Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite

Imperialismus der Vereinigten Staaten gesprochen, weil sie ihrem ungeheuern
Gebiet noch ein paar Jnselchen angegliedert haben, so ist das lächerlich:
berechtigt wäre die Redeweise, wenn sie sich im Ernste an das Sinn- und aus¬
sichtslose Unternehmen wagen wollten, ganz Südamerika zu beherrschen. Viel¬
leicht denkt man bei der Phrase mehr an die imperatorische oder cüsarische
Haltung, die der gegenwärtige Präsident angenommen hat. Alles Maß aber
in der Anwendung des neumodischen Ausdrucks überschreitet Ernest Seil¬
liere. Wenn er im ersten Teil seiner "Philosophie des Imperialismus"
Gobineau als den Vertreter des Kastenimperialismus darstellt (37. und 38. Heft
des Jahrgangs 1903 der Grenzboten), so läßt man sich das gefallen, denn den
Germanen wird ja von Gobineau der Herrscherberuf zuerkannt. Wenn dagegen
im zweiten Teile Friedrich Nietzsche als der Repräsentant des individualistischen
Imperialismus behandelt wird, so sehen wir, bei aller Anerkennung der vor¬
trefflichen Charakteristik Nietzsches (14. Heft 1906). in dieser Einzwüngung des
Gegenstandes in das Jmperialismusschema schon eine Künstelei. Im dritten
Teile vollends (Der demokratische Imperialismus; autorisierte Über¬
setzung von Theodor Schmidt; Berlin. H. Barsdorf. 1907) erscheint mir schon
der Titel und dann die verschwenderische Anwendung des Modeworts einfach
als eine Geschmacklosigkeit. Statt Demokratie liest man regelmäßig demokra¬
tischer Imperialismus, statt Romantik romantischer Imperialismus, statt Mili¬
tarismus militärischer Imperialismus oder auch imperialistischer Militarismus
und so fort. Auch noch in einer andern Beziehung füllt das Buch gegen die
ersten beiden Teile bedeutend ab. In diesen hat Seilliere seine glänzenden
Gaben entfaltet: fesselnde Darstellung, scharfe Kritik, Witz und Humor. Er
hatte zwei Männer kritisch zu vernichten, die in ihren Werken der Kritik einen
äußerst dankbaren Stoff geliefert haben, und er hat sich seiner Aufgabe in einer
Weise erledigt, die ihm' den heitern Beifall eines großen Publikums sichert.
Für den vorliegenden dritten Teil hat er sich eine doppelt undankbare Aufgabe
gewählt, die noch dazu viel schwieriger ist und weit mehr Studium und sonstige
Mühe gekostet hat als die erste. Er zergliedert die Werke von sechs Autoren,
von denen drei (Hobbes, Boulainvilliers und Mandeville) dem heutigen Publckum
gleichgültig und die drei andern (Rousseau, Proudhon, Karl Marx) schon bis
zum Überdruß breitgetreten sind. Und er preßt die sechs samt allen, die neben¬
bei gelegentlich erwähnt werden, wie Kant und Hegel, in das Prokrustesbett
des Imperialismus. Zudem wird durch die mühsame Zerfaserung der sechs
Autoren und ihrer Schriften das, was Seilliere beweisen will, nicht klarer,
sondern verdunkelt.

^Was will er beweisen? Wenn ich ihn richtig verstehe, dieses. Mandeville
irrt, wenn er das Machtstreben und den Kulturfortschritt für unsittlich hält.
Rousseau irrt, wenn er den Naturmenschen als Tugendideal verherrlicht und
die Zivilisation für alle Laster und Verbrechen verantwortlich macht. Marx
"re mit seiner Verherrlichung des Proletariats und der Verdammung der


Imperialismus der Vereinigten Staaten gesprochen, weil sie ihrem ungeheuern
Gebiet noch ein paar Jnselchen angegliedert haben, so ist das lächerlich:
berechtigt wäre die Redeweise, wenn sie sich im Ernste an das Sinn- und aus¬
sichtslose Unternehmen wagen wollten, ganz Südamerika zu beherrschen. Viel¬
leicht denkt man bei der Phrase mehr an die imperatorische oder cüsarische
Haltung, die der gegenwärtige Präsident angenommen hat. Alles Maß aber
in der Anwendung des neumodischen Ausdrucks überschreitet Ernest Seil¬
liere. Wenn er im ersten Teil seiner „Philosophie des Imperialismus"
Gobineau als den Vertreter des Kastenimperialismus darstellt (37. und 38. Heft
des Jahrgangs 1903 der Grenzboten), so läßt man sich das gefallen, denn den
Germanen wird ja von Gobineau der Herrscherberuf zuerkannt. Wenn dagegen
im zweiten Teile Friedrich Nietzsche als der Repräsentant des individualistischen
Imperialismus behandelt wird, so sehen wir, bei aller Anerkennung der vor¬
trefflichen Charakteristik Nietzsches (14. Heft 1906). in dieser Einzwüngung des
Gegenstandes in das Jmperialismusschema schon eine Künstelei. Im dritten
Teile vollends (Der demokratische Imperialismus; autorisierte Über¬
setzung von Theodor Schmidt; Berlin. H. Barsdorf. 1907) erscheint mir schon
der Titel und dann die verschwenderische Anwendung des Modeworts einfach
als eine Geschmacklosigkeit. Statt Demokratie liest man regelmäßig demokra¬
tischer Imperialismus, statt Romantik romantischer Imperialismus, statt Mili¬
tarismus militärischer Imperialismus oder auch imperialistischer Militarismus
und so fort. Auch noch in einer andern Beziehung füllt das Buch gegen die
ersten beiden Teile bedeutend ab. In diesen hat Seilliere seine glänzenden
Gaben entfaltet: fesselnde Darstellung, scharfe Kritik, Witz und Humor. Er
hatte zwei Männer kritisch zu vernichten, die in ihren Werken der Kritik einen
äußerst dankbaren Stoff geliefert haben, und er hat sich seiner Aufgabe in einer
Weise erledigt, die ihm' den heitern Beifall eines großen Publikums sichert.
Für den vorliegenden dritten Teil hat er sich eine doppelt undankbare Aufgabe
gewählt, die noch dazu viel schwieriger ist und weit mehr Studium und sonstige
Mühe gekostet hat als die erste. Er zergliedert die Werke von sechs Autoren,
von denen drei (Hobbes, Boulainvilliers und Mandeville) dem heutigen Publckum
gleichgültig und die drei andern (Rousseau, Proudhon, Karl Marx) schon bis
zum Überdruß breitgetreten sind. Und er preßt die sechs samt allen, die neben¬
bei gelegentlich erwähnt werden, wie Kant und Hegel, in das Prokrustesbett
des Imperialismus. Zudem wird durch die mühsame Zerfaserung der sechs
Autoren und ihrer Schriften das, was Seilliere beweisen will, nicht klarer,
sondern verdunkelt.

^Was will er beweisen? Wenn ich ihn richtig verstehe, dieses. Mandeville
irrt, wenn er das Machtstreben und den Kulturfortschritt für unsittlich hält.
Rousseau irrt, wenn er den Naturmenschen als Tugendideal verherrlicht und
die Zivilisation für alle Laster und Verbrechen verantwortlich macht. Marx
"re mit seiner Verherrlichung des Proletariats und der Verdammung der


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0619" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/303321"/>
          <fw type="header" place="top"/><lb/>
          <p xml:id="ID_3140" prev="#ID_3139"> Imperialismus der Vereinigten Staaten gesprochen, weil sie ihrem ungeheuern<lb/>
Gebiet noch ein paar Jnselchen angegliedert haben, so ist das lächerlich:<lb/>
berechtigt wäre die Redeweise, wenn sie sich im Ernste an das Sinn- und aus¬<lb/>
sichtslose Unternehmen wagen wollten, ganz Südamerika zu beherrschen. Viel¬<lb/>
leicht denkt man bei der Phrase mehr an die imperatorische oder cüsarische<lb/>
Haltung, die der gegenwärtige Präsident angenommen hat. Alles Maß aber<lb/>
in der Anwendung des neumodischen Ausdrucks überschreitet Ernest Seil¬<lb/>
liere. Wenn er im ersten Teil seiner &#x201E;Philosophie des Imperialismus"<lb/>
Gobineau als den Vertreter des Kastenimperialismus darstellt (37. und 38. Heft<lb/>
des Jahrgangs 1903 der Grenzboten), so läßt man sich das gefallen, denn den<lb/>
Germanen wird ja von Gobineau der Herrscherberuf zuerkannt. Wenn dagegen<lb/>
im zweiten Teile Friedrich Nietzsche als der Repräsentant des individualistischen<lb/>
Imperialismus behandelt wird, so sehen wir, bei aller Anerkennung der vor¬<lb/>
trefflichen Charakteristik Nietzsches (14. Heft 1906). in dieser Einzwüngung des<lb/>
Gegenstandes in das Jmperialismusschema schon eine Künstelei. Im dritten<lb/>
Teile vollends (Der demokratische Imperialismus; autorisierte Über¬<lb/>
setzung von Theodor Schmidt; Berlin. H. Barsdorf. 1907) erscheint mir schon<lb/>
der Titel und dann die verschwenderische Anwendung des Modeworts einfach<lb/>
als eine Geschmacklosigkeit. Statt Demokratie liest man regelmäßig demokra¬<lb/>
tischer Imperialismus, statt Romantik romantischer Imperialismus, statt Mili¬<lb/>
tarismus militärischer Imperialismus oder auch imperialistischer Militarismus<lb/>
und so fort. Auch noch in einer andern Beziehung füllt das Buch gegen die<lb/>
ersten beiden Teile bedeutend ab. In diesen hat Seilliere seine glänzenden<lb/>
Gaben entfaltet: fesselnde Darstellung, scharfe Kritik, Witz und Humor. Er<lb/>
hatte zwei Männer kritisch zu vernichten, die in ihren Werken der Kritik einen<lb/>
äußerst dankbaren Stoff geliefert haben, und er hat sich seiner Aufgabe in einer<lb/>
Weise erledigt, die ihm' den heitern Beifall eines großen Publikums sichert.<lb/>
Für den vorliegenden dritten Teil hat er sich eine doppelt undankbare Aufgabe<lb/>
gewählt, die noch dazu viel schwieriger ist und weit mehr Studium und sonstige<lb/>
Mühe gekostet hat als die erste. Er zergliedert die Werke von sechs Autoren,<lb/>
von denen drei (Hobbes, Boulainvilliers und Mandeville) dem heutigen Publckum<lb/>
gleichgültig und die drei andern (Rousseau, Proudhon, Karl Marx) schon bis<lb/>
zum Überdruß breitgetreten sind. Und er preßt die sechs samt allen, die neben¬<lb/>
bei gelegentlich erwähnt werden, wie Kant und Hegel, in das Prokrustesbett<lb/>
des Imperialismus. Zudem wird durch die mühsame Zerfaserung der sechs<lb/>
Autoren und ihrer Schriften das, was Seilliere beweisen will, nicht klarer,<lb/>
sondern verdunkelt. </p><lb/>
          <p xml:id="ID_3141" next="#ID_3142"> ^Was will er beweisen? Wenn ich ihn richtig verstehe, dieses. Mandeville<lb/>
irrt, wenn er das Machtstreben und den Kulturfortschritt für unsittlich hält.<lb/>
Rousseau irrt, wenn er den Naturmenschen als Tugendideal verherrlicht und<lb/>
die Zivilisation für alle Laster und Verbrechen verantwortlich macht. Marx<lb/>
"re mit seiner Verherrlichung des Proletariats und der Verdammung der</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0619] Imperialismus der Vereinigten Staaten gesprochen, weil sie ihrem ungeheuern Gebiet noch ein paar Jnselchen angegliedert haben, so ist das lächerlich: berechtigt wäre die Redeweise, wenn sie sich im Ernste an das Sinn- und aus¬ sichtslose Unternehmen wagen wollten, ganz Südamerika zu beherrschen. Viel¬ leicht denkt man bei der Phrase mehr an die imperatorische oder cüsarische Haltung, die der gegenwärtige Präsident angenommen hat. Alles Maß aber in der Anwendung des neumodischen Ausdrucks überschreitet Ernest Seil¬ liere. Wenn er im ersten Teil seiner „Philosophie des Imperialismus" Gobineau als den Vertreter des Kastenimperialismus darstellt (37. und 38. Heft des Jahrgangs 1903 der Grenzboten), so läßt man sich das gefallen, denn den Germanen wird ja von Gobineau der Herrscherberuf zuerkannt. Wenn dagegen im zweiten Teile Friedrich Nietzsche als der Repräsentant des individualistischen Imperialismus behandelt wird, so sehen wir, bei aller Anerkennung der vor¬ trefflichen Charakteristik Nietzsches (14. Heft 1906). in dieser Einzwüngung des Gegenstandes in das Jmperialismusschema schon eine Künstelei. Im dritten Teile vollends (Der demokratische Imperialismus; autorisierte Über¬ setzung von Theodor Schmidt; Berlin. H. Barsdorf. 1907) erscheint mir schon der Titel und dann die verschwenderische Anwendung des Modeworts einfach als eine Geschmacklosigkeit. Statt Demokratie liest man regelmäßig demokra¬ tischer Imperialismus, statt Romantik romantischer Imperialismus, statt Mili¬ tarismus militärischer Imperialismus oder auch imperialistischer Militarismus und so fort. Auch noch in einer andern Beziehung füllt das Buch gegen die ersten beiden Teile bedeutend ab. In diesen hat Seilliere seine glänzenden Gaben entfaltet: fesselnde Darstellung, scharfe Kritik, Witz und Humor. Er hatte zwei Männer kritisch zu vernichten, die in ihren Werken der Kritik einen äußerst dankbaren Stoff geliefert haben, und er hat sich seiner Aufgabe in einer Weise erledigt, die ihm' den heitern Beifall eines großen Publikums sichert. Für den vorliegenden dritten Teil hat er sich eine doppelt undankbare Aufgabe gewählt, die noch dazu viel schwieriger ist und weit mehr Studium und sonstige Mühe gekostet hat als die erste. Er zergliedert die Werke von sechs Autoren, von denen drei (Hobbes, Boulainvilliers und Mandeville) dem heutigen Publckum gleichgültig und die drei andern (Rousseau, Proudhon, Karl Marx) schon bis zum Überdruß breitgetreten sind. Und er preßt die sechs samt allen, die neben¬ bei gelegentlich erwähnt werden, wie Kant und Hegel, in das Prokrustesbett des Imperialismus. Zudem wird durch die mühsame Zerfaserung der sechs Autoren und ihrer Schriften das, was Seilliere beweisen will, nicht klarer, sondern verdunkelt. ^Was will er beweisen? Wenn ich ihn richtig verstehe, dieses. Mandeville irrt, wenn er das Machtstreben und den Kulturfortschritt für unsittlich hält. Rousseau irrt, wenn er den Naturmenschen als Tugendideal verherrlicht und die Zivilisation für alle Laster und Verbrechen verantwortlich macht. Marx "re mit seiner Verherrlichung des Proletariats und der Verdammung der

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701/619
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701/619>, abgerufen am 15.05.2024.