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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr.

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Russische Briefe

der bäuerlichen und städtischen Wahlmänner sie nicht erreicht. Die großen Ab¬
weichungen von dieser Regel finden sich in Gebieten mit verschiednen Nationalitäten.
So in Kurland, wo die Städter sogar ohne Hilfe der Bauern allein über den
Grundadel siegen können. Im Nordwestgebiet (Tabelle IX), wo Großgrundbesitzer
polnischer Nationalität in Frage kommen, stehen die Wahlmänner des Gro߬
grundbesitzes zu denen der Städter und Bauern in folgendem Verhältnis: in
Witebsk 48:58. in Mohilew 64:61, in Minsk 71:76^ in Wilna 38:58, in
Kowno 35 :40 und in Grodno 44:62. In den genannten Gouvernements bilden
die Polen 1 bis 3 Prozent der Gesamtbevölkerung in Minsk, Witebsk und
Mohilew, 10,1 Prozent in Grodno, 9 Prozent in Kowno und 8 Prozent
in Wilna. In den Städten setzt sich die Bevölkerung zu 60 bis 80 Prozent
aus Juden zusammen.*) In den russischen Gouvernements, wo der Adel un¬
zuverlässig erscheint wie in Kostroma, Smolensk, Moskau, Kaluga und Poltawa,
haben teils Städter, teils die Bauern freiere Hand bekommen.

Eine sehr wesentliche Veränderung des Wahlrechts für die Bauern liegt in
der Tatsache, daß sie nicht mehr aus ihrer Mitte und ohne Mitwirkung der
andern Stände besondre Abgeordnete wählen dürfen. Sie wählen ihre Abgeordneten
gemeinsam mit dem Großgrundbesitz und den Städtern. Da nun aber die Gro߬
grundbesitzer, wie gezeigt wurde, vielfach stärker vertreten sind als die Bauern,
so ist es denkbar, daß die Bauern nur solche ihrer Abgeordneten werden durch¬
bringen können, die den Großgrundbesitzern als ihnen gewogen und zuverlässig
bekannt sind. Die Bauern können somit durch das Wahlgesetz in die Lage kommen,
keine faktische Vertretung ihrer Interessen im Parlament zu haben. Nur dort
erscheint es möglich, daß die Bauern ihre Jnteressenvcrtreter in die Duma be¬
kommen werden, wo der Adel nicht geschlossen reaktionär zusammenhält.

Mit Hilfe des eben gekennzeichneten Gesetzes werden 407 Abgeordnete
gewählt werden. Es bleiben somit nur noch 35 Mandate übrig für die beiden
andern Wahlgesetze.

Das zweite Wahlgesetz (Artikel 3) hat Umwendung im Zartum Polen, bei
den Uralkosaken wie auch in den beiden sibirischen Gouvernements Jenessej und
Jrkutsk. Es werden dadurch 16 Abgeordnete gewählt. Die Hauptveränderung
gegen früher besteht in der Herabsetzung der Zahl der Abgeordneten und in der
Vorschrift, wonach in Warschau-Stadt ein Vertreter von der russischen Be¬
völkerung zu wählen ist. Die Vorschrift, daß in Ssedletz und Chota Abgeordnete
russischer Nationalität zu wählen sind, ist alt. Die Polen können nun im besten
Falle 12 Abgeordnete aus den zehn Weichselgouvernements in die Reichsduma
entsenden, das heißt, wenn nicht in Städten wie Lodz, Kalisch und Warschau
deutsche, russische und jüdische Wähler zusammen einen gemeinsamen Kandidaten



*) Eins genaue Darstellung der Nationalitätenverhältnisfe in den einzelnen Gouvernements
findet sich in meinem Buche Verfassungskämpfe (2. Band von Aus Rußlands Not und
H offen), das in den nächsten Tagen bei C. A. Schwetschke K Sohn, Berlin, herausgegeben wird.
Russische Briefe

der bäuerlichen und städtischen Wahlmänner sie nicht erreicht. Die großen Ab¬
weichungen von dieser Regel finden sich in Gebieten mit verschiednen Nationalitäten.
So in Kurland, wo die Städter sogar ohne Hilfe der Bauern allein über den
Grundadel siegen können. Im Nordwestgebiet (Tabelle IX), wo Großgrundbesitzer
polnischer Nationalität in Frage kommen, stehen die Wahlmänner des Gro߬
grundbesitzes zu denen der Städter und Bauern in folgendem Verhältnis: in
Witebsk 48:58. in Mohilew 64:61, in Minsk 71:76^ in Wilna 38:58, in
Kowno 35 :40 und in Grodno 44:62. In den genannten Gouvernements bilden
die Polen 1 bis 3 Prozent der Gesamtbevölkerung in Minsk, Witebsk und
Mohilew, 10,1 Prozent in Grodno, 9 Prozent in Kowno und 8 Prozent
in Wilna. In den Städten setzt sich die Bevölkerung zu 60 bis 80 Prozent
aus Juden zusammen.*) In den russischen Gouvernements, wo der Adel un¬
zuverlässig erscheint wie in Kostroma, Smolensk, Moskau, Kaluga und Poltawa,
haben teils Städter, teils die Bauern freiere Hand bekommen.

Eine sehr wesentliche Veränderung des Wahlrechts für die Bauern liegt in
der Tatsache, daß sie nicht mehr aus ihrer Mitte und ohne Mitwirkung der
andern Stände besondre Abgeordnete wählen dürfen. Sie wählen ihre Abgeordneten
gemeinsam mit dem Großgrundbesitz und den Städtern. Da nun aber die Gro߬
grundbesitzer, wie gezeigt wurde, vielfach stärker vertreten sind als die Bauern,
so ist es denkbar, daß die Bauern nur solche ihrer Abgeordneten werden durch¬
bringen können, die den Großgrundbesitzern als ihnen gewogen und zuverlässig
bekannt sind. Die Bauern können somit durch das Wahlgesetz in die Lage kommen,
keine faktische Vertretung ihrer Interessen im Parlament zu haben. Nur dort
erscheint es möglich, daß die Bauern ihre Jnteressenvcrtreter in die Duma be¬
kommen werden, wo der Adel nicht geschlossen reaktionär zusammenhält.

Mit Hilfe des eben gekennzeichneten Gesetzes werden 407 Abgeordnete
gewählt werden. Es bleiben somit nur noch 35 Mandate übrig für die beiden
andern Wahlgesetze.

Das zweite Wahlgesetz (Artikel 3) hat Umwendung im Zartum Polen, bei
den Uralkosaken wie auch in den beiden sibirischen Gouvernements Jenessej und
Jrkutsk. Es werden dadurch 16 Abgeordnete gewählt. Die Hauptveränderung
gegen früher besteht in der Herabsetzung der Zahl der Abgeordneten und in der
Vorschrift, wonach in Warschau-Stadt ein Vertreter von der russischen Be¬
völkerung zu wählen ist. Die Vorschrift, daß in Ssedletz und Chota Abgeordnete
russischer Nationalität zu wählen sind, ist alt. Die Polen können nun im besten
Falle 12 Abgeordnete aus den zehn Weichselgouvernements in die Reichsduma
entsenden, das heißt, wenn nicht in Städten wie Lodz, Kalisch und Warschau
deutsche, russische und jüdische Wähler zusammen einen gemeinsamen Kandidaten



*) Eins genaue Darstellung der Nationalitätenverhältnisfe in den einzelnen Gouvernements
findet sich in meinem Buche Verfassungskämpfe (2. Band von Aus Rußlands Not und
H offen), das in den nächsten Tagen bei C. A. Schwetschke K Sohn, Berlin, herausgegeben wird.
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[0288] Russische Briefe der bäuerlichen und städtischen Wahlmänner sie nicht erreicht. Die großen Ab¬ weichungen von dieser Regel finden sich in Gebieten mit verschiednen Nationalitäten. So in Kurland, wo die Städter sogar ohne Hilfe der Bauern allein über den Grundadel siegen können. Im Nordwestgebiet (Tabelle IX), wo Großgrundbesitzer polnischer Nationalität in Frage kommen, stehen die Wahlmänner des Gro߬ grundbesitzes zu denen der Städter und Bauern in folgendem Verhältnis: in Witebsk 48:58. in Mohilew 64:61, in Minsk 71:76^ in Wilna 38:58, in Kowno 35 :40 und in Grodno 44:62. In den genannten Gouvernements bilden die Polen 1 bis 3 Prozent der Gesamtbevölkerung in Minsk, Witebsk und Mohilew, 10,1 Prozent in Grodno, 9 Prozent in Kowno und 8 Prozent in Wilna. In den Städten setzt sich die Bevölkerung zu 60 bis 80 Prozent aus Juden zusammen.*) In den russischen Gouvernements, wo der Adel un¬ zuverlässig erscheint wie in Kostroma, Smolensk, Moskau, Kaluga und Poltawa, haben teils Städter, teils die Bauern freiere Hand bekommen. Eine sehr wesentliche Veränderung des Wahlrechts für die Bauern liegt in der Tatsache, daß sie nicht mehr aus ihrer Mitte und ohne Mitwirkung der andern Stände besondre Abgeordnete wählen dürfen. Sie wählen ihre Abgeordneten gemeinsam mit dem Großgrundbesitz und den Städtern. Da nun aber die Gro߬ grundbesitzer, wie gezeigt wurde, vielfach stärker vertreten sind als die Bauern, so ist es denkbar, daß die Bauern nur solche ihrer Abgeordneten werden durch¬ bringen können, die den Großgrundbesitzern als ihnen gewogen und zuverlässig bekannt sind. Die Bauern können somit durch das Wahlgesetz in die Lage kommen, keine faktische Vertretung ihrer Interessen im Parlament zu haben. Nur dort erscheint es möglich, daß die Bauern ihre Jnteressenvcrtreter in die Duma be¬ kommen werden, wo der Adel nicht geschlossen reaktionär zusammenhält. Mit Hilfe des eben gekennzeichneten Gesetzes werden 407 Abgeordnete gewählt werden. Es bleiben somit nur noch 35 Mandate übrig für die beiden andern Wahlgesetze. Das zweite Wahlgesetz (Artikel 3) hat Umwendung im Zartum Polen, bei den Uralkosaken wie auch in den beiden sibirischen Gouvernements Jenessej und Jrkutsk. Es werden dadurch 16 Abgeordnete gewählt. Die Hauptveränderung gegen früher besteht in der Herabsetzung der Zahl der Abgeordneten und in der Vorschrift, wonach in Warschau-Stadt ein Vertreter von der russischen Be¬ völkerung zu wählen ist. Die Vorschrift, daß in Ssedletz und Chota Abgeordnete russischer Nationalität zu wählen sind, ist alt. Die Polen können nun im besten Falle 12 Abgeordnete aus den zehn Weichselgouvernements in die Reichsduma entsenden, das heißt, wenn nicht in Städten wie Lodz, Kalisch und Warschau deutsche, russische und jüdische Wähler zusammen einen gemeinsamen Kandidaten *) Eins genaue Darstellung der Nationalitätenverhältnisfe in den einzelnen Gouvernements findet sich in meinem Buche Verfassungskämpfe (2. Band von Aus Rußlands Not und H offen), das in den nächsten Tagen bei C. A. Schwetschke K Sohn, Berlin, herausgegeben wird.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701/288>, abgerufen am 15.05.2024.