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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr.

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Papst Pius der Zehnte

neue Orientierung des christlichen Lebens, auf neue Richtung der Kirche, auf
neue Aspirationen des modernen Geistes, auf neue soziale Berufe des Klerus,
auf neue christliche Kultur und dergleichen."

Es kann somit kaum wundernehmen, daß unter Pius dem Zehnten die
Kongregation des Inäsx librorum xrokibiwrurn emsig zu schaffen gehabt hat,
und daß ein neuer Syllabus der Verurteilungen von fünfundsechzig "modernen
Irrtümern" hat zur Welt kommen können. Pius der Zehnte sagt keiner
geistigen Entwicklung ein gutes Wort nach, er erachtet das Tridentiner Konzil
als der Erkenntnis letzten Schluß und lehnt jedes Produkt angeblich treuer
Bibelauslegung und Weltbeobachtung g, limiiw ab. Sechsmal hat er sich in
den vier Jahren seiner Herrschaft über das Vibelstudium geäußert: in einem
Schreiben vom 28. Februar 1904 Lorixwrag Lg-melas, in einem Briefe an den
Bischof Le Camus von la Rochelle vom 11. Januar 1906, in einem Schreiben
vom 27. März 1906 (juoniani in rs didliea und in drei Entscheidungen über
die stillschweigenden Bibelzitierungen (13. Februar 1905), die nur scheinbar
historischen Erzählungen (23. Juni 1905) und die mosaische Echtheit des Penta-
teuchs (27. Juni 1906). In allen zusammen aber ist ein "Studium" der
Bibel nur in dem Rahmen der mehr oder minder kleinlichen philologischen
Untersuchungen freigegeben, und von irgendwelcher ernstlichen Erörterung des
Gehalts der Bibel oder irgendwelcher durch sie nahegelegten naturwissenschaft¬
lichen Bemühung ist so wenig die Rede, daß Pius der Zehnte sogar das in
der letzten Zeit einigermaßen in Erkenntnisförderung "ausgeartete" Auslegen
der Lehren des heiligen Thomas von Aquino damit inhibiert hat, daß er die
"Auslegungen" künftig nur den speziellen päpstlichen Anweisungen gemäß er¬
laubt. "Der Heilige Vater, so schrieb ferner der Kardinalstaatssekretär Merry
del Val mit Bezug auf die feierlichst verdammten Schriften des Abbe Loisy an
den Erzbischof von Paris, hat, tief betrübt und besorgt um die unheilvollen
Wirkungen, die Schriften dieser Art angestiftet haben und noch anstiften können,
sie dem obersten Gericht des Heiligen Offiziums unterbreiten wollen und dessen
Verdammungsurteil voll gebilligt." Und was hatte Loisy in seinen Schriften
so "Unheilvolles" behauptet? Nach den Aussagen seiner Ankläger selbst nichts
Weiter als: "1. Die Heilige Schrift enthält historische, wissenschaftliche und selbst
Lehrirrtümer, die die Irrtümer der Umgebung und der Zeit widerspiegeln, worin
sie verfaßt wurde. 2. Die einzige Wahrheit, die man in der Heiligen Schrift
suchen muß, ist die religiöse Wahrheit; aber wenn es der Kirche allein zukommt,
diese Wahrheit auszulegen, so kann diese Auslegung doch mit den Jahrhunderten
wechseln. 3. Die Lehre der religiösen Wahrheit hat eine relative Seite, die
aus den Formeln besteht, die sie ausdrücken; die Formeln sind beständigen Ver¬
änderungen und Umgestaltungen unterworfen. 4. Die wesentlichen Elemente
des Evangeliums sind drei an der Zahl, der Begriff des Reiches Gottes, der
Begriff des Messias und der Begriff des Apostolats oder der Predigt des
Reiches Gottes. 5. Jesus hat sich im Evangelium damit begnügt, nur die


Papst Pius der Zehnte

neue Orientierung des christlichen Lebens, auf neue Richtung der Kirche, auf
neue Aspirationen des modernen Geistes, auf neue soziale Berufe des Klerus,
auf neue christliche Kultur und dergleichen."

Es kann somit kaum wundernehmen, daß unter Pius dem Zehnten die
Kongregation des Inäsx librorum xrokibiwrurn emsig zu schaffen gehabt hat,
und daß ein neuer Syllabus der Verurteilungen von fünfundsechzig „modernen
Irrtümern" hat zur Welt kommen können. Pius der Zehnte sagt keiner
geistigen Entwicklung ein gutes Wort nach, er erachtet das Tridentiner Konzil
als der Erkenntnis letzten Schluß und lehnt jedes Produkt angeblich treuer
Bibelauslegung und Weltbeobachtung g, limiiw ab. Sechsmal hat er sich in
den vier Jahren seiner Herrschaft über das Vibelstudium geäußert: in einem
Schreiben vom 28. Februar 1904 Lorixwrag Lg-melas, in einem Briefe an den
Bischof Le Camus von la Rochelle vom 11. Januar 1906, in einem Schreiben
vom 27. März 1906 (juoniani in rs didliea und in drei Entscheidungen über
die stillschweigenden Bibelzitierungen (13. Februar 1905), die nur scheinbar
historischen Erzählungen (23. Juni 1905) und die mosaische Echtheit des Penta-
teuchs (27. Juni 1906). In allen zusammen aber ist ein „Studium" der
Bibel nur in dem Rahmen der mehr oder minder kleinlichen philologischen
Untersuchungen freigegeben, und von irgendwelcher ernstlichen Erörterung des
Gehalts der Bibel oder irgendwelcher durch sie nahegelegten naturwissenschaft¬
lichen Bemühung ist so wenig die Rede, daß Pius der Zehnte sogar das in
der letzten Zeit einigermaßen in Erkenntnisförderung „ausgeartete" Auslegen
der Lehren des heiligen Thomas von Aquino damit inhibiert hat, daß er die
„Auslegungen" künftig nur den speziellen päpstlichen Anweisungen gemäß er¬
laubt. „Der Heilige Vater, so schrieb ferner der Kardinalstaatssekretär Merry
del Val mit Bezug auf die feierlichst verdammten Schriften des Abbe Loisy an
den Erzbischof von Paris, hat, tief betrübt und besorgt um die unheilvollen
Wirkungen, die Schriften dieser Art angestiftet haben und noch anstiften können,
sie dem obersten Gericht des Heiligen Offiziums unterbreiten wollen und dessen
Verdammungsurteil voll gebilligt." Und was hatte Loisy in seinen Schriften
so „Unheilvolles" behauptet? Nach den Aussagen seiner Ankläger selbst nichts
Weiter als: „1. Die Heilige Schrift enthält historische, wissenschaftliche und selbst
Lehrirrtümer, die die Irrtümer der Umgebung und der Zeit widerspiegeln, worin
sie verfaßt wurde. 2. Die einzige Wahrheit, die man in der Heiligen Schrift
suchen muß, ist die religiöse Wahrheit; aber wenn es der Kirche allein zukommt,
diese Wahrheit auszulegen, so kann diese Auslegung doch mit den Jahrhunderten
wechseln. 3. Die Lehre der religiösen Wahrheit hat eine relative Seite, die
aus den Formeln besteht, die sie ausdrücken; die Formeln sind beständigen Ver¬
änderungen und Umgestaltungen unterworfen. 4. Die wesentlichen Elemente
des Evangeliums sind drei an der Zahl, der Begriff des Reiches Gottes, der
Begriff des Messias und der Begriff des Apostolats oder der Predigt des
Reiches Gottes. 5. Jesus hat sich im Evangelium damit begnügt, nur die


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[0234] Papst Pius der Zehnte neue Orientierung des christlichen Lebens, auf neue Richtung der Kirche, auf neue Aspirationen des modernen Geistes, auf neue soziale Berufe des Klerus, auf neue christliche Kultur und dergleichen." Es kann somit kaum wundernehmen, daß unter Pius dem Zehnten die Kongregation des Inäsx librorum xrokibiwrurn emsig zu schaffen gehabt hat, und daß ein neuer Syllabus der Verurteilungen von fünfundsechzig „modernen Irrtümern" hat zur Welt kommen können. Pius der Zehnte sagt keiner geistigen Entwicklung ein gutes Wort nach, er erachtet das Tridentiner Konzil als der Erkenntnis letzten Schluß und lehnt jedes Produkt angeblich treuer Bibelauslegung und Weltbeobachtung g, limiiw ab. Sechsmal hat er sich in den vier Jahren seiner Herrschaft über das Vibelstudium geäußert: in einem Schreiben vom 28. Februar 1904 Lorixwrag Lg-melas, in einem Briefe an den Bischof Le Camus von la Rochelle vom 11. Januar 1906, in einem Schreiben vom 27. März 1906 (juoniani in rs didliea und in drei Entscheidungen über die stillschweigenden Bibelzitierungen (13. Februar 1905), die nur scheinbar historischen Erzählungen (23. Juni 1905) und die mosaische Echtheit des Penta- teuchs (27. Juni 1906). In allen zusammen aber ist ein „Studium" der Bibel nur in dem Rahmen der mehr oder minder kleinlichen philologischen Untersuchungen freigegeben, und von irgendwelcher ernstlichen Erörterung des Gehalts der Bibel oder irgendwelcher durch sie nahegelegten naturwissenschaft¬ lichen Bemühung ist so wenig die Rede, daß Pius der Zehnte sogar das in der letzten Zeit einigermaßen in Erkenntnisförderung „ausgeartete" Auslegen der Lehren des heiligen Thomas von Aquino damit inhibiert hat, daß er die „Auslegungen" künftig nur den speziellen päpstlichen Anweisungen gemäß er¬ laubt. „Der Heilige Vater, so schrieb ferner der Kardinalstaatssekretär Merry del Val mit Bezug auf die feierlichst verdammten Schriften des Abbe Loisy an den Erzbischof von Paris, hat, tief betrübt und besorgt um die unheilvollen Wirkungen, die Schriften dieser Art angestiftet haben und noch anstiften können, sie dem obersten Gericht des Heiligen Offiziums unterbreiten wollen und dessen Verdammungsurteil voll gebilligt." Und was hatte Loisy in seinen Schriften so „Unheilvolles" behauptet? Nach den Aussagen seiner Ankläger selbst nichts Weiter als: „1. Die Heilige Schrift enthält historische, wissenschaftliche und selbst Lehrirrtümer, die die Irrtümer der Umgebung und der Zeit widerspiegeln, worin sie verfaßt wurde. 2. Die einzige Wahrheit, die man in der Heiligen Schrift suchen muß, ist die religiöse Wahrheit; aber wenn es der Kirche allein zukommt, diese Wahrheit auszulegen, so kann diese Auslegung doch mit den Jahrhunderten wechseln. 3. Die Lehre der religiösen Wahrheit hat eine relative Seite, die aus den Formeln besteht, die sie ausdrücken; die Formeln sind beständigen Ver¬ änderungen und Umgestaltungen unterworfen. 4. Die wesentlichen Elemente des Evangeliums sind drei an der Zahl, der Begriff des Reiches Gottes, der Begriff des Messias und der Begriff des Apostolats oder der Predigt des Reiches Gottes. 5. Jesus hat sich im Evangelium damit begnügt, nur die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701/234>, abgerufen am 29.05.2024.