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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr.

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Der Lehrling in den kunstgewerblichen Berufen

daß es auch ein goldner Boden sei. Aber daran glauben heute nur noch sehr
wenig Leute. Die Mutter behält in der Regel recht, der Sohn wird was
"besseres".

In der Schule stellt sich die Sache so dar, daß nur die ganz unbrauch¬
baren Elemente, die gar nicht weiter können, dem Handwerk zugeführt werden.
Die es halbwegs vermögen, drängen nach der Mittelschule, die übergroße
Mehrzahl hält sich ein paar Klassen laug mit Ach und Krach und wendet sich,
mit einem dürftigen Halbwissen ausgestattet, einem der mittlern Berufe zu.
Wenn sie auch nichts besondres werden, so sind sie nach ihrer Meinung zu etwas
aufgestiegen, das ihnen höher als der Handwerkerstand scheint. Sie sind Herren.
Du lieber Himmel! Das sogenannte geistige Proletariat hat in den Städten
einen Umfang angenommen, von dem man sich noch keine rechte Vorstellung
macht. Die Väter und Mütter würden von der klaren Erkenntnis der Sachlage
viel für ihre Kinder profitieren können, aber trotzdem -- vorläufig steht es
fest: Der Sohn wird kein Handwerker.

Werfen wir nun anch einen Blick in das Handwerk selbst, und zwar ins
Kunsthandwerk, von dem ich erfahrungsmäßiges mitteilen will. Vielleicht ist
hier eine Erklärung der sonderbaren Abneigung gegen die Lehrlingspraxis zu
finden; sie ist in der Tat so bedenklich, daß man sie einmal vor der Öffent¬
lichkeit behandeln muß. Die Meister aller Handwerke klagen einstimmig über
den Lehrlingsmangel. Es ist festgestellt worden, daß zum Beispiel im Tischler¬
gewerbe einer großem Stadt auf 400 Schreinermeister etwa 84 Lehrlinge, also
auf jeden fünften Meister nur ein Lehrling kommt. In andern Zweigen des
Kunsthandwerks sieht es wohl noch schlimmer aus. Den Meistern wird himmel¬
angst, und die Frage entsteht: Was soll denn mit dem Handwerk werden, wenn
der Nachwuchs gänzlich versiegt? Der Fachverband zur Wahrung der wirt¬
schaftlichen Interessen im Kunstgewerbe hat kürzlich auf seinem Kongreß in
Düsseldorf diese Frage auf die Tagesordnung gesetzt. Dieser Fachverband ist
jüngst durch seine heftigen Ausfülle gegen Hermann Muthesius, einen der Vor¬
kämpfer des neuen deutschen Kunstgewerbes, zu einer gewissen traurigen
Berühmtheit gelaugt. Nichtsdestoweniger haben die Kongreßverhandlungen dieses
Verbandes über das Lehrlingswesen Bedeutung, weil sie der unverfälschte
Ausdruck über die in den Gewerbebetrieben herrschende Auffassung sind. Wenn
man diese "Meister" hört, gewinnt man den Eindruck, daß sie sich dem Lehrling
gegenüber zwar sehr vieler Rechte, aber keineswegs ebenso vieler Pflichten
bewußt sind. Es scheint tatsächlich, was durch viele Erfahrungen bestätigt wird,
daß der Lehrling in den häufigsten Fällen für den Lehrherrn nur wegen der
materiellen Vorteile in Betracht komme. Die Lehrlingsausnutzung ist tatsächlich
die eigentliche Ursache der Handwerksuntüchtigkeit. Diese Ausnutzung ist so
selbstverständlich geworden, daß die Referenten auf dem Düsseldorfer Kongreß
sogar den Besuch der Fachschulen, der in die Arbeitszeit fällt, als lästig und
die Interessen des Lehrherrn schädigend bezeichneten. Erhebungen, die sich
jederzeit nachprüfen lassen, haben festgestellt, daß bei einer drei- oder vierjährigen


Der Lehrling in den kunstgewerblichen Berufen

daß es auch ein goldner Boden sei. Aber daran glauben heute nur noch sehr
wenig Leute. Die Mutter behält in der Regel recht, der Sohn wird was
„besseres".

In der Schule stellt sich die Sache so dar, daß nur die ganz unbrauch¬
baren Elemente, die gar nicht weiter können, dem Handwerk zugeführt werden.
Die es halbwegs vermögen, drängen nach der Mittelschule, die übergroße
Mehrzahl hält sich ein paar Klassen laug mit Ach und Krach und wendet sich,
mit einem dürftigen Halbwissen ausgestattet, einem der mittlern Berufe zu.
Wenn sie auch nichts besondres werden, so sind sie nach ihrer Meinung zu etwas
aufgestiegen, das ihnen höher als der Handwerkerstand scheint. Sie sind Herren.
Du lieber Himmel! Das sogenannte geistige Proletariat hat in den Städten
einen Umfang angenommen, von dem man sich noch keine rechte Vorstellung
macht. Die Väter und Mütter würden von der klaren Erkenntnis der Sachlage
viel für ihre Kinder profitieren können, aber trotzdem — vorläufig steht es
fest: Der Sohn wird kein Handwerker.

Werfen wir nun anch einen Blick in das Handwerk selbst, und zwar ins
Kunsthandwerk, von dem ich erfahrungsmäßiges mitteilen will. Vielleicht ist
hier eine Erklärung der sonderbaren Abneigung gegen die Lehrlingspraxis zu
finden; sie ist in der Tat so bedenklich, daß man sie einmal vor der Öffent¬
lichkeit behandeln muß. Die Meister aller Handwerke klagen einstimmig über
den Lehrlingsmangel. Es ist festgestellt worden, daß zum Beispiel im Tischler¬
gewerbe einer großem Stadt auf 400 Schreinermeister etwa 84 Lehrlinge, also
auf jeden fünften Meister nur ein Lehrling kommt. In andern Zweigen des
Kunsthandwerks sieht es wohl noch schlimmer aus. Den Meistern wird himmel¬
angst, und die Frage entsteht: Was soll denn mit dem Handwerk werden, wenn
der Nachwuchs gänzlich versiegt? Der Fachverband zur Wahrung der wirt¬
schaftlichen Interessen im Kunstgewerbe hat kürzlich auf seinem Kongreß in
Düsseldorf diese Frage auf die Tagesordnung gesetzt. Dieser Fachverband ist
jüngst durch seine heftigen Ausfülle gegen Hermann Muthesius, einen der Vor¬
kämpfer des neuen deutschen Kunstgewerbes, zu einer gewissen traurigen
Berühmtheit gelaugt. Nichtsdestoweniger haben die Kongreßverhandlungen dieses
Verbandes über das Lehrlingswesen Bedeutung, weil sie der unverfälschte
Ausdruck über die in den Gewerbebetrieben herrschende Auffassung sind. Wenn
man diese „Meister" hört, gewinnt man den Eindruck, daß sie sich dem Lehrling
gegenüber zwar sehr vieler Rechte, aber keineswegs ebenso vieler Pflichten
bewußt sind. Es scheint tatsächlich, was durch viele Erfahrungen bestätigt wird,
daß der Lehrling in den häufigsten Fällen für den Lehrherrn nur wegen der
materiellen Vorteile in Betracht komme. Die Lehrlingsausnutzung ist tatsächlich
die eigentliche Ursache der Handwerksuntüchtigkeit. Diese Ausnutzung ist so
selbstverständlich geworden, daß die Referenten auf dem Düsseldorfer Kongreß
sogar den Besuch der Fachschulen, der in die Arbeitszeit fällt, als lästig und
die Interessen des Lehrherrn schädigend bezeichneten. Erhebungen, die sich
jederzeit nachprüfen lassen, haben festgestellt, daß bei einer drei- oder vierjährigen


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[0468] Der Lehrling in den kunstgewerblichen Berufen daß es auch ein goldner Boden sei. Aber daran glauben heute nur noch sehr wenig Leute. Die Mutter behält in der Regel recht, der Sohn wird was „besseres". In der Schule stellt sich die Sache so dar, daß nur die ganz unbrauch¬ baren Elemente, die gar nicht weiter können, dem Handwerk zugeführt werden. Die es halbwegs vermögen, drängen nach der Mittelschule, die übergroße Mehrzahl hält sich ein paar Klassen laug mit Ach und Krach und wendet sich, mit einem dürftigen Halbwissen ausgestattet, einem der mittlern Berufe zu. Wenn sie auch nichts besondres werden, so sind sie nach ihrer Meinung zu etwas aufgestiegen, das ihnen höher als der Handwerkerstand scheint. Sie sind Herren. Du lieber Himmel! Das sogenannte geistige Proletariat hat in den Städten einen Umfang angenommen, von dem man sich noch keine rechte Vorstellung macht. Die Väter und Mütter würden von der klaren Erkenntnis der Sachlage viel für ihre Kinder profitieren können, aber trotzdem — vorläufig steht es fest: Der Sohn wird kein Handwerker. Werfen wir nun anch einen Blick in das Handwerk selbst, und zwar ins Kunsthandwerk, von dem ich erfahrungsmäßiges mitteilen will. Vielleicht ist hier eine Erklärung der sonderbaren Abneigung gegen die Lehrlingspraxis zu finden; sie ist in der Tat so bedenklich, daß man sie einmal vor der Öffent¬ lichkeit behandeln muß. Die Meister aller Handwerke klagen einstimmig über den Lehrlingsmangel. Es ist festgestellt worden, daß zum Beispiel im Tischler¬ gewerbe einer großem Stadt auf 400 Schreinermeister etwa 84 Lehrlinge, also auf jeden fünften Meister nur ein Lehrling kommt. In andern Zweigen des Kunsthandwerks sieht es wohl noch schlimmer aus. Den Meistern wird himmel¬ angst, und die Frage entsteht: Was soll denn mit dem Handwerk werden, wenn der Nachwuchs gänzlich versiegt? Der Fachverband zur Wahrung der wirt¬ schaftlichen Interessen im Kunstgewerbe hat kürzlich auf seinem Kongreß in Düsseldorf diese Frage auf die Tagesordnung gesetzt. Dieser Fachverband ist jüngst durch seine heftigen Ausfülle gegen Hermann Muthesius, einen der Vor¬ kämpfer des neuen deutschen Kunstgewerbes, zu einer gewissen traurigen Berühmtheit gelaugt. Nichtsdestoweniger haben die Kongreßverhandlungen dieses Verbandes über das Lehrlingswesen Bedeutung, weil sie der unverfälschte Ausdruck über die in den Gewerbebetrieben herrschende Auffassung sind. Wenn man diese „Meister" hört, gewinnt man den Eindruck, daß sie sich dem Lehrling gegenüber zwar sehr vieler Rechte, aber keineswegs ebenso vieler Pflichten bewußt sind. Es scheint tatsächlich, was durch viele Erfahrungen bestätigt wird, daß der Lehrling in den häufigsten Fällen für den Lehrherrn nur wegen der materiellen Vorteile in Betracht komme. Die Lehrlingsausnutzung ist tatsächlich die eigentliche Ursache der Handwerksuntüchtigkeit. Diese Ausnutzung ist so selbstverständlich geworden, daß die Referenten auf dem Düsseldorfer Kongreß sogar den Besuch der Fachschulen, der in die Arbeitszeit fällt, als lästig und die Interessen des Lehrherrn schädigend bezeichneten. Erhebungen, die sich jederzeit nachprüfen lassen, haben festgestellt, daß bei einer drei- oder vierjährigen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701/468>, abgerufen am 28.05.2024.