitischen Schriften
unter die Präventivzensur der Bischöfe.

Die Spitze dieser einer sachlichen Prüfung hier nicht bedürfenden und für
ihren Verfasser so charakteristischen Behauptungen und Ansprüche ist gegen die
„christliche Demokratie" insofern gerichtet, als diese tatsächlich weit ent¬
fernt ist von der Erfüllung dessen, was der Papst als ihren Beruf erachtet.
Zunächst streben die italienischen christlichen Demokraten, auch „die Modernisten"
und „die Jungen" genannt, nach Autonomie der Organisation, nach Freiheit
von der Aufsicht und Bestimmung der Bischöfe. Sodann sind sie der wahrlich
nicht unbegründeten Meinung, daß die Bischöfe und die Kirche auf sozial¬
politischen Felde zwar sehr viel versprochen, aber noch nichts gehalten haben,
und demzufolge erklären sie, daß die Bischöfe von Volkswirtschaft und sozialem
Leben viel zu wenig verstehen, als daß sie eine wirtschaftlich-soziale Organisation
leiten könnten, und daß es übrigens auch ihrem geistlichen Beruf nicht gemäß
sei, sich in den naturnotwendigen Zwist und Kampf der Volksparteien parteiisch
hineinzustellen. Endlich hat ihr erster Wortführer, der Geistliche Romolo Murri.
rund heraus bestritten, daß sich die Kompetenz des Papstes und der Bischöfe


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[0232] Papst plus der Zehnte jeder Gewalttätigkeit und drohenden Agitation in Massen zu enthalten. Dem gegenüber sollen die Gerechtigkeitspflichten des Arbeitgebers bestehen (8) darin, daß er richtigen Lohn zahlt, daß er seine Arbeiter nicht schädigt an ihren Er¬ sparnissen durch Gewalt oder Betrug oder Wucher, daß er sie vor religiösen und moralischen Gefahren bewahrt, daß er sie dem Familienleben und dem Sparen befreundet, daß er die Kräfte namentlich der weiblichen und der jugendlichen Arbeiter nicht mißbraucht. Die Nächstenliebe besteht (9 und 10) für den Reichen im Unterstützen der Armen und für den Armen in der Annahme der milden Gaben der Reichen und darin, daß er ob seiner Armut nicht erröte. Im 11. Satze erkennt Pius der Zehnte in offenbarem Widerspruch gegen seine voraufgehenden Thesen die Tatsache und Berechtigung einer Arbeiterfrage an. Zu deren Lösung empfiehlt er die Bildung von Gegenseitigkeitsgesellschaften, die Gründung von Versicherungsanstalten, Maßnahmen für Kinderschutz und die Schaffung von Gcwerkvereinen, er erklärt die Betätigung in dieser Richtung als die Aufgabe und den alleinigen Beruf der „christlichen Demokratie". Diese „christliche Demokratie", wie noch zu zeigen sein wird, das Sorgenkind des Papstes, läßt, so will es Satz 13, im Gegensatz zur Sozialdemokratie das Privateigentum unangetastet und gründet sich auf Evangelium und Naturrecht(I); sie darf sich niemals mit Politik befassen und hat sich im besondern unter den gegenwärtigen Umständen in Italien der sorgfältigsten Nachachtung der der staatsbürgerlichen Betätigung aller Katholiken gesetzten Beschränkungen zu befleißigen, übrigens auch, wie s,ä 14 und 15 betont wird, in allen sonstigen Dingen der kirchlichen Behörde absoluten Gehorsam zu bewahren. Eben in diesem Sinne gebieten die vier letzten Sätze des Erlasses allen katholischen Schriftstellern den absoluten Gehorsam gegen die Bischöfe und den Papst, Zahmheit der Feder in jeder Beziehung und Unter¬ werfung ihrer sämtlichen religiösen, mvralistischen und sozialpolitischen Schriften unter die Präventivzensur der Bischöfe. Die Spitze dieser einer sachlichen Prüfung hier nicht bedürfenden und für ihren Verfasser so charakteristischen Behauptungen und Ansprüche ist gegen die „christliche Demokratie" insofern gerichtet, als diese tatsächlich weit ent¬ fernt ist von der Erfüllung dessen, was der Papst als ihren Beruf erachtet. Zunächst streben die italienischen christlichen Demokraten, auch „die Modernisten" und „die Jungen" genannt, nach Autonomie der Organisation, nach Freiheit von der Aufsicht und Bestimmung der Bischöfe. Sodann sind sie der wahrlich nicht unbegründeten Meinung, daß die Bischöfe und die Kirche auf sozial¬ politischen Felde zwar sehr viel versprochen, aber noch nichts gehalten haben, und demzufolge erklären sie, daß die Bischöfe von Volkswirtschaft und sozialem Leben viel zu wenig verstehen, als daß sie eine wirtschaftlich-soziale Organisation leiten könnten, und daß es übrigens auch ihrem geistlichen Beruf nicht gemäß sei, sich in den naturnotwendigen Zwist und Kampf der Volksparteien parteiisch hineinzustellen. Endlich hat ihr erster Wortführer, der Geistliche Romolo Murri. rund heraus bestritten, daß sich die Kompetenz des Papstes und der Bischöfe

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701/232>, abgerufen am 31.05.2024.