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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr.

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Russische Briefe

teilte. Die Ereignisse in Westeuropa und Rußlands Eingreifen in die Folge¬
erscheinungen jener Ereignisse brachten die Gegensätze zum Bewußtsein der
kämpfenden Teile. Während sich der Adel zerfleischte, erstarkte die Bureau¬
kratie. Aus der Mitte der leibeignen Bauern aber wuchs ein neuer wirtschaftlich
tüchtigerer Unternehmer- und Kapitalistenstand hervor, als es die ä>orjg,Q8t,^c>
sein konnte. Als der Adel, der sich um die Bewirtschaftung seiner Besitztümer
meist nicht kümmerte, die ihm von seinen leibeignen Vertrauensmännern
drohende wirtschaftliche Gefahr erkannte, da war es für ihn zu spät. Die
Entwicklung war ohne sein Zutun schon zu weit gegangen, als daß sie noch
hätte ohne Anwendung von Gewaltmitteln rückgängig gemacht werden können.
Denn auch des Staates Augenmerk war auf diese stärkern, also ihm nützlichem
Elemente gerichtet. Nach der Reaktion unter dem ersten Paul erließ Alexander
der Erste am 20. Februar 1803 das Gesetz über die "freien Landwirte",
Nikolaus der Erste 1842 das von den "verpflichteten Ansiedlern". Beide
Gesetze verfolgten den Zweck, den Großgrundbesitzern zu gestatten, einzelne
Bauern oder ganze Dörfer auf Grund besondrer Verträge freizugeben,*) das
heißt den wirtschaftlich starken Leibeignen die Möglichkeit zu geben, sich aus¬
zulaufen. Gab es doch Leibeigne, die über Millionen Vermögen verfügten
und Handel mit China und Indien trieben. Ferner gestattete Nikolaus un¬
freien Bauern, Land und Häuser zu erwerben, Fabriken und Handelshäuser
zu errichten, öffentliche Arbeiten zu übernehmen usw., aber -- nur mit Ge¬
nehmigung ihrer Besitzer. Durch diese Klausel wurde mit Hilfe der wirtschaft¬
lichen Maßregel die Bedeutung des Adels als Organ der zarischen Staats¬
gewalt anerkannt und hervorgehoben, der Adel aber in seinem empfindlichsten
Gefühl nicht beunruhigt. Diese letzte dem Adel gebotne Gelegenheit, seine
Autorität im Staat auf etwas anderm aufzubauen als auf der Gnade des
Zaren, hat er nicht benutzt. Die ihm reichlicher zuströmenden Geldmittel hat
er größtenteils zu fröhlichem Lebensgenuß im Auslande verwandt und dort
am Spieltisch zu Baden-Baden, in den Pariser Chcmtcmts und in den
böhmischen Bädern die Operettensigur des "reichen Russen" geschaffen. Die
Geschäfte des Staates aber besorgten der Tschinownik und verarmte und
heruntergekommne Verwandte, die kaum ein Bauernhaus ihr eigen nannten.

Da brach der Krimkrieg herein, und vor aller Welt wurde die ganze
innere Haltlosigkeit der herrschenden Kreise offenbar. Nikolaus bekannte
seinem Nachfolger, es sei ihm nicht gelungen, ein wohlgeordnetes Reich zu
hinterlassen -- und starb. Alexander der Zweite wandte sich an den "wohl-
geborner" Stand um Unterstützung bei seiner Reform zur Besserung der Lage
der Bauern, nicht der Bauern wegen, sondern um den Staat, das russische
Reich zu retten. Er berief sich dabei auf ihre eigne Auffassung, wonach der



Diese Maßregel hatte bis 1861 zur Befreiung von 164000 männlichen Seelen
geführt.
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teilte. Die Ereignisse in Westeuropa und Rußlands Eingreifen in die Folge¬
erscheinungen jener Ereignisse brachten die Gegensätze zum Bewußtsein der
kämpfenden Teile. Während sich der Adel zerfleischte, erstarkte die Bureau¬
kratie. Aus der Mitte der leibeignen Bauern aber wuchs ein neuer wirtschaftlich
tüchtigerer Unternehmer- und Kapitalistenstand hervor, als es die ä>orjg,Q8t,^c>
sein konnte. Als der Adel, der sich um die Bewirtschaftung seiner Besitztümer
meist nicht kümmerte, die ihm von seinen leibeignen Vertrauensmännern
drohende wirtschaftliche Gefahr erkannte, da war es für ihn zu spät. Die
Entwicklung war ohne sein Zutun schon zu weit gegangen, als daß sie noch
hätte ohne Anwendung von Gewaltmitteln rückgängig gemacht werden können.
Denn auch des Staates Augenmerk war auf diese stärkern, also ihm nützlichem
Elemente gerichtet. Nach der Reaktion unter dem ersten Paul erließ Alexander
der Erste am 20. Februar 1803 das Gesetz über die „freien Landwirte",
Nikolaus der Erste 1842 das von den „verpflichteten Ansiedlern". Beide
Gesetze verfolgten den Zweck, den Großgrundbesitzern zu gestatten, einzelne
Bauern oder ganze Dörfer auf Grund besondrer Verträge freizugeben,*) das
heißt den wirtschaftlich starken Leibeignen die Möglichkeit zu geben, sich aus¬
zulaufen. Gab es doch Leibeigne, die über Millionen Vermögen verfügten
und Handel mit China und Indien trieben. Ferner gestattete Nikolaus un¬
freien Bauern, Land und Häuser zu erwerben, Fabriken und Handelshäuser
zu errichten, öffentliche Arbeiten zu übernehmen usw., aber — nur mit Ge¬
nehmigung ihrer Besitzer. Durch diese Klausel wurde mit Hilfe der wirtschaft¬
lichen Maßregel die Bedeutung des Adels als Organ der zarischen Staats¬
gewalt anerkannt und hervorgehoben, der Adel aber in seinem empfindlichsten
Gefühl nicht beunruhigt. Diese letzte dem Adel gebotne Gelegenheit, seine
Autorität im Staat auf etwas anderm aufzubauen als auf der Gnade des
Zaren, hat er nicht benutzt. Die ihm reichlicher zuströmenden Geldmittel hat
er größtenteils zu fröhlichem Lebensgenuß im Auslande verwandt und dort
am Spieltisch zu Baden-Baden, in den Pariser Chcmtcmts und in den
böhmischen Bädern die Operettensigur des „reichen Russen" geschaffen. Die
Geschäfte des Staates aber besorgten der Tschinownik und verarmte und
heruntergekommne Verwandte, die kaum ein Bauernhaus ihr eigen nannten.

Da brach der Krimkrieg herein, und vor aller Welt wurde die ganze
innere Haltlosigkeit der herrschenden Kreise offenbar. Nikolaus bekannte
seinem Nachfolger, es sei ihm nicht gelungen, ein wohlgeordnetes Reich zu
hinterlassen — und starb. Alexander der Zweite wandte sich an den „wohl-
geborner" Stand um Unterstützung bei seiner Reform zur Besserung der Lage
der Bauern, nicht der Bauern wegen, sondern um den Staat, das russische
Reich zu retten. Er berief sich dabei auf ihre eigne Auffassung, wonach der



Diese Maßregel hatte bis 1861 zur Befreiung von 164000 männlichen Seelen
geführt.
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[0654] Russische Briefe teilte. Die Ereignisse in Westeuropa und Rußlands Eingreifen in die Folge¬ erscheinungen jener Ereignisse brachten die Gegensätze zum Bewußtsein der kämpfenden Teile. Während sich der Adel zerfleischte, erstarkte die Bureau¬ kratie. Aus der Mitte der leibeignen Bauern aber wuchs ein neuer wirtschaftlich tüchtigerer Unternehmer- und Kapitalistenstand hervor, als es die ä>orjg,Q8t,^c> sein konnte. Als der Adel, der sich um die Bewirtschaftung seiner Besitztümer meist nicht kümmerte, die ihm von seinen leibeignen Vertrauensmännern drohende wirtschaftliche Gefahr erkannte, da war es für ihn zu spät. Die Entwicklung war ohne sein Zutun schon zu weit gegangen, als daß sie noch hätte ohne Anwendung von Gewaltmitteln rückgängig gemacht werden können. Denn auch des Staates Augenmerk war auf diese stärkern, also ihm nützlichem Elemente gerichtet. Nach der Reaktion unter dem ersten Paul erließ Alexander der Erste am 20. Februar 1803 das Gesetz über die „freien Landwirte", Nikolaus der Erste 1842 das von den „verpflichteten Ansiedlern". Beide Gesetze verfolgten den Zweck, den Großgrundbesitzern zu gestatten, einzelne Bauern oder ganze Dörfer auf Grund besondrer Verträge freizugeben,*) das heißt den wirtschaftlich starken Leibeignen die Möglichkeit zu geben, sich aus¬ zulaufen. Gab es doch Leibeigne, die über Millionen Vermögen verfügten und Handel mit China und Indien trieben. Ferner gestattete Nikolaus un¬ freien Bauern, Land und Häuser zu erwerben, Fabriken und Handelshäuser zu errichten, öffentliche Arbeiten zu übernehmen usw., aber — nur mit Ge¬ nehmigung ihrer Besitzer. Durch diese Klausel wurde mit Hilfe der wirtschaft¬ lichen Maßregel die Bedeutung des Adels als Organ der zarischen Staats¬ gewalt anerkannt und hervorgehoben, der Adel aber in seinem empfindlichsten Gefühl nicht beunruhigt. Diese letzte dem Adel gebotne Gelegenheit, seine Autorität im Staat auf etwas anderm aufzubauen als auf der Gnade des Zaren, hat er nicht benutzt. Die ihm reichlicher zuströmenden Geldmittel hat er größtenteils zu fröhlichem Lebensgenuß im Auslande verwandt und dort am Spieltisch zu Baden-Baden, in den Pariser Chcmtcmts und in den böhmischen Bädern die Operettensigur des „reichen Russen" geschaffen. Die Geschäfte des Staates aber besorgten der Tschinownik und verarmte und heruntergekommne Verwandte, die kaum ein Bauernhaus ihr eigen nannten. Da brach der Krimkrieg herein, und vor aller Welt wurde die ganze innere Haltlosigkeit der herrschenden Kreise offenbar. Nikolaus bekannte seinem Nachfolger, es sei ihm nicht gelungen, ein wohlgeordnetes Reich zu hinterlassen — und starb. Alexander der Zweite wandte sich an den „wohl- geborner" Stand um Unterstützung bei seiner Reform zur Besserung der Lage der Bauern, nicht der Bauern wegen, sondern um den Staat, das russische Reich zu retten. Er berief sich dabei auf ihre eigne Auffassung, wonach der Diese Maßregel hatte bis 1861 zur Befreiung von 164000 männlichen Seelen geführt.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701/654>, abgerufen am 14.05.2024.