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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr.

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Betrachtungen über innere Politik

überall wohlgekleidete Leute sieht, das auf sozialem Gebiete so viel geleistet hat,
das alle Welt als Vorbild betrachtet, diese große radikale Partei?"

Graf Posadowsky fuhr fort, man könne viele Antworten auf diese Frage
geben, er wolle nur zwei Gründe anführen: "Ich glaube, daß wir bei der Art
unsrer Verwaltung auch in den Lokalinstanzen noch manche kleinen Gesichts¬
punkte aus dem alten Polizeistaate herübergenommen haben, die in unsre Zeit
nicht passen. Ich glaube ferner, daß mit unserm wachsenden Wohlstande nicht
die Opferfreudigkeit, die Großherzigkeit in wirtschaftlichen Dingen gestiegen ist,
die die besitzenden Klassen haben müssen. Die Sozialdemokratie wurzelt un-
bezweifelt in einer außerordentlich materialistischen Weltanschauung. Ich kann es
aber nicht leugnen auf Grund der Beobachtungen des täglichen Lebens, daß
mit unserm wachsenden Reichtum auch in unsern besitzenden Klassen das Maß
materialistischer Weltanschauung, materialistischer Genußsucht gewachsen ist, die
mich manchmal mit Trauer und Bedauern erfüllt. Dann sehe ich den eigent¬
lichen Grund, daß die bürgerliche Gesellschaft nicht die Kraft hat, die Sozial¬
demokraten zu überwinden. Der Materialismus ist eben in der Sozialdemokratie
und in der bürgerlichen Gesellschaft kongenial. Die bürgerliche Gesellschaft wird
die Sozialdemokratie nicht mit Gesetzen, nicht mit großen Worten überwinden,
sondern nur dann, wenn sie diesen materialistischen Standpunkt verläßt, und
wenn durch das ganze Leben der bürgerlichen Klassen ein größeres Maß sitt¬
lichen Ernstes geht."

Als der Staatssekretär dann einige Tage später, am 15. Dezember 1905,
auf denselben Gegenstand zurückkam, stellte er zunächst fest, daß im Jahre 1903
von zwölfeinhalb Millionen Wählern fast drei Millionen der Wahlurne fern¬
geblieben seien, und daß diese drei Millionen wohl keine Sozialdemokraten ge¬
wesen seien, da die Sozialdemokraten so ziemlich ihren letzten Mann an die
Urne gebracht hätten. Die Zersplitterung der bürgerlichen Parteien bei den
Wahlen, ihre Unfähigkeit, sich auf einen Kandidaten zu einigen, förderten weiter
die Macht der Sozialdemokratie, und den Schaden trage der Arbeiter, da die
Zahl derer wachse, die sich der Fortführung der Sozialpolitik gegenüber ab¬
lehnend verhielten und nach Repressalien riefen. "Ich bin, sagte Graf Posadowsky,
der Ansicht, daß man mit Gesetzen Krankheiten überhaupt uicht heilt, und hier
liegt eine Krankheit vor. Man hat sich viel zu wenig mit dieser Frage be¬
schäftigt. Es handelt sich um die psychologische Frage: Auf welchen Grund¬
lagen beruht es, daß in einem geordneten deutschen Staatsleben sich eine Partei
von drei Millionen bilden kann, die das ganze Staatsleben mit seiner ganzen
Geschichte verleugnet? Der Zustand wird sich erst ändern, wenn wir die Ur¬
sache der Krankheit gefunden haben und über die richtigen Wege nachdenken,
um dem Übel zu steuern. Man bewertet die Leiter der Sozialdemokratie zu
hoch, wenn man im Reichstage und in der Presse sagt, daß die ganze sozial¬
demokratische Bewegung eigentlich nur die Folge der Agitation der Führer sei.
Nein, diese hypnotische Kraft haben die Führer nicht. Es müssen also innere


Grenzboten III 1907 44
Betrachtungen über innere Politik

überall wohlgekleidete Leute sieht, das auf sozialem Gebiete so viel geleistet hat,
das alle Welt als Vorbild betrachtet, diese große radikale Partei?"

Graf Posadowsky fuhr fort, man könne viele Antworten auf diese Frage
geben, er wolle nur zwei Gründe anführen: „Ich glaube, daß wir bei der Art
unsrer Verwaltung auch in den Lokalinstanzen noch manche kleinen Gesichts¬
punkte aus dem alten Polizeistaate herübergenommen haben, die in unsre Zeit
nicht passen. Ich glaube ferner, daß mit unserm wachsenden Wohlstande nicht
die Opferfreudigkeit, die Großherzigkeit in wirtschaftlichen Dingen gestiegen ist,
die die besitzenden Klassen haben müssen. Die Sozialdemokratie wurzelt un-
bezweifelt in einer außerordentlich materialistischen Weltanschauung. Ich kann es
aber nicht leugnen auf Grund der Beobachtungen des täglichen Lebens, daß
mit unserm wachsenden Reichtum auch in unsern besitzenden Klassen das Maß
materialistischer Weltanschauung, materialistischer Genußsucht gewachsen ist, die
mich manchmal mit Trauer und Bedauern erfüllt. Dann sehe ich den eigent¬
lichen Grund, daß die bürgerliche Gesellschaft nicht die Kraft hat, die Sozial¬
demokraten zu überwinden. Der Materialismus ist eben in der Sozialdemokratie
und in der bürgerlichen Gesellschaft kongenial. Die bürgerliche Gesellschaft wird
die Sozialdemokratie nicht mit Gesetzen, nicht mit großen Worten überwinden,
sondern nur dann, wenn sie diesen materialistischen Standpunkt verläßt, und
wenn durch das ganze Leben der bürgerlichen Klassen ein größeres Maß sitt¬
lichen Ernstes geht."

Als der Staatssekretär dann einige Tage später, am 15. Dezember 1905,
auf denselben Gegenstand zurückkam, stellte er zunächst fest, daß im Jahre 1903
von zwölfeinhalb Millionen Wählern fast drei Millionen der Wahlurne fern¬
geblieben seien, und daß diese drei Millionen wohl keine Sozialdemokraten ge¬
wesen seien, da die Sozialdemokraten so ziemlich ihren letzten Mann an die
Urne gebracht hätten. Die Zersplitterung der bürgerlichen Parteien bei den
Wahlen, ihre Unfähigkeit, sich auf einen Kandidaten zu einigen, förderten weiter
die Macht der Sozialdemokratie, und den Schaden trage der Arbeiter, da die
Zahl derer wachse, die sich der Fortführung der Sozialpolitik gegenüber ab¬
lehnend verhielten und nach Repressalien riefen. „Ich bin, sagte Graf Posadowsky,
der Ansicht, daß man mit Gesetzen Krankheiten überhaupt uicht heilt, und hier
liegt eine Krankheit vor. Man hat sich viel zu wenig mit dieser Frage be¬
schäftigt. Es handelt sich um die psychologische Frage: Auf welchen Grund¬
lagen beruht es, daß in einem geordneten deutschen Staatsleben sich eine Partei
von drei Millionen bilden kann, die das ganze Staatsleben mit seiner ganzen
Geschichte verleugnet? Der Zustand wird sich erst ändern, wenn wir die Ur¬
sache der Krankheit gefunden haben und über die richtigen Wege nachdenken,
um dem Übel zu steuern. Man bewertet die Leiter der Sozialdemokratie zu
hoch, wenn man im Reichstage und in der Presse sagt, daß die ganze sozial¬
demokratische Bewegung eigentlich nur die Folge der Agitation der Führer sei.
Nein, diese hypnotische Kraft haben die Führer nicht. Es müssen also innere


Grenzboten III 1907 44
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[0341] Betrachtungen über innere Politik überall wohlgekleidete Leute sieht, das auf sozialem Gebiete so viel geleistet hat, das alle Welt als Vorbild betrachtet, diese große radikale Partei?" Graf Posadowsky fuhr fort, man könne viele Antworten auf diese Frage geben, er wolle nur zwei Gründe anführen: „Ich glaube, daß wir bei der Art unsrer Verwaltung auch in den Lokalinstanzen noch manche kleinen Gesichts¬ punkte aus dem alten Polizeistaate herübergenommen haben, die in unsre Zeit nicht passen. Ich glaube ferner, daß mit unserm wachsenden Wohlstande nicht die Opferfreudigkeit, die Großherzigkeit in wirtschaftlichen Dingen gestiegen ist, die die besitzenden Klassen haben müssen. Die Sozialdemokratie wurzelt un- bezweifelt in einer außerordentlich materialistischen Weltanschauung. Ich kann es aber nicht leugnen auf Grund der Beobachtungen des täglichen Lebens, daß mit unserm wachsenden Reichtum auch in unsern besitzenden Klassen das Maß materialistischer Weltanschauung, materialistischer Genußsucht gewachsen ist, die mich manchmal mit Trauer und Bedauern erfüllt. Dann sehe ich den eigent¬ lichen Grund, daß die bürgerliche Gesellschaft nicht die Kraft hat, die Sozial¬ demokraten zu überwinden. Der Materialismus ist eben in der Sozialdemokratie und in der bürgerlichen Gesellschaft kongenial. Die bürgerliche Gesellschaft wird die Sozialdemokratie nicht mit Gesetzen, nicht mit großen Worten überwinden, sondern nur dann, wenn sie diesen materialistischen Standpunkt verläßt, und wenn durch das ganze Leben der bürgerlichen Klassen ein größeres Maß sitt¬ lichen Ernstes geht." Als der Staatssekretär dann einige Tage später, am 15. Dezember 1905, auf denselben Gegenstand zurückkam, stellte er zunächst fest, daß im Jahre 1903 von zwölfeinhalb Millionen Wählern fast drei Millionen der Wahlurne fern¬ geblieben seien, und daß diese drei Millionen wohl keine Sozialdemokraten ge¬ wesen seien, da die Sozialdemokraten so ziemlich ihren letzten Mann an die Urne gebracht hätten. Die Zersplitterung der bürgerlichen Parteien bei den Wahlen, ihre Unfähigkeit, sich auf einen Kandidaten zu einigen, förderten weiter die Macht der Sozialdemokratie, und den Schaden trage der Arbeiter, da die Zahl derer wachse, die sich der Fortführung der Sozialpolitik gegenüber ab¬ lehnend verhielten und nach Repressalien riefen. „Ich bin, sagte Graf Posadowsky, der Ansicht, daß man mit Gesetzen Krankheiten überhaupt uicht heilt, und hier liegt eine Krankheit vor. Man hat sich viel zu wenig mit dieser Frage be¬ schäftigt. Es handelt sich um die psychologische Frage: Auf welchen Grund¬ lagen beruht es, daß in einem geordneten deutschen Staatsleben sich eine Partei von drei Millionen bilden kann, die das ganze Staatsleben mit seiner ganzen Geschichte verleugnet? Der Zustand wird sich erst ändern, wenn wir die Ur¬ sache der Krankheit gefunden haben und über die richtigen Wege nachdenken, um dem Übel zu steuern. Man bewertet die Leiter der Sozialdemokratie zu hoch, wenn man im Reichstage und in der Presse sagt, daß die ganze sozial¬ demokratische Bewegung eigentlich nur die Folge der Agitation der Führer sei. Nein, diese hypnotische Kraft haben die Führer nicht. Es müssen also innere Grenzboten III 1907 44

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701/341>, abgerufen am 15.05.2024.