Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Betrachtungen über innere Politik

der Sozialdemokratie Vorschub zu leisten, ist schwer zu beurteilen. Das subjektive
Ermessen, die Erfahrungen, die der einzelne zufällig gemacht hat, spielen eine zu
große Rolle. Es wird deshalb zu untersuchen sein, welche andern Gründe etwa
noch mitgewirkt haben, in unserm Staatsleben einen Zustand zu erzeugen, den man
als Krankheit bezeichnen muß. Die Ursachen der Krankheit müssen sehr tief liegen,
wenn es dahin kommen konnte, daß sich ein so großer Teil des deutschen Volkes
einer Partei anschließt, die die Grundlagen unsers ganzen Staatslebens verneint.

In der Rede vom 12. Dezember 1905 sagte Graf Posadowsky noch: "Man
muß zugestehn, daß die moderne Arbeiterbewegung in engem Zusammenhange
steht mit der unerhört großartigen Entwicklung unsrer deutschen Industrie." Es
klingt das wie ein fast zögernd gemachtes Zugeständnis, und doch wird man,
wie es scheint, von unsrer wirtschaftlichen Entwicklung ausgehen müssen, wenn
man für unsre Lage Verständnis gewinnen und die Mittel suchen will, die
Krankheit zu heilen.

Mit Stolz Pflegen wir von unsrer Zeit zu sprechen, von den gewaltigen
Fortschritten, die sie uns auf allen Gebieten gebracht hat, von der Freiheit, die
sie dem einzelnen gegeben hat im Vergleich zu vergangnen Zeiten. Wenn das
Wort Mittelalter genannt wird, kommt uns fast ein Gruseln an, denn damit
ist nicht nur der Gedanke verbunden an Unsicherheit, an Raub und Mord,
sondern auch vor allen Dingen an Zwang und Bann und an die Unfreiheit
der Menschen. Weit, weit liegt in der Vorstellung des modernen Menschen diese
Zeit zurück, an die er nur mit einer Mischung von Hochmut und Verachtung
zu denken vermag. Wohl nur selten fragt sich jemand, wann denn dieses dunkle
Zeitalter bei uns abgeschlossen worden ist, und doch sind noch nicht hundert
Jahre verflossen, seit in dem größten deutschen Staate, in Preußen, mit der
Vergangenheit gebrochen und eine neue Zeit eröffnet wurde. Das Zeitalter der
Aufklärung, so viel es auch an neuen Gedanken gebracht hatte, wagte doch nicht
die Unfreiheit eines großen Teiles der Untertanen zu beseitigen; im Gegenteil,
das Preußische Allgemeine Landrecht befestigte aufs neue den Unterschied der
Stände, die Gebundenheit der Berufe, den Schutz der Arbeit mit mittelalterlichen
Mitteln. Der Adliche durfte keine bürgerlichen Gewerbe betreiben, der Bürger
keine adlichen Güter erwerben, Zwangs- und Bannrechte hemmten Bewegung
und Fortschritt. Die Hörigkeit der Gutsuntertanen blieb bestehn, und erst nach
dem Zusammenbruch des Staats wurde unter der Einwirkung eines genialen
Staatsmanns das Edikt vom 9. Oktober 1807 erlassen, das die mittelalterliche
Gebundenheit brach und auch denen, die Stadtluft nicht frei gemacht hatte, die
Freiheit gab mit den monumentalen Worten: Nach dem Martinitage 1810 gibt
es nur freie Leute.

Erst mit dem Martinitage 1810 also wurde eine vielhundertjührige Ent¬
wicklung abgeschlossen, wurde das Mittelalter Vergangenheit, erst mit diesem
Tage begann die neue Zeit, unsre Zeit. Wie vieles hat sich in die siebenund¬
neunzig Jahre gedrängt, die seitdem verflossen sind, welche reißende Entwicklung


Betrachtungen über innere Politik

der Sozialdemokratie Vorschub zu leisten, ist schwer zu beurteilen. Das subjektive
Ermessen, die Erfahrungen, die der einzelne zufällig gemacht hat, spielen eine zu
große Rolle. Es wird deshalb zu untersuchen sein, welche andern Gründe etwa
noch mitgewirkt haben, in unserm Staatsleben einen Zustand zu erzeugen, den man
als Krankheit bezeichnen muß. Die Ursachen der Krankheit müssen sehr tief liegen,
wenn es dahin kommen konnte, daß sich ein so großer Teil des deutschen Volkes
einer Partei anschließt, die die Grundlagen unsers ganzen Staatslebens verneint.

In der Rede vom 12. Dezember 1905 sagte Graf Posadowsky noch: „Man
muß zugestehn, daß die moderne Arbeiterbewegung in engem Zusammenhange
steht mit der unerhört großartigen Entwicklung unsrer deutschen Industrie." Es
klingt das wie ein fast zögernd gemachtes Zugeständnis, und doch wird man,
wie es scheint, von unsrer wirtschaftlichen Entwicklung ausgehen müssen, wenn
man für unsre Lage Verständnis gewinnen und die Mittel suchen will, die
Krankheit zu heilen.

Mit Stolz Pflegen wir von unsrer Zeit zu sprechen, von den gewaltigen
Fortschritten, die sie uns auf allen Gebieten gebracht hat, von der Freiheit, die
sie dem einzelnen gegeben hat im Vergleich zu vergangnen Zeiten. Wenn das
Wort Mittelalter genannt wird, kommt uns fast ein Gruseln an, denn damit
ist nicht nur der Gedanke verbunden an Unsicherheit, an Raub und Mord,
sondern auch vor allen Dingen an Zwang und Bann und an die Unfreiheit
der Menschen. Weit, weit liegt in der Vorstellung des modernen Menschen diese
Zeit zurück, an die er nur mit einer Mischung von Hochmut und Verachtung
zu denken vermag. Wohl nur selten fragt sich jemand, wann denn dieses dunkle
Zeitalter bei uns abgeschlossen worden ist, und doch sind noch nicht hundert
Jahre verflossen, seit in dem größten deutschen Staate, in Preußen, mit der
Vergangenheit gebrochen und eine neue Zeit eröffnet wurde. Das Zeitalter der
Aufklärung, so viel es auch an neuen Gedanken gebracht hatte, wagte doch nicht
die Unfreiheit eines großen Teiles der Untertanen zu beseitigen; im Gegenteil,
das Preußische Allgemeine Landrecht befestigte aufs neue den Unterschied der
Stände, die Gebundenheit der Berufe, den Schutz der Arbeit mit mittelalterlichen
Mitteln. Der Adliche durfte keine bürgerlichen Gewerbe betreiben, der Bürger
keine adlichen Güter erwerben, Zwangs- und Bannrechte hemmten Bewegung
und Fortschritt. Die Hörigkeit der Gutsuntertanen blieb bestehn, und erst nach
dem Zusammenbruch des Staats wurde unter der Einwirkung eines genialen
Staatsmanns das Edikt vom 9. Oktober 1807 erlassen, das die mittelalterliche
Gebundenheit brach und auch denen, die Stadtluft nicht frei gemacht hatte, die
Freiheit gab mit den monumentalen Worten: Nach dem Martinitage 1810 gibt
es nur freie Leute.

Erst mit dem Martinitage 1810 also wurde eine vielhundertjührige Ent¬
wicklung abgeschlossen, wurde das Mittelalter Vergangenheit, erst mit diesem
Tage begann die neue Zeit, unsre Zeit. Wie vieles hat sich in die siebenund¬
neunzig Jahre gedrängt, die seitdem verflossen sind, welche reißende Entwicklung


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0345" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/303047"/>
          <fw type="header" place="top"> Betrachtungen über innere Politik</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2054" prev="#ID_2053"> der Sozialdemokratie Vorschub zu leisten, ist schwer zu beurteilen. Das subjektive<lb/>
Ermessen, die Erfahrungen, die der einzelne zufällig gemacht hat, spielen eine zu<lb/>
große Rolle. Es wird deshalb zu untersuchen sein, welche andern Gründe etwa<lb/>
noch mitgewirkt haben, in unserm Staatsleben einen Zustand zu erzeugen, den man<lb/>
als Krankheit bezeichnen muß. Die Ursachen der Krankheit müssen sehr tief liegen,<lb/>
wenn es dahin kommen konnte, daß sich ein so großer Teil des deutschen Volkes<lb/>
einer Partei anschließt, die die Grundlagen unsers ganzen Staatslebens verneint.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2055"> In der Rede vom 12. Dezember 1905 sagte Graf Posadowsky noch: &#x201E;Man<lb/>
muß zugestehn, daß die moderne Arbeiterbewegung in engem Zusammenhange<lb/>
steht mit der unerhört großartigen Entwicklung unsrer deutschen Industrie." Es<lb/>
klingt das wie ein fast zögernd gemachtes Zugeständnis, und doch wird man,<lb/>
wie es scheint, von unsrer wirtschaftlichen Entwicklung ausgehen müssen, wenn<lb/>
man für unsre Lage Verständnis gewinnen und die Mittel suchen will, die<lb/>
Krankheit zu heilen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2056"> Mit Stolz Pflegen wir von unsrer Zeit zu sprechen, von den gewaltigen<lb/>
Fortschritten, die sie uns auf allen Gebieten gebracht hat, von der Freiheit, die<lb/>
sie dem einzelnen gegeben hat im Vergleich zu vergangnen Zeiten. Wenn das<lb/>
Wort Mittelalter genannt wird, kommt uns fast ein Gruseln an, denn damit<lb/>
ist nicht nur der Gedanke verbunden an Unsicherheit, an Raub und Mord,<lb/>
sondern auch vor allen Dingen an Zwang und Bann und an die Unfreiheit<lb/>
der Menschen. Weit, weit liegt in der Vorstellung des modernen Menschen diese<lb/>
Zeit zurück, an die er nur mit einer Mischung von Hochmut und Verachtung<lb/>
zu denken vermag. Wohl nur selten fragt sich jemand, wann denn dieses dunkle<lb/>
Zeitalter bei uns abgeschlossen worden ist, und doch sind noch nicht hundert<lb/>
Jahre verflossen, seit in dem größten deutschen Staate, in Preußen, mit der<lb/>
Vergangenheit gebrochen und eine neue Zeit eröffnet wurde. Das Zeitalter der<lb/>
Aufklärung, so viel es auch an neuen Gedanken gebracht hatte, wagte doch nicht<lb/>
die Unfreiheit eines großen Teiles der Untertanen zu beseitigen; im Gegenteil,<lb/>
das Preußische Allgemeine Landrecht befestigte aufs neue den Unterschied der<lb/>
Stände, die Gebundenheit der Berufe, den Schutz der Arbeit mit mittelalterlichen<lb/>
Mitteln. Der Adliche durfte keine bürgerlichen Gewerbe betreiben, der Bürger<lb/>
keine adlichen Güter erwerben, Zwangs- und Bannrechte hemmten Bewegung<lb/>
und Fortschritt. Die Hörigkeit der Gutsuntertanen blieb bestehn, und erst nach<lb/>
dem Zusammenbruch des Staats wurde unter der Einwirkung eines genialen<lb/>
Staatsmanns das Edikt vom 9. Oktober 1807 erlassen, das die mittelalterliche<lb/>
Gebundenheit brach und auch denen, die Stadtluft nicht frei gemacht hatte, die<lb/>
Freiheit gab mit den monumentalen Worten: Nach dem Martinitage 1810 gibt<lb/>
es nur freie Leute.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2057" next="#ID_2058"> Erst mit dem Martinitage 1810 also wurde eine vielhundertjührige Ent¬<lb/>
wicklung abgeschlossen, wurde das Mittelalter Vergangenheit, erst mit diesem<lb/>
Tage begann die neue Zeit, unsre Zeit. Wie vieles hat sich in die siebenund¬<lb/>
neunzig Jahre gedrängt, die seitdem verflossen sind, welche reißende Entwicklung</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0345] Betrachtungen über innere Politik der Sozialdemokratie Vorschub zu leisten, ist schwer zu beurteilen. Das subjektive Ermessen, die Erfahrungen, die der einzelne zufällig gemacht hat, spielen eine zu große Rolle. Es wird deshalb zu untersuchen sein, welche andern Gründe etwa noch mitgewirkt haben, in unserm Staatsleben einen Zustand zu erzeugen, den man als Krankheit bezeichnen muß. Die Ursachen der Krankheit müssen sehr tief liegen, wenn es dahin kommen konnte, daß sich ein so großer Teil des deutschen Volkes einer Partei anschließt, die die Grundlagen unsers ganzen Staatslebens verneint. In der Rede vom 12. Dezember 1905 sagte Graf Posadowsky noch: „Man muß zugestehn, daß die moderne Arbeiterbewegung in engem Zusammenhange steht mit der unerhört großartigen Entwicklung unsrer deutschen Industrie." Es klingt das wie ein fast zögernd gemachtes Zugeständnis, und doch wird man, wie es scheint, von unsrer wirtschaftlichen Entwicklung ausgehen müssen, wenn man für unsre Lage Verständnis gewinnen und die Mittel suchen will, die Krankheit zu heilen. Mit Stolz Pflegen wir von unsrer Zeit zu sprechen, von den gewaltigen Fortschritten, die sie uns auf allen Gebieten gebracht hat, von der Freiheit, die sie dem einzelnen gegeben hat im Vergleich zu vergangnen Zeiten. Wenn das Wort Mittelalter genannt wird, kommt uns fast ein Gruseln an, denn damit ist nicht nur der Gedanke verbunden an Unsicherheit, an Raub und Mord, sondern auch vor allen Dingen an Zwang und Bann und an die Unfreiheit der Menschen. Weit, weit liegt in der Vorstellung des modernen Menschen diese Zeit zurück, an die er nur mit einer Mischung von Hochmut und Verachtung zu denken vermag. Wohl nur selten fragt sich jemand, wann denn dieses dunkle Zeitalter bei uns abgeschlossen worden ist, und doch sind noch nicht hundert Jahre verflossen, seit in dem größten deutschen Staate, in Preußen, mit der Vergangenheit gebrochen und eine neue Zeit eröffnet wurde. Das Zeitalter der Aufklärung, so viel es auch an neuen Gedanken gebracht hatte, wagte doch nicht die Unfreiheit eines großen Teiles der Untertanen zu beseitigen; im Gegenteil, das Preußische Allgemeine Landrecht befestigte aufs neue den Unterschied der Stände, die Gebundenheit der Berufe, den Schutz der Arbeit mit mittelalterlichen Mitteln. Der Adliche durfte keine bürgerlichen Gewerbe betreiben, der Bürger keine adlichen Güter erwerben, Zwangs- und Bannrechte hemmten Bewegung und Fortschritt. Die Hörigkeit der Gutsuntertanen blieb bestehn, und erst nach dem Zusammenbruch des Staats wurde unter der Einwirkung eines genialen Staatsmanns das Edikt vom 9. Oktober 1807 erlassen, das die mittelalterliche Gebundenheit brach und auch denen, die Stadtluft nicht frei gemacht hatte, die Freiheit gab mit den monumentalen Worten: Nach dem Martinitage 1810 gibt es nur freie Leute. Erst mit dem Martinitage 1810 also wurde eine vielhundertjührige Ent¬ wicklung abgeschlossen, wurde das Mittelalter Vergangenheit, erst mit diesem Tage begann die neue Zeit, unsre Zeit. Wie vieles hat sich in die siebenund¬ neunzig Jahre gedrängt, die seitdem verflossen sind, welche reißende Entwicklung

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701/345
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701/345>, abgerufen am 31.05.2024.