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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr.

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Der Lehrling in den kunstgewerblichen Berufen

zu erkennen und zu fördern. Edle Arbeit macht uns menschlich reich und nährt
die Freude am Schönen, und vom Schönen lebt nach Feuchtersleben das Gute
im Menschen. Von der Höhe der gewerblichen Arbeit hängt die Höhe der
nationalen Kultur ab, das soziale Ansehen und die Menschenwürde des ge¬
werblichen Arbeiters. Die Steigerung der Kunst hängt vor allem von der
Steigerung der Leistung im Gewerbe ab.

Glücklicherweise können wir den vorher geschilderten Schattenseiten freund¬
liche Bilder entgegenstellen, die als Beispiel ihren erziehenden Wert nicht ver¬
fehlen werden. In modern geleiteten Betrieben wächst die Sorge für einen ver¬
edelten Nachwuchs. Da es am ersprießlichsten ist, Erfahrungen mitzuteilen, so will
ich hier in einigen Zügen das Programm einer von mir geleiteten Lehrlingsschule
anführen, die in Verbindung mit den Dresdner Werkstätten für Handwerkskunst
ins Leben gerufen wurde. Die Schule ist zunächst für die Lehrlinge des eignen
Betriebs eingerichtet, doch ist daran gedacht, daß auch die Gehilfen teilnehmen
können und Lehrlinge andrer kleinerer Werkstätten von der Beteiligung an dem
Unterricht nicht ausgeschlossen sind. Die Lehrlinge arbeiten während einer
dreijährigen Lehrzeit täglich von fünf bis sieben Uhr in der Werkstätte und
werden an Aufgaben beteiligt, die die beste Ausbildung verbürgen. Der
theoretische Unterricht baut sich auf der gewerblichen Grundlage auf, umsaßt
Materialkunde, Holzchemie, Patent- und Musterschutz, juristische Grundbegriffe,
Kontorpraxis, Praxis im Zeichenbureau, Zeichnen und Modellieren nach der
Natur und aus der Erinnerung, Volkswirtschaft, Lektüre und Besprechung von
Meisterwerken der Literatur und ähnliches. Stillehre wird grundsätzlich nicht
gelehrt, dagegen die organischen Funktionen des Mobiliars und der Wohnräume,
die zwecklichformalen Grundlagen festgestellt und auf Grund der gewonnenen
Erkenntnis und Anschauungen die Formen freihändig skizziert. Die Skizzen
dienen als Grundlage für die Anfertigung genauer Fachzeichnungen in ein
Zehntel naturgroße und von Werkzeichnungen. Die Schule ist als Neform-
anstalt aus der Unzufriedenheit mit der schematischen Fortbildungsschule ent¬
standen und will an die Stelle des Schemas die persönliche Initiative setzen.
Zeugnisse, Klassifikationen, Strafen, wie überhaupt jede Kathederform, sind
abgeschafft. Die Unterweisungen erfolgen im Wege der Diskussion und des
freundlichen Umganges, das Du-Wort in Schule und Werkstatt, die Inan¬
spruchnahme von Laufburschendiensten, jedes unfreundliche oder kränkende Wort
den Lehrlingen gegenüber ist streng verpönt, dagegen ist von vornherein in
der Behandlung wie im Unterricht auf Grundlage der praktischen Ausbildung
das ganze Gewicht auf die Hebung der menschlichen Qualität gelegt, weil nicht
einzusehen ist, wie sonst gewerbliche Qualität entstehen könnte. Für Söhne
aus wohlhabenden Häusern ist ein hohes Lehrgeld bestimmt, was den Zweck
hat, in Verbindung mit dem hohen materiellen Pflichtanteil, den der Betrieb
hinzugibt, einer möglichst großen Zahl unbemittelter junger Leute alles nötige
kostenlos zu sorgen. Die Zahl unsrer Lehrlinge und Schüler muß natürlich


Der Lehrling in den kunstgewerblichen Berufen

zu erkennen und zu fördern. Edle Arbeit macht uns menschlich reich und nährt
die Freude am Schönen, und vom Schönen lebt nach Feuchtersleben das Gute
im Menschen. Von der Höhe der gewerblichen Arbeit hängt die Höhe der
nationalen Kultur ab, das soziale Ansehen und die Menschenwürde des ge¬
werblichen Arbeiters. Die Steigerung der Kunst hängt vor allem von der
Steigerung der Leistung im Gewerbe ab.

Glücklicherweise können wir den vorher geschilderten Schattenseiten freund¬
liche Bilder entgegenstellen, die als Beispiel ihren erziehenden Wert nicht ver¬
fehlen werden. In modern geleiteten Betrieben wächst die Sorge für einen ver¬
edelten Nachwuchs. Da es am ersprießlichsten ist, Erfahrungen mitzuteilen, so will
ich hier in einigen Zügen das Programm einer von mir geleiteten Lehrlingsschule
anführen, die in Verbindung mit den Dresdner Werkstätten für Handwerkskunst
ins Leben gerufen wurde. Die Schule ist zunächst für die Lehrlinge des eignen
Betriebs eingerichtet, doch ist daran gedacht, daß auch die Gehilfen teilnehmen
können und Lehrlinge andrer kleinerer Werkstätten von der Beteiligung an dem
Unterricht nicht ausgeschlossen sind. Die Lehrlinge arbeiten während einer
dreijährigen Lehrzeit täglich von fünf bis sieben Uhr in der Werkstätte und
werden an Aufgaben beteiligt, die die beste Ausbildung verbürgen. Der
theoretische Unterricht baut sich auf der gewerblichen Grundlage auf, umsaßt
Materialkunde, Holzchemie, Patent- und Musterschutz, juristische Grundbegriffe,
Kontorpraxis, Praxis im Zeichenbureau, Zeichnen und Modellieren nach der
Natur und aus der Erinnerung, Volkswirtschaft, Lektüre und Besprechung von
Meisterwerken der Literatur und ähnliches. Stillehre wird grundsätzlich nicht
gelehrt, dagegen die organischen Funktionen des Mobiliars und der Wohnräume,
die zwecklichformalen Grundlagen festgestellt und auf Grund der gewonnenen
Erkenntnis und Anschauungen die Formen freihändig skizziert. Die Skizzen
dienen als Grundlage für die Anfertigung genauer Fachzeichnungen in ein
Zehntel naturgroße und von Werkzeichnungen. Die Schule ist als Neform-
anstalt aus der Unzufriedenheit mit der schematischen Fortbildungsschule ent¬
standen und will an die Stelle des Schemas die persönliche Initiative setzen.
Zeugnisse, Klassifikationen, Strafen, wie überhaupt jede Kathederform, sind
abgeschafft. Die Unterweisungen erfolgen im Wege der Diskussion und des
freundlichen Umganges, das Du-Wort in Schule und Werkstatt, die Inan¬
spruchnahme von Laufburschendiensten, jedes unfreundliche oder kränkende Wort
den Lehrlingen gegenüber ist streng verpönt, dagegen ist von vornherein in
der Behandlung wie im Unterricht auf Grundlage der praktischen Ausbildung
das ganze Gewicht auf die Hebung der menschlichen Qualität gelegt, weil nicht
einzusehen ist, wie sonst gewerbliche Qualität entstehen könnte. Für Söhne
aus wohlhabenden Häusern ist ein hohes Lehrgeld bestimmt, was den Zweck
hat, in Verbindung mit dem hohen materiellen Pflichtanteil, den der Betrieb
hinzugibt, einer möglichst großen Zahl unbemittelter junger Leute alles nötige
kostenlos zu sorgen. Die Zahl unsrer Lehrlinge und Schüler muß natürlich


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[0472] Der Lehrling in den kunstgewerblichen Berufen zu erkennen und zu fördern. Edle Arbeit macht uns menschlich reich und nährt die Freude am Schönen, und vom Schönen lebt nach Feuchtersleben das Gute im Menschen. Von der Höhe der gewerblichen Arbeit hängt die Höhe der nationalen Kultur ab, das soziale Ansehen und die Menschenwürde des ge¬ werblichen Arbeiters. Die Steigerung der Kunst hängt vor allem von der Steigerung der Leistung im Gewerbe ab. Glücklicherweise können wir den vorher geschilderten Schattenseiten freund¬ liche Bilder entgegenstellen, die als Beispiel ihren erziehenden Wert nicht ver¬ fehlen werden. In modern geleiteten Betrieben wächst die Sorge für einen ver¬ edelten Nachwuchs. Da es am ersprießlichsten ist, Erfahrungen mitzuteilen, so will ich hier in einigen Zügen das Programm einer von mir geleiteten Lehrlingsschule anführen, die in Verbindung mit den Dresdner Werkstätten für Handwerkskunst ins Leben gerufen wurde. Die Schule ist zunächst für die Lehrlinge des eignen Betriebs eingerichtet, doch ist daran gedacht, daß auch die Gehilfen teilnehmen können und Lehrlinge andrer kleinerer Werkstätten von der Beteiligung an dem Unterricht nicht ausgeschlossen sind. Die Lehrlinge arbeiten während einer dreijährigen Lehrzeit täglich von fünf bis sieben Uhr in der Werkstätte und werden an Aufgaben beteiligt, die die beste Ausbildung verbürgen. Der theoretische Unterricht baut sich auf der gewerblichen Grundlage auf, umsaßt Materialkunde, Holzchemie, Patent- und Musterschutz, juristische Grundbegriffe, Kontorpraxis, Praxis im Zeichenbureau, Zeichnen und Modellieren nach der Natur und aus der Erinnerung, Volkswirtschaft, Lektüre und Besprechung von Meisterwerken der Literatur und ähnliches. Stillehre wird grundsätzlich nicht gelehrt, dagegen die organischen Funktionen des Mobiliars und der Wohnräume, die zwecklichformalen Grundlagen festgestellt und auf Grund der gewonnenen Erkenntnis und Anschauungen die Formen freihändig skizziert. Die Skizzen dienen als Grundlage für die Anfertigung genauer Fachzeichnungen in ein Zehntel naturgroße und von Werkzeichnungen. Die Schule ist als Neform- anstalt aus der Unzufriedenheit mit der schematischen Fortbildungsschule ent¬ standen und will an die Stelle des Schemas die persönliche Initiative setzen. Zeugnisse, Klassifikationen, Strafen, wie überhaupt jede Kathederform, sind abgeschafft. Die Unterweisungen erfolgen im Wege der Diskussion und des freundlichen Umganges, das Du-Wort in Schule und Werkstatt, die Inan¬ spruchnahme von Laufburschendiensten, jedes unfreundliche oder kränkende Wort den Lehrlingen gegenüber ist streng verpönt, dagegen ist von vornherein in der Behandlung wie im Unterricht auf Grundlage der praktischen Ausbildung das ganze Gewicht auf die Hebung der menschlichen Qualität gelegt, weil nicht einzusehen ist, wie sonst gewerbliche Qualität entstehen könnte. Für Söhne aus wohlhabenden Häusern ist ein hohes Lehrgeld bestimmt, was den Zweck hat, in Verbindung mit dem hohen materiellen Pflichtanteil, den der Betrieb hinzugibt, einer möglichst großen Zahl unbemittelter junger Leute alles nötige kostenlos zu sorgen. Die Zahl unsrer Lehrlinge und Schüler muß natürlich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701/472>, abgerufen am 15.05.2024.