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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr.

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Die Uaiserrede in Münster

ganz persönliches Bekenntnis, das man nicht ohne Bewegung lesen kann. Er
beginnt mit einer Klage: die Menschen, mit denen er in den beinahe zwanzig
Jahren zu tun gehabt, "haben mir oft unbewußt und leider auch bewußt bitter
wehgetan". Erinnert er sich dabei an Undank und Verkennung, die ihm in der
Presse häufig genug aufgefallen sein mögen, oder denkt er an andre Dinge,
die nur Eingeweihte wissen können? Da ist wohl der Zorn in ihm aufge¬
stiegen und der Wunsch nach Vergeltung. Er hat solche Regungen nieder¬
gekämpft als Christ, indem er sich gesagt hat: "Alle sind Menschen wie Du,
und obgleich sie Dir wehe tun, sie sind Träger einer Seele aus den lichten
Höhen -- zu denen wir alle einst wieder zurückkehren wollen, und durch ihre
Seele haben sie ein Stück ihres Schöpfers in sich. Wer so denkt, fügt er
hinzu, der wird auch immer milde Beurteilung für seine Mitmenschen haben."
In dieser Gesinnung, die in Christus, "dieser persönlichsten der Persönlich¬
keiten", ihr höchstes Vorbild erkennt, sieht er die Bedingung für eine vollständige
Einigkeit, das Mittel, die Gegensätze der Anschauungen und Interessen zu
mildern, und er will alle die, die in solchem Geiste mit ihm zusammenwirken
wollen, "freudig als Mitarbeiter annehmen, er sei, wer und wes Standes
er wolle".

Mancher Kritiker hat gemeint, das sei ein Hereinziehen der "Religion" in
die Politik und also unstatthaft, denn die Religion dürfe auf das öffentliche
Leben nicht übergreifen. Das ist ein plumpes Mißverständnis. Der Kaiser
hat nur von der Gesinnung gesprochen, die in der christlichen Religion wurzelt,
und diese selbst versteht er nicht "in streng kirchlich dogmatischen Sinne, sondern
im weitern, für das Leben praktischer" Sinne". Wie soll man die Wirkung
sittlich-religiöser Gesinnung vom öffentlichen Leben ausschließen? Wer das
verlangt, der hat vom Wesen der Religion gar keinen Begriff. Wer wirklich
die Gesinnung in sich trägt, die der Kaiser meint, der kann gar keine Scheide-
Wand aufrichten zwischen seiner privaten und seiner öffentlichen Tätigkeit. Auf
der Gesinnung beruht doch schließlich alles, die besten Gesetze bleiben wirkungslos
ohne sie. Gewiß, die wirtschaftlichen und politischen Gegensätze find durch die
Gesinnung nicht aus der Welt zu schaffen; aber wenn jede Partei in ihren
Gegnern nicht nur ihre Feinde, die möglichst geschädigt und niedergekämpft
werden müßten, sehen wollte, sondern auch die Volksgenossen, mit denen man
zusammenleben und sich verständigen muß, um dem Ganzen, dein Vaterlande
zu dienen, dann wäre die widerwärtige Wut der Parteikämpfe und die schänd¬
liche Verhetzung der Gemüter, wie sie nirgends ärger sind als in Deutschland,
unmöglich. Es ist ein Ruf zur Selbstprüfung, zur Einkehr und Umkehr, den
der Kaiser zunächst an die Westfalen und dann an sein ganzes Volk richtet,
eine Mahnung an jeden, die Reformen mit sich selbst anzufangen, denn "die
Menschen sind die Zeiten".

Mag man aber über die Rede denken, wie man will, eins wird niemand
verkennen: ein hochsinniger, geistvoller Mann von starker, ja leidenschaftlicher


Die Uaiserrede in Münster

ganz persönliches Bekenntnis, das man nicht ohne Bewegung lesen kann. Er
beginnt mit einer Klage: die Menschen, mit denen er in den beinahe zwanzig
Jahren zu tun gehabt, „haben mir oft unbewußt und leider auch bewußt bitter
wehgetan". Erinnert er sich dabei an Undank und Verkennung, die ihm in der
Presse häufig genug aufgefallen sein mögen, oder denkt er an andre Dinge,
die nur Eingeweihte wissen können? Da ist wohl der Zorn in ihm aufge¬
stiegen und der Wunsch nach Vergeltung. Er hat solche Regungen nieder¬
gekämpft als Christ, indem er sich gesagt hat: „Alle sind Menschen wie Du,
und obgleich sie Dir wehe tun, sie sind Träger einer Seele aus den lichten
Höhen — zu denen wir alle einst wieder zurückkehren wollen, und durch ihre
Seele haben sie ein Stück ihres Schöpfers in sich. Wer so denkt, fügt er
hinzu, der wird auch immer milde Beurteilung für seine Mitmenschen haben."
In dieser Gesinnung, die in Christus, „dieser persönlichsten der Persönlich¬
keiten", ihr höchstes Vorbild erkennt, sieht er die Bedingung für eine vollständige
Einigkeit, das Mittel, die Gegensätze der Anschauungen und Interessen zu
mildern, und er will alle die, die in solchem Geiste mit ihm zusammenwirken
wollen, „freudig als Mitarbeiter annehmen, er sei, wer und wes Standes
er wolle".

Mancher Kritiker hat gemeint, das sei ein Hereinziehen der „Religion" in
die Politik und also unstatthaft, denn die Religion dürfe auf das öffentliche
Leben nicht übergreifen. Das ist ein plumpes Mißverständnis. Der Kaiser
hat nur von der Gesinnung gesprochen, die in der christlichen Religion wurzelt,
und diese selbst versteht er nicht „in streng kirchlich dogmatischen Sinne, sondern
im weitern, für das Leben praktischer» Sinne". Wie soll man die Wirkung
sittlich-religiöser Gesinnung vom öffentlichen Leben ausschließen? Wer das
verlangt, der hat vom Wesen der Religion gar keinen Begriff. Wer wirklich
die Gesinnung in sich trägt, die der Kaiser meint, der kann gar keine Scheide-
Wand aufrichten zwischen seiner privaten und seiner öffentlichen Tätigkeit. Auf
der Gesinnung beruht doch schließlich alles, die besten Gesetze bleiben wirkungslos
ohne sie. Gewiß, die wirtschaftlichen und politischen Gegensätze find durch die
Gesinnung nicht aus der Welt zu schaffen; aber wenn jede Partei in ihren
Gegnern nicht nur ihre Feinde, die möglichst geschädigt und niedergekämpft
werden müßten, sehen wollte, sondern auch die Volksgenossen, mit denen man
zusammenleben und sich verständigen muß, um dem Ganzen, dein Vaterlande
zu dienen, dann wäre die widerwärtige Wut der Parteikämpfe und die schänd¬
liche Verhetzung der Gemüter, wie sie nirgends ärger sind als in Deutschland,
unmöglich. Es ist ein Ruf zur Selbstprüfung, zur Einkehr und Umkehr, den
der Kaiser zunächst an die Westfalen und dann an sein ganzes Volk richtet,
eine Mahnung an jeden, die Reformen mit sich selbst anzufangen, denn „die
Menschen sind die Zeiten".

Mag man aber über die Rede denken, wie man will, eins wird niemand
verkennen: ein hochsinniger, geistvoller Mann von starker, ja leidenschaftlicher


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[0551] Die Uaiserrede in Münster ganz persönliches Bekenntnis, das man nicht ohne Bewegung lesen kann. Er beginnt mit einer Klage: die Menschen, mit denen er in den beinahe zwanzig Jahren zu tun gehabt, „haben mir oft unbewußt und leider auch bewußt bitter wehgetan". Erinnert er sich dabei an Undank und Verkennung, die ihm in der Presse häufig genug aufgefallen sein mögen, oder denkt er an andre Dinge, die nur Eingeweihte wissen können? Da ist wohl der Zorn in ihm aufge¬ stiegen und der Wunsch nach Vergeltung. Er hat solche Regungen nieder¬ gekämpft als Christ, indem er sich gesagt hat: „Alle sind Menschen wie Du, und obgleich sie Dir wehe tun, sie sind Träger einer Seele aus den lichten Höhen — zu denen wir alle einst wieder zurückkehren wollen, und durch ihre Seele haben sie ein Stück ihres Schöpfers in sich. Wer so denkt, fügt er hinzu, der wird auch immer milde Beurteilung für seine Mitmenschen haben." In dieser Gesinnung, die in Christus, „dieser persönlichsten der Persönlich¬ keiten", ihr höchstes Vorbild erkennt, sieht er die Bedingung für eine vollständige Einigkeit, das Mittel, die Gegensätze der Anschauungen und Interessen zu mildern, und er will alle die, die in solchem Geiste mit ihm zusammenwirken wollen, „freudig als Mitarbeiter annehmen, er sei, wer und wes Standes er wolle". Mancher Kritiker hat gemeint, das sei ein Hereinziehen der „Religion" in die Politik und also unstatthaft, denn die Religion dürfe auf das öffentliche Leben nicht übergreifen. Das ist ein plumpes Mißverständnis. Der Kaiser hat nur von der Gesinnung gesprochen, die in der christlichen Religion wurzelt, und diese selbst versteht er nicht „in streng kirchlich dogmatischen Sinne, sondern im weitern, für das Leben praktischer» Sinne". Wie soll man die Wirkung sittlich-religiöser Gesinnung vom öffentlichen Leben ausschließen? Wer das verlangt, der hat vom Wesen der Religion gar keinen Begriff. Wer wirklich die Gesinnung in sich trägt, die der Kaiser meint, der kann gar keine Scheide- Wand aufrichten zwischen seiner privaten und seiner öffentlichen Tätigkeit. Auf der Gesinnung beruht doch schließlich alles, die besten Gesetze bleiben wirkungslos ohne sie. Gewiß, die wirtschaftlichen und politischen Gegensätze find durch die Gesinnung nicht aus der Welt zu schaffen; aber wenn jede Partei in ihren Gegnern nicht nur ihre Feinde, die möglichst geschädigt und niedergekämpft werden müßten, sehen wollte, sondern auch die Volksgenossen, mit denen man zusammenleben und sich verständigen muß, um dem Ganzen, dein Vaterlande zu dienen, dann wäre die widerwärtige Wut der Parteikämpfe und die schänd¬ liche Verhetzung der Gemüter, wie sie nirgends ärger sind als in Deutschland, unmöglich. Es ist ein Ruf zur Selbstprüfung, zur Einkehr und Umkehr, den der Kaiser zunächst an die Westfalen und dann an sein ganzes Volk richtet, eine Mahnung an jeden, die Reformen mit sich selbst anzufangen, denn „die Menschen sind die Zeiten". Mag man aber über die Rede denken, wie man will, eins wird niemand verkennen: ein hochsinniger, geistvoller Mann von starker, ja leidenschaftlicher

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701/551>, abgerufen am 15.05.2024.