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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr.

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Der englisch-russische Vertrag über Asien

haben erkennen müssen, daß die Hoffnung auf baldige Herstellung des ge¬
schlagner Reichs zu alter Angriffskraft eitel ist. .

Noch eins muß man in den Vordergrund stellen: den Zweck des Vertrags.
Er liegt für den oberflächlichen Beobachter eben nicht auf der Hand. England
weiß zu gut, daß auf Verträge mit Rußland kein unbedingter Verlaß ist. Es
hat noch in deutlicher Erinnerung, wie sich der Zar 1870 von der im Pariser
Vertrage von 1856 übernommnen Verpflichtung, im Schwarzen Meer keine
Kriegsflotte zu halten, einfach lossagte: das geschah im tiefsten Frieden.
Frankreich, das an der Zerstörung Sebastopols das Beste getan hatte, war
ohnmächtig. England allein fühlte sich mit Recht außerstande, mit Rußland
einen Krieg zu führen, und nahm den russischen Affront hin, ohne auch nur
den Versuch zu machen, dem Schicksal in die Ruder zu fallen. So wird sich
England auch in der gegenwärtigen Angelegenheit schwerlich verhehlt haben,
daß dieser neue Vertrag Rußland nicht ewig bindet. In seiner gegen¬
wärtigen Schwäche ist an die Fortsetzung der asiatischen Vergrößerungspolitik
überhaupt nicht zu denken. Wenn es aber einst zu großer Aggressivkraft zurück¬
kehren sollte, so ist es ihm jeden Augenblick möglich, auch die jetzt an¬
scheinend geordneten persischen und afghanischen Angelegenheiten wieder ins
Rollen zu bringen.

Worin besteht also der Zweck? Er liegt in einer andern Richtung. England
hat aus Gründen seiner Gesamtpolitik das Bündnis mit Japan angenommen.
Mit japanischen Waffen hat es Rußland von der Mandschurei, vom chinesischen
Reiche abgewehrt. Es ist dadurch eine Großmacht entstanden, die im Stillen
Ozean das Übergewicht zu erlangen droht. Die Amerikaner setzen sich dagegen
schon auf die Hinterfüße, wie die anfänglich abgeleugnete, dann doch statt¬
findende Übersiedlung ihrer Flotte in den Stillen Ozean beweist. Bei den
britischen Untertanen an den Küsten dieses großen Gewässers sind nicht nur die
Japaner als Nation, sondern auch Japan als Macht im höchsten Grade un¬
beliebt. Die Australier verlangen nachdrücklich die Stationierung eines ansehn¬
lichen Teils der englischen Flotte in ihren Gewässern und wollen auch dafür
bezahlen. Sie fürchten, eines Tages könnten japanische Kriegsschiffe in Sydney
und Melbourne erscheinen, ehe von London her Hilfe gesandt werden könnte.
England selber hat vor zwei Jahren, als es den Vertrag mit Japan abschloß,
dessen Hilfe für die Sicherung der um Indien herumliegenden Pufferstaaten in
Aussicht genommen.

Aber wie wenig es ihm behagte, japanische Regimenter in Indien er¬
scheinen zu sehn, wie sehr es fürchtete, die Japaner könnten auch einmal als
Feinde kommen, ersieht man daraus, daß es schleunigst Singapore befestigte,
das eine nach Westen segelnde japanische Flotte kaum umgehn und gar nicht
in seinem Rücken dulden kann.

Nun hat also England das Bündnis mit Japan klug benutzt, um die
Russen nachgiebig zu machen. Nachdem ihm das gelungen ist, muß ihm alles


Der englisch-russische Vertrag über Asien

haben erkennen müssen, daß die Hoffnung auf baldige Herstellung des ge¬
schlagner Reichs zu alter Angriffskraft eitel ist. .

Noch eins muß man in den Vordergrund stellen: den Zweck des Vertrags.
Er liegt für den oberflächlichen Beobachter eben nicht auf der Hand. England
weiß zu gut, daß auf Verträge mit Rußland kein unbedingter Verlaß ist. Es
hat noch in deutlicher Erinnerung, wie sich der Zar 1870 von der im Pariser
Vertrage von 1856 übernommnen Verpflichtung, im Schwarzen Meer keine
Kriegsflotte zu halten, einfach lossagte: das geschah im tiefsten Frieden.
Frankreich, das an der Zerstörung Sebastopols das Beste getan hatte, war
ohnmächtig. England allein fühlte sich mit Recht außerstande, mit Rußland
einen Krieg zu führen, und nahm den russischen Affront hin, ohne auch nur
den Versuch zu machen, dem Schicksal in die Ruder zu fallen. So wird sich
England auch in der gegenwärtigen Angelegenheit schwerlich verhehlt haben,
daß dieser neue Vertrag Rußland nicht ewig bindet. In seiner gegen¬
wärtigen Schwäche ist an die Fortsetzung der asiatischen Vergrößerungspolitik
überhaupt nicht zu denken. Wenn es aber einst zu großer Aggressivkraft zurück¬
kehren sollte, so ist es ihm jeden Augenblick möglich, auch die jetzt an¬
scheinend geordneten persischen und afghanischen Angelegenheiten wieder ins
Rollen zu bringen.

Worin besteht also der Zweck? Er liegt in einer andern Richtung. England
hat aus Gründen seiner Gesamtpolitik das Bündnis mit Japan angenommen.
Mit japanischen Waffen hat es Rußland von der Mandschurei, vom chinesischen
Reiche abgewehrt. Es ist dadurch eine Großmacht entstanden, die im Stillen
Ozean das Übergewicht zu erlangen droht. Die Amerikaner setzen sich dagegen
schon auf die Hinterfüße, wie die anfänglich abgeleugnete, dann doch statt¬
findende Übersiedlung ihrer Flotte in den Stillen Ozean beweist. Bei den
britischen Untertanen an den Küsten dieses großen Gewässers sind nicht nur die
Japaner als Nation, sondern auch Japan als Macht im höchsten Grade un¬
beliebt. Die Australier verlangen nachdrücklich die Stationierung eines ansehn¬
lichen Teils der englischen Flotte in ihren Gewässern und wollen auch dafür
bezahlen. Sie fürchten, eines Tages könnten japanische Kriegsschiffe in Sydney
und Melbourne erscheinen, ehe von London her Hilfe gesandt werden könnte.
England selber hat vor zwei Jahren, als es den Vertrag mit Japan abschloß,
dessen Hilfe für die Sicherung der um Indien herumliegenden Pufferstaaten in
Aussicht genommen.

Aber wie wenig es ihm behagte, japanische Regimenter in Indien er¬
scheinen zu sehn, wie sehr es fürchtete, die Japaner könnten auch einmal als
Feinde kommen, ersieht man daraus, daß es schleunigst Singapore befestigte,
das eine nach Westen segelnde japanische Flotte kaum umgehn und gar nicht
in seinem Rücken dulden kann.

Nun hat also England das Bündnis mit Japan klug benutzt, um die
Russen nachgiebig zu machen. Nachdem ihm das gelungen ist, muß ihm alles


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[0128] Der englisch-russische Vertrag über Asien haben erkennen müssen, daß die Hoffnung auf baldige Herstellung des ge¬ schlagner Reichs zu alter Angriffskraft eitel ist. . Noch eins muß man in den Vordergrund stellen: den Zweck des Vertrags. Er liegt für den oberflächlichen Beobachter eben nicht auf der Hand. England weiß zu gut, daß auf Verträge mit Rußland kein unbedingter Verlaß ist. Es hat noch in deutlicher Erinnerung, wie sich der Zar 1870 von der im Pariser Vertrage von 1856 übernommnen Verpflichtung, im Schwarzen Meer keine Kriegsflotte zu halten, einfach lossagte: das geschah im tiefsten Frieden. Frankreich, das an der Zerstörung Sebastopols das Beste getan hatte, war ohnmächtig. England allein fühlte sich mit Recht außerstande, mit Rußland einen Krieg zu führen, und nahm den russischen Affront hin, ohne auch nur den Versuch zu machen, dem Schicksal in die Ruder zu fallen. So wird sich England auch in der gegenwärtigen Angelegenheit schwerlich verhehlt haben, daß dieser neue Vertrag Rußland nicht ewig bindet. In seiner gegen¬ wärtigen Schwäche ist an die Fortsetzung der asiatischen Vergrößerungspolitik überhaupt nicht zu denken. Wenn es aber einst zu großer Aggressivkraft zurück¬ kehren sollte, so ist es ihm jeden Augenblick möglich, auch die jetzt an¬ scheinend geordneten persischen und afghanischen Angelegenheiten wieder ins Rollen zu bringen. Worin besteht also der Zweck? Er liegt in einer andern Richtung. England hat aus Gründen seiner Gesamtpolitik das Bündnis mit Japan angenommen. Mit japanischen Waffen hat es Rußland von der Mandschurei, vom chinesischen Reiche abgewehrt. Es ist dadurch eine Großmacht entstanden, die im Stillen Ozean das Übergewicht zu erlangen droht. Die Amerikaner setzen sich dagegen schon auf die Hinterfüße, wie die anfänglich abgeleugnete, dann doch statt¬ findende Übersiedlung ihrer Flotte in den Stillen Ozean beweist. Bei den britischen Untertanen an den Küsten dieses großen Gewässers sind nicht nur die Japaner als Nation, sondern auch Japan als Macht im höchsten Grade un¬ beliebt. Die Australier verlangen nachdrücklich die Stationierung eines ansehn¬ lichen Teils der englischen Flotte in ihren Gewässern und wollen auch dafür bezahlen. Sie fürchten, eines Tages könnten japanische Kriegsschiffe in Sydney und Melbourne erscheinen, ehe von London her Hilfe gesandt werden könnte. England selber hat vor zwei Jahren, als es den Vertrag mit Japan abschloß, dessen Hilfe für die Sicherung der um Indien herumliegenden Pufferstaaten in Aussicht genommen. Aber wie wenig es ihm behagte, japanische Regimenter in Indien er¬ scheinen zu sehn, wie sehr es fürchtete, die Japaner könnten auch einmal als Feinde kommen, ersieht man daraus, daß es schleunigst Singapore befestigte, das eine nach Westen segelnde japanische Flotte kaum umgehn und gar nicht in seinem Rücken dulden kann. Nun hat also England das Bündnis mit Japan klug benutzt, um die Russen nachgiebig zu machen. Nachdem ihm das gelungen ist, muß ihm alles

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/128>, abgerufen am 09.06.2024.