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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr.

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Irland als Dorn unter dem Panzer Englands

Kriegserklärung beantwortet. Am 20. Juni hielt sie zu Dublin unter dem
Vorsitz Mr. Redmonds Gericht über ihn. Ihr Führer ließ einen "mächtigen
Ruf zu den Waffen" ertönen; er befürwortete einen neuen Feldzug heftigster
Agitation. Das Volk solle "ohne Verzug eine große und wahrhaft männ-
liche Bewegung ins Leben rufen". Alle Zweigvereine -- solche bedecken
nämlich das ganze Land -- sollen "eine ganze Reihenfolge großer öffentlicher
Demonstrationen" veranstalten. Alle Parteimitglieder werden gebeten, "sich
kraftvoll dem Zusammenwirken mit dem Vorstande zu widmen, um die Liga
zu einer stets bereiten Macht für alle politischen und sozialen Zwecke zu
macheu". Man weiß, was das zu bedeuten hat. Wer die Geschichte Irlands
im letzten Jahrhundert überschauen kann, sieht einen Gespensterzug an sich
vorüberziehen: den Anschluß der Iren an die französische Revolution, O'Connell
und die Repealbewegung (die die Vereinigung Irlands mit England aufheben
sollte), die jungirische Bewegung, die Feiner mit ihren Bluttaten, ihrem
Terrorismus, die irische Verschwörung gegen Kanada, die zahllosen un-
gesühnten Mordtaten der Mondscheinbanden, die Landliga, die Boukottierung
der gesetzestreuen Untertanen. Die Bewegung setzt schon jetzt wieder unheil¬
drohend ein.

Um das heutige Irland zu versteh", muß man jedoch über das neun¬
zehnte Jahrhundert zurückgehn. Schon daß Kleinbritannien im Gegensatz zur
mächtigen Nachbarinsel niemals teutonisiert worden ist, schafft einen Ab¬
grund zwischen beiden. Auch in den Adern des englischen Volkes rollt
keltisches, gälisches Blut; in Wales und Nordschottland hat sich die Nasse
ziemlich rein erhalten, und erst jetzt verschwindet das Gallsche dort als Volks¬
sprache. Doch wenn auch dort erst die Angelsachsen, dann in kleinerm Maße
die Dünen und zuletzt wieder die Normannen als Eroberer auftraten, die sich
auch große Teile des privaten Eigentums an Grund und Boden aneigneten,
jedesmal unter einfacher Vertreibung der frühern Besitzer, so verschmolzen sie
sich doch alle miteinander zu einer Rasse. Sie wurden Engländer, sie sprachen
englisch. Und dann hat die ganze Bevölkerung die Reformation mitgemacht.
Die Spannung zwischen den einzelnen protestantischen Bekenntnissen hat fast
vollständig aufgehört. In Irland war im Mittelalter die teutonische Ein¬
wanderung so spärlich, daß die Urbevölkerung sie aufsaugen und Iren aus
ihr machen konnte. Die Reformation verschärfte den Unterschied aufs tiefste.
Die Iren blieben der römischen Kirche treu und gerieten staatsrechtlich in
eine Art Pariastellung, während die protestantischen Engländer ein Herren¬
volk sind.

Der Ire ist noch heute ein ausgesprochner Gallier, ein Mann, der nur
zu oft an den von Cäsar geschilderten Bewohner Frankreichs erinnert. Paddy
ist ein wunderlicher Heiliger; rasche Auffassungsgabe, Scharfsinn, Gastfreiheit
und rasch sich entfaltende Aufopferungsfähigkeit kennzeichnen ihn. Ein Stroh¬
feuer der Begeisterung bei ihm zu erregen, ist eben so leicht, wie es schwer


Irland als Dorn unter dem Panzer Englands

Kriegserklärung beantwortet. Am 20. Juni hielt sie zu Dublin unter dem
Vorsitz Mr. Redmonds Gericht über ihn. Ihr Führer ließ einen „mächtigen
Ruf zu den Waffen" ertönen; er befürwortete einen neuen Feldzug heftigster
Agitation. Das Volk solle „ohne Verzug eine große und wahrhaft männ-
liche Bewegung ins Leben rufen". Alle Zweigvereine — solche bedecken
nämlich das ganze Land — sollen „eine ganze Reihenfolge großer öffentlicher
Demonstrationen" veranstalten. Alle Parteimitglieder werden gebeten, „sich
kraftvoll dem Zusammenwirken mit dem Vorstande zu widmen, um die Liga
zu einer stets bereiten Macht für alle politischen und sozialen Zwecke zu
macheu". Man weiß, was das zu bedeuten hat. Wer die Geschichte Irlands
im letzten Jahrhundert überschauen kann, sieht einen Gespensterzug an sich
vorüberziehen: den Anschluß der Iren an die französische Revolution, O'Connell
und die Repealbewegung (die die Vereinigung Irlands mit England aufheben
sollte), die jungirische Bewegung, die Feiner mit ihren Bluttaten, ihrem
Terrorismus, die irische Verschwörung gegen Kanada, die zahllosen un-
gesühnten Mordtaten der Mondscheinbanden, die Landliga, die Boukottierung
der gesetzestreuen Untertanen. Die Bewegung setzt schon jetzt wieder unheil¬
drohend ein.

Um das heutige Irland zu versteh», muß man jedoch über das neun¬
zehnte Jahrhundert zurückgehn. Schon daß Kleinbritannien im Gegensatz zur
mächtigen Nachbarinsel niemals teutonisiert worden ist, schafft einen Ab¬
grund zwischen beiden. Auch in den Adern des englischen Volkes rollt
keltisches, gälisches Blut; in Wales und Nordschottland hat sich die Nasse
ziemlich rein erhalten, und erst jetzt verschwindet das Gallsche dort als Volks¬
sprache. Doch wenn auch dort erst die Angelsachsen, dann in kleinerm Maße
die Dünen und zuletzt wieder die Normannen als Eroberer auftraten, die sich
auch große Teile des privaten Eigentums an Grund und Boden aneigneten,
jedesmal unter einfacher Vertreibung der frühern Besitzer, so verschmolzen sie
sich doch alle miteinander zu einer Rasse. Sie wurden Engländer, sie sprachen
englisch. Und dann hat die ganze Bevölkerung die Reformation mitgemacht.
Die Spannung zwischen den einzelnen protestantischen Bekenntnissen hat fast
vollständig aufgehört. In Irland war im Mittelalter die teutonische Ein¬
wanderung so spärlich, daß die Urbevölkerung sie aufsaugen und Iren aus
ihr machen konnte. Die Reformation verschärfte den Unterschied aufs tiefste.
Die Iren blieben der römischen Kirche treu und gerieten staatsrechtlich in
eine Art Pariastellung, während die protestantischen Engländer ein Herren¬
volk sind.

Der Ire ist noch heute ein ausgesprochner Gallier, ein Mann, der nur
zu oft an den von Cäsar geschilderten Bewohner Frankreichs erinnert. Paddy
ist ein wunderlicher Heiliger; rasche Auffassungsgabe, Scharfsinn, Gastfreiheit
und rasch sich entfaltende Aufopferungsfähigkeit kennzeichnen ihn. Ein Stroh¬
feuer der Begeisterung bei ihm zu erregen, ist eben so leicht, wie es schwer


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701/602>, abgerufen am 15.05.2024.