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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr.

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Betrachtungen über innere Politik

gedrückt, und viele andre, die dem Namen nach Handwerker blieben, wurden
tatsächlich abhängig vom Großkapital. Und ähnlich im Handel. Vom kleinen
Kramladen führte der Weg zum Großunternehmer, der bei geringerm Verdienst
im einzelnen einen sehr viel größern Umsatz erreicht, die kleinen Konkurrenten
erdrückt oder von sich abhängig macht. Das Warenhaus ist der Abschluß dieser
Entwicklung.

Auf allen Gebieten also dasselbe Ergebnis, daß ein großer Teil der einst¬
mals freien Existenzen vernichtet wurde; der Hausindustrielle war zum Arbeiter
geworden, der Handwerker zum Diener des Kapitals, der kleine Kaufmann
zum Angestellten des Großunternehmers. Es hat keinen Zweck, diese Ent¬
wicklung zu beklagen, denn sie war wohl unvermeidlich, und es kommt nur
darauf an, über ihre Wirkungen klar zu werden. Die frühere Arbeit war
Qualitätsarbeit gewesen, die Persönlichkeit des einzelnen, ihr Geschmack, ihre
Begabung kamen dabei zu ihrem Rechte. Selbst der kleinste Handwerker
konnte sich ausleben in seiner Hände Arbeit. Auf der Quantität aber beruht
die Arbeit des Großunternehmens, sie ist Massenarbeit und Arbeit für die
Masse. Die Persönlichkeit des einzelnen mußte leiden, da nur wenigen noch
beschieden blieb, sich frei zu betätigen, sich in selbständiger Arbeit zu entwickeln.
Das Ziel, das sich früher viele stecken konnten, durch angestrengte Tätigkeit zu
einer unabhängigen wirtschaftlichen Existenz zu gelangen, können heute auch
von den dazu Berufnen nur noch wenige erreichen, und je weiter der Kon-
zentrationsprozeß des Großkapitals fortschreitet, um so näher werden wir dem
Zustande kommen, daß einige wenige Auserwählte unser gesamtes Wirtschafts¬
leben leiten. Daß bei dieser Unterdrückung der Persönlichkeit, bei der ununter-
brochnem, angestrengten Arbeit, die das moderne Wirtschaftsleben fordert, die
Menschen einseitiger, auch innerlich unfreier wurden, konnte nicht ausbleiben.

Diese außerordentliche wirtschaftliche Entwicklung aber, die wir in der
kurzen Zeit seit den sechziger und eigentlich erst seit den siebziger Jahren des
vorigen Jahrhunderts erlebt haben, hat nicht nur die Wirkung gehabt, daß
zugunsten weniger Auserwählter eine große Zahl einstmals wirtschaftlich un¬
abhängiger Existenzen vernichtet, viele früher in freiem Berufe tätige zu An¬
gestellten der Großunternehmung, zu Hörigen des Kapitals, besonders aber in
die Klasse der Lohnarbeiter herabgedrückt worden sind, sie hat außerdem auch
innerhalb des Deutschen Reiches eine Verschiebung der Bevölkerung, eine
Binnenwanderung zur Folge gehabt, die wirtschaftlich und politisch von der
allergrößten Bedeutung ist. Zu der sozialen Umschichtung kam die räumliche
Umschichtung.

Nach Schmoller und Lamprecht lebten im Gebiete des heutigen Deutschen
Reiches auf dem Geviertkilometer im Jahre 1800 nur 40 Einwohner, im
Jahre 1900 aber deren 104. In den Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts,
in denen auf der Grundlage des freien Wettbewerbs der Kleinbetrieb, das
Handwerk zurückgedrängt wurde durch die werdende Macht des Kapitals, war
Deutschland ein Land starker Auswanderung. Über das Meer, besonders nach


Betrachtungen über innere Politik

gedrückt, und viele andre, die dem Namen nach Handwerker blieben, wurden
tatsächlich abhängig vom Großkapital. Und ähnlich im Handel. Vom kleinen
Kramladen führte der Weg zum Großunternehmer, der bei geringerm Verdienst
im einzelnen einen sehr viel größern Umsatz erreicht, die kleinen Konkurrenten
erdrückt oder von sich abhängig macht. Das Warenhaus ist der Abschluß dieser
Entwicklung.

Auf allen Gebieten also dasselbe Ergebnis, daß ein großer Teil der einst¬
mals freien Existenzen vernichtet wurde; der Hausindustrielle war zum Arbeiter
geworden, der Handwerker zum Diener des Kapitals, der kleine Kaufmann
zum Angestellten des Großunternehmers. Es hat keinen Zweck, diese Ent¬
wicklung zu beklagen, denn sie war wohl unvermeidlich, und es kommt nur
darauf an, über ihre Wirkungen klar zu werden. Die frühere Arbeit war
Qualitätsarbeit gewesen, die Persönlichkeit des einzelnen, ihr Geschmack, ihre
Begabung kamen dabei zu ihrem Rechte. Selbst der kleinste Handwerker
konnte sich ausleben in seiner Hände Arbeit. Auf der Quantität aber beruht
die Arbeit des Großunternehmens, sie ist Massenarbeit und Arbeit für die
Masse. Die Persönlichkeit des einzelnen mußte leiden, da nur wenigen noch
beschieden blieb, sich frei zu betätigen, sich in selbständiger Arbeit zu entwickeln.
Das Ziel, das sich früher viele stecken konnten, durch angestrengte Tätigkeit zu
einer unabhängigen wirtschaftlichen Existenz zu gelangen, können heute auch
von den dazu Berufnen nur noch wenige erreichen, und je weiter der Kon-
zentrationsprozeß des Großkapitals fortschreitet, um so näher werden wir dem
Zustande kommen, daß einige wenige Auserwählte unser gesamtes Wirtschafts¬
leben leiten. Daß bei dieser Unterdrückung der Persönlichkeit, bei der ununter-
brochnem, angestrengten Arbeit, die das moderne Wirtschaftsleben fordert, die
Menschen einseitiger, auch innerlich unfreier wurden, konnte nicht ausbleiben.

Diese außerordentliche wirtschaftliche Entwicklung aber, die wir in der
kurzen Zeit seit den sechziger und eigentlich erst seit den siebziger Jahren des
vorigen Jahrhunderts erlebt haben, hat nicht nur die Wirkung gehabt, daß
zugunsten weniger Auserwählter eine große Zahl einstmals wirtschaftlich un¬
abhängiger Existenzen vernichtet, viele früher in freiem Berufe tätige zu An¬
gestellten der Großunternehmung, zu Hörigen des Kapitals, besonders aber in
die Klasse der Lohnarbeiter herabgedrückt worden sind, sie hat außerdem auch
innerhalb des Deutschen Reiches eine Verschiebung der Bevölkerung, eine
Binnenwanderung zur Folge gehabt, die wirtschaftlich und politisch von der
allergrößten Bedeutung ist. Zu der sozialen Umschichtung kam die räumliche
Umschichtung.

Nach Schmoller und Lamprecht lebten im Gebiete des heutigen Deutschen
Reiches auf dem Geviertkilometer im Jahre 1800 nur 40 Einwohner, im
Jahre 1900 aber deren 104. In den Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts,
in denen auf der Grundlage des freien Wettbewerbs der Kleinbetrieb, das
Handwerk zurückgedrängt wurde durch die werdende Macht des Kapitals, war
Deutschland ein Land starker Auswanderung. Über das Meer, besonders nach


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[0395] Betrachtungen über innere Politik gedrückt, und viele andre, die dem Namen nach Handwerker blieben, wurden tatsächlich abhängig vom Großkapital. Und ähnlich im Handel. Vom kleinen Kramladen führte der Weg zum Großunternehmer, der bei geringerm Verdienst im einzelnen einen sehr viel größern Umsatz erreicht, die kleinen Konkurrenten erdrückt oder von sich abhängig macht. Das Warenhaus ist der Abschluß dieser Entwicklung. Auf allen Gebieten also dasselbe Ergebnis, daß ein großer Teil der einst¬ mals freien Existenzen vernichtet wurde; der Hausindustrielle war zum Arbeiter geworden, der Handwerker zum Diener des Kapitals, der kleine Kaufmann zum Angestellten des Großunternehmers. Es hat keinen Zweck, diese Ent¬ wicklung zu beklagen, denn sie war wohl unvermeidlich, und es kommt nur darauf an, über ihre Wirkungen klar zu werden. Die frühere Arbeit war Qualitätsarbeit gewesen, die Persönlichkeit des einzelnen, ihr Geschmack, ihre Begabung kamen dabei zu ihrem Rechte. Selbst der kleinste Handwerker konnte sich ausleben in seiner Hände Arbeit. Auf der Quantität aber beruht die Arbeit des Großunternehmens, sie ist Massenarbeit und Arbeit für die Masse. Die Persönlichkeit des einzelnen mußte leiden, da nur wenigen noch beschieden blieb, sich frei zu betätigen, sich in selbständiger Arbeit zu entwickeln. Das Ziel, das sich früher viele stecken konnten, durch angestrengte Tätigkeit zu einer unabhängigen wirtschaftlichen Existenz zu gelangen, können heute auch von den dazu Berufnen nur noch wenige erreichen, und je weiter der Kon- zentrationsprozeß des Großkapitals fortschreitet, um so näher werden wir dem Zustande kommen, daß einige wenige Auserwählte unser gesamtes Wirtschafts¬ leben leiten. Daß bei dieser Unterdrückung der Persönlichkeit, bei der ununter- brochnem, angestrengten Arbeit, die das moderne Wirtschaftsleben fordert, die Menschen einseitiger, auch innerlich unfreier wurden, konnte nicht ausbleiben. Diese außerordentliche wirtschaftliche Entwicklung aber, die wir in der kurzen Zeit seit den sechziger und eigentlich erst seit den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts erlebt haben, hat nicht nur die Wirkung gehabt, daß zugunsten weniger Auserwählter eine große Zahl einstmals wirtschaftlich un¬ abhängiger Existenzen vernichtet, viele früher in freiem Berufe tätige zu An¬ gestellten der Großunternehmung, zu Hörigen des Kapitals, besonders aber in die Klasse der Lohnarbeiter herabgedrückt worden sind, sie hat außerdem auch innerhalb des Deutschen Reiches eine Verschiebung der Bevölkerung, eine Binnenwanderung zur Folge gehabt, die wirtschaftlich und politisch von der allergrößten Bedeutung ist. Zu der sozialen Umschichtung kam die räumliche Umschichtung. Nach Schmoller und Lamprecht lebten im Gebiete des heutigen Deutschen Reiches auf dem Geviertkilometer im Jahre 1800 nur 40 Einwohner, im Jahre 1900 aber deren 104. In den Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts, in denen auf der Grundlage des freien Wettbewerbs der Kleinbetrieb, das Handwerk zurückgedrängt wurde durch die werdende Macht des Kapitals, war Deutschland ein Land starker Auswanderung. Über das Meer, besonders nach

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701/395>, abgerufen am 15.05.2024.