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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr.

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Sevilla

La Virgen de la Aurora, die Madonna der Morgenröte. Er geht ungern zu
Bett, ehe ihre Messe den Tagesanbruch eingeläutet hat.

Von seiner römischen Periode her bewahrt Sevilla nur wenig Gedenk¬
zeichen: einige Neste von Stadtmauern und Bädern, eine Wasserleitung, die
wieder in Verwendung gekommen ist, alte Münzen, die sich, wie überall, wo
die Römer gewohnt haben, mit vollen Händen in jeder Pflugfurche sammeln
lassen. Dann das herrliche Amphitheater Italie", eine echt italienische Ruine
mit verstreuten mächtigen Marmorblöcken, zitterndem Venushaar in den unter¬
irdischen Räumen und behenden Eidechsen in jeder Mauerspalte. Die Fest¬
stimmung von damals aber ist geblieben, jener ewige Frohsinn, der die Stadt
zu einem so hinreißenden Aufenthalt für Roms verwöhnte Sommerausflügler
machte.

Und diese Freude starb während der beiden nächsten Perioden, in denen
die Stadt den Vandalen und sodann den Goten als Hoflager diente, keines
Hungertodes.

Mit der Herrschaft der Mauren aber begann eine neue Zeit für Andalusien,
in der Ackerbau und Industrie, Kunst und Wissenschaft aufblühten. Man durch¬
zog das Ackerland mit einem Bcwässerungsnetze, so fein und wirksam wie das
Adernetz im menschlichen Körper, man öffnete die Berge und entnahm ihnen
ihre kostbaren Steinsorten und Metalle, Seidenzucht wurde betrieben, vorzüg¬
liche Universitäten wurden errichtet, und die üppige Phantasie des Morgen¬
länders schoß in wundervollen Märchenschlössern ans dem Boden: Alhambra,
Alcnzar, die Moscheen in Cordova und Sevilla.

Und in einem plötzlichen Anfall von Fleiß hub auch das fröhliche Sevilla
an zu arbeiten, in Gold und Spitzen und Seide: die Seidenindustrie allein
soll Hundertfünfzigtausend Menschen beschäftigt haben. Vom Guadalquivir
strömten die Handelsschiffe hinaus und brachten dem dunkeln Europa Botschaft
von dem Lichtlande Andalusien, wo Fleiß, Aufklärung und Freisinn herrschten;
wo Juden, Christen und Mauren Seite an Seite in bestem Einverständnis
lebten. Aber die Herrschaft der Mauren schwand aus Europa, spurlos wie ein
schöner Traum schwinden kann. Und Sevilla schüttelte seinen Fleiß von sich
ab wie ein Alpdrücken, streifte behend die Einwirkung von sechseinhalb Jahr¬
hunderten von sich ab und begann wiederum Feste zu feiern.

Noch steht Alcazar, La Giralda und ein Teil der maurischen Mauern, die
damals die Stadt umgaben. Die Straßen sind morgenländisch eng mit ihrer dem
Gang der Sonne entgegenlaufenden Hauptrichtung; die Häuser sind weiß gelallt,
geschlossen und haben kühle Höfe, die sich nach oben zu verengen, um die Sonne
auszuschließen.

Der Sevillaner selbst aber erinnert in nichts an den Mauren, weder an
den endigen, hochkultivierten des Mittelalters noch an seinen jetzt lebenden
unfähigen Nachkommen, der mit gekreuzten Beinen in den marokkanischen Rinn¬
steinen sitzt und verhornen vor sich hinstarrt.


Sevilla

La Virgen de la Aurora, die Madonna der Morgenröte. Er geht ungern zu
Bett, ehe ihre Messe den Tagesanbruch eingeläutet hat.

Von seiner römischen Periode her bewahrt Sevilla nur wenig Gedenk¬
zeichen: einige Neste von Stadtmauern und Bädern, eine Wasserleitung, die
wieder in Verwendung gekommen ist, alte Münzen, die sich, wie überall, wo
die Römer gewohnt haben, mit vollen Händen in jeder Pflugfurche sammeln
lassen. Dann das herrliche Amphitheater Italie«, eine echt italienische Ruine
mit verstreuten mächtigen Marmorblöcken, zitterndem Venushaar in den unter¬
irdischen Räumen und behenden Eidechsen in jeder Mauerspalte. Die Fest¬
stimmung von damals aber ist geblieben, jener ewige Frohsinn, der die Stadt
zu einem so hinreißenden Aufenthalt für Roms verwöhnte Sommerausflügler
machte.

Und diese Freude starb während der beiden nächsten Perioden, in denen
die Stadt den Vandalen und sodann den Goten als Hoflager diente, keines
Hungertodes.

Mit der Herrschaft der Mauren aber begann eine neue Zeit für Andalusien,
in der Ackerbau und Industrie, Kunst und Wissenschaft aufblühten. Man durch¬
zog das Ackerland mit einem Bcwässerungsnetze, so fein und wirksam wie das
Adernetz im menschlichen Körper, man öffnete die Berge und entnahm ihnen
ihre kostbaren Steinsorten und Metalle, Seidenzucht wurde betrieben, vorzüg¬
liche Universitäten wurden errichtet, und die üppige Phantasie des Morgen¬
länders schoß in wundervollen Märchenschlössern ans dem Boden: Alhambra,
Alcnzar, die Moscheen in Cordova und Sevilla.

Und in einem plötzlichen Anfall von Fleiß hub auch das fröhliche Sevilla
an zu arbeiten, in Gold und Spitzen und Seide: die Seidenindustrie allein
soll Hundertfünfzigtausend Menschen beschäftigt haben. Vom Guadalquivir
strömten die Handelsschiffe hinaus und brachten dem dunkeln Europa Botschaft
von dem Lichtlande Andalusien, wo Fleiß, Aufklärung und Freisinn herrschten;
wo Juden, Christen und Mauren Seite an Seite in bestem Einverständnis
lebten. Aber die Herrschaft der Mauren schwand aus Europa, spurlos wie ein
schöner Traum schwinden kann. Und Sevilla schüttelte seinen Fleiß von sich
ab wie ein Alpdrücken, streifte behend die Einwirkung von sechseinhalb Jahr¬
hunderten von sich ab und begann wiederum Feste zu feiern.

Noch steht Alcazar, La Giralda und ein Teil der maurischen Mauern, die
damals die Stadt umgaben. Die Straßen sind morgenländisch eng mit ihrer dem
Gang der Sonne entgegenlaufenden Hauptrichtung; die Häuser sind weiß gelallt,
geschlossen und haben kühle Höfe, die sich nach oben zu verengen, um die Sonne
auszuschließen.

Der Sevillaner selbst aber erinnert in nichts an den Mauren, weder an
den endigen, hochkultivierten des Mittelalters noch an seinen jetzt lebenden
unfähigen Nachkommen, der mit gekreuzten Beinen in den marokkanischen Rinn¬
steinen sitzt und verhornen vor sich hinstarrt.


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[0635] Sevilla La Virgen de la Aurora, die Madonna der Morgenröte. Er geht ungern zu Bett, ehe ihre Messe den Tagesanbruch eingeläutet hat. Von seiner römischen Periode her bewahrt Sevilla nur wenig Gedenk¬ zeichen: einige Neste von Stadtmauern und Bädern, eine Wasserleitung, die wieder in Verwendung gekommen ist, alte Münzen, die sich, wie überall, wo die Römer gewohnt haben, mit vollen Händen in jeder Pflugfurche sammeln lassen. Dann das herrliche Amphitheater Italie«, eine echt italienische Ruine mit verstreuten mächtigen Marmorblöcken, zitterndem Venushaar in den unter¬ irdischen Räumen und behenden Eidechsen in jeder Mauerspalte. Die Fest¬ stimmung von damals aber ist geblieben, jener ewige Frohsinn, der die Stadt zu einem so hinreißenden Aufenthalt für Roms verwöhnte Sommerausflügler machte. Und diese Freude starb während der beiden nächsten Perioden, in denen die Stadt den Vandalen und sodann den Goten als Hoflager diente, keines Hungertodes. Mit der Herrschaft der Mauren aber begann eine neue Zeit für Andalusien, in der Ackerbau und Industrie, Kunst und Wissenschaft aufblühten. Man durch¬ zog das Ackerland mit einem Bcwässerungsnetze, so fein und wirksam wie das Adernetz im menschlichen Körper, man öffnete die Berge und entnahm ihnen ihre kostbaren Steinsorten und Metalle, Seidenzucht wurde betrieben, vorzüg¬ liche Universitäten wurden errichtet, und die üppige Phantasie des Morgen¬ länders schoß in wundervollen Märchenschlössern ans dem Boden: Alhambra, Alcnzar, die Moscheen in Cordova und Sevilla. Und in einem plötzlichen Anfall von Fleiß hub auch das fröhliche Sevilla an zu arbeiten, in Gold und Spitzen und Seide: die Seidenindustrie allein soll Hundertfünfzigtausend Menschen beschäftigt haben. Vom Guadalquivir strömten die Handelsschiffe hinaus und brachten dem dunkeln Europa Botschaft von dem Lichtlande Andalusien, wo Fleiß, Aufklärung und Freisinn herrschten; wo Juden, Christen und Mauren Seite an Seite in bestem Einverständnis lebten. Aber die Herrschaft der Mauren schwand aus Europa, spurlos wie ein schöner Traum schwinden kann. Und Sevilla schüttelte seinen Fleiß von sich ab wie ein Alpdrücken, streifte behend die Einwirkung von sechseinhalb Jahr¬ hunderten von sich ab und begann wiederum Feste zu feiern. Noch steht Alcazar, La Giralda und ein Teil der maurischen Mauern, die damals die Stadt umgaben. Die Straßen sind morgenländisch eng mit ihrer dem Gang der Sonne entgegenlaufenden Hauptrichtung; die Häuser sind weiß gelallt, geschlossen und haben kühle Höfe, die sich nach oben zu verengen, um die Sonne auszuschließen. Der Sevillaner selbst aber erinnert in nichts an den Mauren, weder an den endigen, hochkultivierten des Mittelalters noch an seinen jetzt lebenden unfähigen Nachkommen, der mit gekreuzten Beinen in den marokkanischen Rinn¬ steinen sitzt und verhornen vor sich hinstarrt.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701/635>, abgerufen am 28.05.2024.