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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr.

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Die Privilegien der Reichs- und Landtagsmitglieder

Urkunde des Königreichs Sachsen) -- "Die Mitglieder des Reichstags sind
Vertreter des gesamten Volkes und an Aufträge und Instruktionen nicht
gebunden" (Art. 29 der Verfassung des Deutschen Reichs).

Es gilt also allgemein die Unabhängigkeit der Abgeordneten bei der Aus¬
übung ihres "Berufs". Die sächsische Verfassung bezeichnet in Z 78 die
"Berufs"Pflichten der Stunde in wohl allgemeingültiger Weise: "Die Stände
sind das gesetzmäßige Organ der Gesamtheit der Staatsbürger und Untertanen
und als solches berufen, deren auf der Verfassung beruhende Rechte in dem
durch selbige bestimmten Verhältnis zur Staatsregierung geltend zu machen
und das unzertrennliche Wohl des Königs und des Landes, mit treuer An¬
hänglichkeit an die Grundsatze der Verfassung, möglichst zu befördern."

Nur die Verfassung ist demnach den Abgeordneten eine Schranke in ihrer
"Berufsthätigkeit. Im übrigen sollen sie diese unabhängig ausüben dürfen, durch
kein umritt im.M'alii', durch keinen Fraktionsbeschluß gebunden und in dieser
Hinsicht ihren Wählern wie überhaupt ihrer Partei gegenüber unverantwortlich.
Zu dieser internen UnVerantwortlichkeit haben aber Reichsverfassung und Straf¬
gesetzbuch noch eine überaus weitgehende Immunität der Parlamentsmitglieder
nach außen gesellt.

Vor dem Inkrafttreten des deutschen Neichsstrafgesetzbuchs (15. Mai 1871)
bestand partikularrechtlich teils (z. B. in Sachsen) die Möglichkeit, die Abgeordneten
wegen ihrer bei der Ausübung ihres Berufs getaner deliktischen Äußerungen
strafgerichtlich zu verfolgen, teils fehlte diese Möglichkeit, wie z. B. in Preußen
und Bayern. Eine einheitliche Regelung erfuhr diese Materie durch das deutsche
Reichsstrafgesetzbuch und die Reichsverfassung. Das erstere sagt in Z 11:
"Kein Mitglied eines Landtags oder einer Kammer eines zum Reich gehörigen
Staats darf außerhalb der Versammlung, zu welcher das Mitglied gehört,
wegen seiner Abstimmung oder wegen der in Ausübung seines Berufs getaner
Äußerung zur Verantwortung gezogen werden." Mit Bezug auf den Reichstag
bestimmt die Reichsverfassung durch Artikel 30: "Kein Mitglied des Reichstages
darf zu irgend einer Zeit wegen seiner Abstimmung oder wegen der in Aus¬
übung seines Berufes getaner Äußerungen gerichtlich oder disziplinarisch ver¬
folgt oder sonst außerhalb der Versammlung zur Verantwortung gezogen
werden."

Somit hat also das Gesetz die Mitglieder beider Kammern und des
Reichstags der Verantwortung für ihre Wortdelikte entzogen, die sie bei der
Ausübung ihres Berufs begehn, und zwar jeder Verantwortung; denn weder
dem Reichstag noch den Landtagen steht eine wirkliche Strcifgcwalt über ihre
Mitglieder zu. Das berechtigte Bedürfnis nach einer solchen äußerte sich im
Jahre 1879, als ein Gesetzentwurf, betreffend die Strafgewalt des Reichstags
über seine Mitglieder, dem Reichstag, allerdings erfolglos, vorgelegt wurde,
und es wird gegenwärtig in keiner Weise durch die meist ganz geringfügige
Disziplinargewalt befriedigt, unter der die Parlamentsmitglieder stehn. Sie


Die Privilegien der Reichs- und Landtagsmitglieder

Urkunde des Königreichs Sachsen) — „Die Mitglieder des Reichstags sind
Vertreter des gesamten Volkes und an Aufträge und Instruktionen nicht
gebunden" (Art. 29 der Verfassung des Deutschen Reichs).

Es gilt also allgemein die Unabhängigkeit der Abgeordneten bei der Aus¬
übung ihres „Berufs". Die sächsische Verfassung bezeichnet in Z 78 die
„Berufs"Pflichten der Stunde in wohl allgemeingültiger Weise: „Die Stände
sind das gesetzmäßige Organ der Gesamtheit der Staatsbürger und Untertanen
und als solches berufen, deren auf der Verfassung beruhende Rechte in dem
durch selbige bestimmten Verhältnis zur Staatsregierung geltend zu machen
und das unzertrennliche Wohl des Königs und des Landes, mit treuer An¬
hänglichkeit an die Grundsatze der Verfassung, möglichst zu befördern."

Nur die Verfassung ist demnach den Abgeordneten eine Schranke in ihrer
„Berufsthätigkeit. Im übrigen sollen sie diese unabhängig ausüben dürfen, durch
kein umritt im.M'alii', durch keinen Fraktionsbeschluß gebunden und in dieser
Hinsicht ihren Wählern wie überhaupt ihrer Partei gegenüber unverantwortlich.
Zu dieser internen UnVerantwortlichkeit haben aber Reichsverfassung und Straf¬
gesetzbuch noch eine überaus weitgehende Immunität der Parlamentsmitglieder
nach außen gesellt.

Vor dem Inkrafttreten des deutschen Neichsstrafgesetzbuchs (15. Mai 1871)
bestand partikularrechtlich teils (z. B. in Sachsen) die Möglichkeit, die Abgeordneten
wegen ihrer bei der Ausübung ihres Berufs getaner deliktischen Äußerungen
strafgerichtlich zu verfolgen, teils fehlte diese Möglichkeit, wie z. B. in Preußen
und Bayern. Eine einheitliche Regelung erfuhr diese Materie durch das deutsche
Reichsstrafgesetzbuch und die Reichsverfassung. Das erstere sagt in Z 11:
„Kein Mitglied eines Landtags oder einer Kammer eines zum Reich gehörigen
Staats darf außerhalb der Versammlung, zu welcher das Mitglied gehört,
wegen seiner Abstimmung oder wegen der in Ausübung seines Berufs getaner
Äußerung zur Verantwortung gezogen werden." Mit Bezug auf den Reichstag
bestimmt die Reichsverfassung durch Artikel 30: „Kein Mitglied des Reichstages
darf zu irgend einer Zeit wegen seiner Abstimmung oder wegen der in Aus¬
übung seines Berufes getaner Äußerungen gerichtlich oder disziplinarisch ver¬
folgt oder sonst außerhalb der Versammlung zur Verantwortung gezogen
werden."

Somit hat also das Gesetz die Mitglieder beider Kammern und des
Reichstags der Verantwortung für ihre Wortdelikte entzogen, die sie bei der
Ausübung ihres Berufs begehn, und zwar jeder Verantwortung; denn weder
dem Reichstag noch den Landtagen steht eine wirkliche Strcifgcwalt über ihre
Mitglieder zu. Das berechtigte Bedürfnis nach einer solchen äußerte sich im
Jahre 1879, als ein Gesetzentwurf, betreffend die Strafgewalt des Reichstags
über seine Mitglieder, dem Reichstag, allerdings erfolglos, vorgelegt wurde,
und es wird gegenwärtig in keiner Weise durch die meist ganz geringfügige
Disziplinargewalt befriedigt, unter der die Parlamentsmitglieder stehn. Sie


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[0027] Die Privilegien der Reichs- und Landtagsmitglieder Urkunde des Königreichs Sachsen) — „Die Mitglieder des Reichstags sind Vertreter des gesamten Volkes und an Aufträge und Instruktionen nicht gebunden" (Art. 29 der Verfassung des Deutschen Reichs). Es gilt also allgemein die Unabhängigkeit der Abgeordneten bei der Aus¬ übung ihres „Berufs". Die sächsische Verfassung bezeichnet in Z 78 die „Berufs"Pflichten der Stunde in wohl allgemeingültiger Weise: „Die Stände sind das gesetzmäßige Organ der Gesamtheit der Staatsbürger und Untertanen und als solches berufen, deren auf der Verfassung beruhende Rechte in dem durch selbige bestimmten Verhältnis zur Staatsregierung geltend zu machen und das unzertrennliche Wohl des Königs und des Landes, mit treuer An¬ hänglichkeit an die Grundsatze der Verfassung, möglichst zu befördern." Nur die Verfassung ist demnach den Abgeordneten eine Schranke in ihrer „Berufsthätigkeit. Im übrigen sollen sie diese unabhängig ausüben dürfen, durch kein umritt im.M'alii', durch keinen Fraktionsbeschluß gebunden und in dieser Hinsicht ihren Wählern wie überhaupt ihrer Partei gegenüber unverantwortlich. Zu dieser internen UnVerantwortlichkeit haben aber Reichsverfassung und Straf¬ gesetzbuch noch eine überaus weitgehende Immunität der Parlamentsmitglieder nach außen gesellt. Vor dem Inkrafttreten des deutschen Neichsstrafgesetzbuchs (15. Mai 1871) bestand partikularrechtlich teils (z. B. in Sachsen) die Möglichkeit, die Abgeordneten wegen ihrer bei der Ausübung ihres Berufs getaner deliktischen Äußerungen strafgerichtlich zu verfolgen, teils fehlte diese Möglichkeit, wie z. B. in Preußen und Bayern. Eine einheitliche Regelung erfuhr diese Materie durch das deutsche Reichsstrafgesetzbuch und die Reichsverfassung. Das erstere sagt in Z 11: „Kein Mitglied eines Landtags oder einer Kammer eines zum Reich gehörigen Staats darf außerhalb der Versammlung, zu welcher das Mitglied gehört, wegen seiner Abstimmung oder wegen der in Ausübung seines Berufs getaner Äußerung zur Verantwortung gezogen werden." Mit Bezug auf den Reichstag bestimmt die Reichsverfassung durch Artikel 30: „Kein Mitglied des Reichstages darf zu irgend einer Zeit wegen seiner Abstimmung oder wegen der in Aus¬ übung seines Berufes getaner Äußerungen gerichtlich oder disziplinarisch ver¬ folgt oder sonst außerhalb der Versammlung zur Verantwortung gezogen werden." Somit hat also das Gesetz die Mitglieder beider Kammern und des Reichstags der Verantwortung für ihre Wortdelikte entzogen, die sie bei der Ausübung ihres Berufs begehn, und zwar jeder Verantwortung; denn weder dem Reichstag noch den Landtagen steht eine wirkliche Strcifgcwalt über ihre Mitglieder zu. Das berechtigte Bedürfnis nach einer solchen äußerte sich im Jahre 1879, als ein Gesetzentwurf, betreffend die Strafgewalt des Reichstags über seine Mitglieder, dem Reichstag, allerdings erfolglos, vorgelegt wurde, und es wird gegenwärtig in keiner Weise durch die meist ganz geringfügige Disziplinargewalt befriedigt, unter der die Parlamentsmitglieder stehn. Sie

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701/27>, abgerufen am 28.05.2024.