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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

indem beim ersten Straßengefecht, dem ich neugierig von meinem Fenster aus zu¬
sehen wollte, mir eine Flintenkugel kaum eine Spanne weit am Kopf vorüber¬
sauste und in die vorstehende Wand des Nachbarhauses einschlug. Nach einer
lustigen, ganz in studentischer Weise zurückgelegten Reise mit fünfzehn Kommilitonen
in die Heimat, wo ich mehrere Wochen verweilte, kehrte ich im November nach
Jena zurück." Das ist alles. Trotz der nur beiläufigen Erwähnung der Schlacht
ist die Erzählung von Interesse. Sicher schon des Schreibers wegen. Denn der
so neugierig aus dem Fenster der Studentenbude dem Straßenkampf zusah, wie
irgendeinem gleichgiltigen Gassenvorkommnis, der von der verirrten Flintenkugel
so erschreckt wurde, der kurz nach der Schlacht trotz der argen Nöte der Zeit auf
der fröhlichen Heimreise sich erlustigte, das war kein geringerer als der einst ver¬
ehrte und geschätzte Königsberger Professor der Geschichte Johannes Voigt. Voigt
war 1786 in einem Dorfe bei Meiningen geboren, die Königsberger Professur
erhielt er 1817 und blieb in dieser Stellung bis zu seinem Tode 1863. Seine
wissenschaftlichen Arbeiten, es sind zahlreiche Bände, galten der Geschichte der neuen
Heimat, er wurde der eigentliche Historiker des Deutschen Ordens. Heute sind
diese Bücher wohl nur noch dem Fachmann, der auf demselben Gebiet arbeitet,
bekannt. Nach seinem Beruf und nach seinen Büchern kann an der vaterländischen
Gesinnung des Mannes gar nicht gezweifelt werden. Als er in hohen Jahren
den Abriß seines Lebens niederschrieb (er erschien 1861 als Vorwort zu dem heute
noch lesenswerten Buche: Blicke in das kunst- und gewerbreiche Leben der Stadt
Nürnberg im sechzehnten Jahrhundert), schildert er sein Verhalten am Schlachttage
wahrheitsgetreu und unbefangen, er fand daran nichts zu tadeln. In dem damals
zwanzigjährigen Jüngling von nicht gewöhnlicher Begabung steckte Tüchtiges, und
doch erkannte er die gefährliche Lage des ganzen Vaterlandes nicht und nahm
nicht einmal im Greisenalter Anlaß, den Irrtum der Jugend zu erklären. Voigt
war Thüringer, da mochte er wohl in der Schlacht von Jena nur die Niederlage
des preußischen Heeres sehen, die weitern Folgen des unglücklichen Tages entzogen
sich seinem Verständnis. Als kleines, aber sicher nicht erfreuliches Stimmungsbild
I- S. erscheint mir der kurze Bericht der Mitteilung wert.




Maßgebliches und Unmaßgebliches

indem beim ersten Straßengefecht, dem ich neugierig von meinem Fenster aus zu¬
sehen wollte, mir eine Flintenkugel kaum eine Spanne weit am Kopf vorüber¬
sauste und in die vorstehende Wand des Nachbarhauses einschlug. Nach einer
lustigen, ganz in studentischer Weise zurückgelegten Reise mit fünfzehn Kommilitonen
in die Heimat, wo ich mehrere Wochen verweilte, kehrte ich im November nach
Jena zurück." Das ist alles. Trotz der nur beiläufigen Erwähnung der Schlacht
ist die Erzählung von Interesse. Sicher schon des Schreibers wegen. Denn der
so neugierig aus dem Fenster der Studentenbude dem Straßenkampf zusah, wie
irgendeinem gleichgiltigen Gassenvorkommnis, der von der verirrten Flintenkugel
so erschreckt wurde, der kurz nach der Schlacht trotz der argen Nöte der Zeit auf
der fröhlichen Heimreise sich erlustigte, das war kein geringerer als der einst ver¬
ehrte und geschätzte Königsberger Professor der Geschichte Johannes Voigt. Voigt
war 1786 in einem Dorfe bei Meiningen geboren, die Königsberger Professur
erhielt er 1817 und blieb in dieser Stellung bis zu seinem Tode 1863. Seine
wissenschaftlichen Arbeiten, es sind zahlreiche Bände, galten der Geschichte der neuen
Heimat, er wurde der eigentliche Historiker des Deutschen Ordens. Heute sind
diese Bücher wohl nur noch dem Fachmann, der auf demselben Gebiet arbeitet,
bekannt. Nach seinem Beruf und nach seinen Büchern kann an der vaterländischen
Gesinnung des Mannes gar nicht gezweifelt werden. Als er in hohen Jahren
den Abriß seines Lebens niederschrieb (er erschien 1861 als Vorwort zu dem heute
noch lesenswerten Buche: Blicke in das kunst- und gewerbreiche Leben der Stadt
Nürnberg im sechzehnten Jahrhundert), schildert er sein Verhalten am Schlachttage
wahrheitsgetreu und unbefangen, er fand daran nichts zu tadeln. In dem damals
zwanzigjährigen Jüngling von nicht gewöhnlicher Begabung steckte Tüchtiges, und
doch erkannte er die gefährliche Lage des ganzen Vaterlandes nicht und nahm
nicht einmal im Greisenalter Anlaß, den Irrtum der Jugend zu erklären. Voigt
war Thüringer, da mochte er wohl in der Schlacht von Jena nur die Niederlage
des preußischen Heeres sehen, die weitern Folgen des unglücklichen Tages entzogen
sich seinem Verständnis. Als kleines, aber sicher nicht erfreuliches Stimmungsbild
I- S. erscheint mir der kurze Bericht der Mitteilung wert.




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[0496] Maßgebliches und Unmaßgebliches indem beim ersten Straßengefecht, dem ich neugierig von meinem Fenster aus zu¬ sehen wollte, mir eine Flintenkugel kaum eine Spanne weit am Kopf vorüber¬ sauste und in die vorstehende Wand des Nachbarhauses einschlug. Nach einer lustigen, ganz in studentischer Weise zurückgelegten Reise mit fünfzehn Kommilitonen in die Heimat, wo ich mehrere Wochen verweilte, kehrte ich im November nach Jena zurück." Das ist alles. Trotz der nur beiläufigen Erwähnung der Schlacht ist die Erzählung von Interesse. Sicher schon des Schreibers wegen. Denn der so neugierig aus dem Fenster der Studentenbude dem Straßenkampf zusah, wie irgendeinem gleichgiltigen Gassenvorkommnis, der von der verirrten Flintenkugel so erschreckt wurde, der kurz nach der Schlacht trotz der argen Nöte der Zeit auf der fröhlichen Heimreise sich erlustigte, das war kein geringerer als der einst ver¬ ehrte und geschätzte Königsberger Professor der Geschichte Johannes Voigt. Voigt war 1786 in einem Dorfe bei Meiningen geboren, die Königsberger Professur erhielt er 1817 und blieb in dieser Stellung bis zu seinem Tode 1863. Seine wissenschaftlichen Arbeiten, es sind zahlreiche Bände, galten der Geschichte der neuen Heimat, er wurde der eigentliche Historiker des Deutschen Ordens. Heute sind diese Bücher wohl nur noch dem Fachmann, der auf demselben Gebiet arbeitet, bekannt. Nach seinem Beruf und nach seinen Büchern kann an der vaterländischen Gesinnung des Mannes gar nicht gezweifelt werden. Als er in hohen Jahren den Abriß seines Lebens niederschrieb (er erschien 1861 als Vorwort zu dem heute noch lesenswerten Buche: Blicke in das kunst- und gewerbreiche Leben der Stadt Nürnberg im sechzehnten Jahrhundert), schildert er sein Verhalten am Schlachttage wahrheitsgetreu und unbefangen, er fand daran nichts zu tadeln. In dem damals zwanzigjährigen Jüngling von nicht gewöhnlicher Begabung steckte Tüchtiges, und doch erkannte er die gefährliche Lage des ganzen Vaterlandes nicht und nahm nicht einmal im Greisenalter Anlaß, den Irrtum der Jugend zu erklären. Voigt war Thüringer, da mochte er wohl in der Schlacht von Jena nur die Niederlage des preußischen Heeres sehen, die weitern Folgen des unglücklichen Tages entzogen sich seinem Verständnis. Als kleines, aber sicher nicht erfreuliches Stimmungsbild I- S. erscheint mir der kurze Bericht der Mitteilung wert.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701/496>, abgerufen am 13.05.2024.