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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr.

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sozialpsychologische Lindrücke aus deutschen Großstädten

in Berlin; man versteht es in Leipzig, Kuchen zu backen und zu essen. Wo¬
möglich gleich an Ort und Stelle. Darum sind die meisten Bäckereien halbe
Konditoreien: in dem genannten Vorraum steht eine Bank, auf der man sich
niederlassen und das Gekaufte verzehren kann. Davon wird denn auch reichlich
Gebrauch gemacht; ich erinnere mich, wie neben mir ein Droschkenkutscher einen
Pfannkuchen kaufte und ihn, sich auf die Bank setzend, verspeiste. Und das ist
nun eine sowohl für den Nord- wie für den Süddeutschen ganz ungewöhnliche
Erscheinung: die Vorliebe für Kuchen auch bei den Männern. Etwas ähnliches
fand ich bisher nur im Orient, wo ich mich über einen Offizier, der mitten in
einem Konditorladen stehend gierig ein Stück Torte verschlang, nicht weniger
verwunderte als jetzt über den Leipziger Rosselenker, und ich dachte daran, ob
nicht die Leipziger Messe hier die Vermittlerin gespielt hat. Wie gern der
Leipziger -- und die Leipzigerin -- nascht, geht schon daraus hervor, daß es
hier einen besondern Naschmarkt gibt, auf dem man freilich jetzt nichts mehr zu
naschen findet. Auf diesem Platze steht aber ein Denkmal des jungen Goethe,
und unwillkürlich fällt mir bei der Gedankenverbindung zwischen Naschen und
Goethe die Stelle in Wahrheit und Dichtung ein, wo Goethe erzählt, wie er
um der guten Pfannkuchen willen, die am Thomaskirchhof gebacken wurden,
die juristischen Vorlesungen versäumte. So führt einen sogar der Anblick eines
pfannkuchenesfenden Droschkenkutschers auf Goethe zurück. Doch weiter! Wir
gehen durch eine Straße; da steht an einer Ecke auf einem Schild: Gesperre
für den Straßenhandel. Genau dieselbe Aufschrift glaube ich in München gelesen
zu haben, während in Berlin das laute Hausierer auf den Straßen überhaupt
nicht gestattet ist. Aber ebenso wie in München ist das Hausierer in Lokalen
freigegeben, wovon denn natürlich wieder der ausgiebigste Gebrauch gemacht
wird; aber auch hier überwiegen die Händler mit Süßigkeiten, besonders die
Italiener mit den langen Zuckerdüten, die bei den Leipziger Süßmäulern die
besten Geschäfte machen, bessere jedenfalls als in München; denn dem Münchner
würde es nie einfallen, sich zu seinem Bier noch etwas Süßes zu wünschen.
Darum findet man in München auch nur Biergärten, in Leipzig statt dessen
Kuchen- und Kaffeegarten. Gibt es doch sogar eine Kuchengartenstraße!

Süddeutsch ist auch die Art in der Anordnung der Hausnummern -- die
geraden Zahlen rechts, die ungeraden links --; auf diese Weise weiß man immer,
auf welcher Seite man ein Haus zu suchen hat. Auch die Haustüren sind nach
guter Bürgerweise meist unverschlossen, weder von einem "stillen" noch von
einem lebendigen "Portier" bewacht, wie er in Berlin die Eintretenden nach
Schutzmannsweise, oft auch im Schutzmannstone, kontrolliert: Zu wem wünschen
Sie? -- Zu so und so. -- Drrei Trreppen! -- Dann erst springt die Tür
auf. Diesen Cerberus kennt man in Leipzig nicht; hier gibt es nur einen Haus¬
mann, wie in Süddeutschland den Hausmeister, und der sitzt nicht im Keller¬
fenster an der Tür, sondern hat gewöhnlich hoch oben im Hause seine Wohnung
und kümmert sich nur um die innern Angelegenheiten des Hauses; er erscheint


sozialpsychologische Lindrücke aus deutschen Großstädten

in Berlin; man versteht es in Leipzig, Kuchen zu backen und zu essen. Wo¬
möglich gleich an Ort und Stelle. Darum sind die meisten Bäckereien halbe
Konditoreien: in dem genannten Vorraum steht eine Bank, auf der man sich
niederlassen und das Gekaufte verzehren kann. Davon wird denn auch reichlich
Gebrauch gemacht; ich erinnere mich, wie neben mir ein Droschkenkutscher einen
Pfannkuchen kaufte und ihn, sich auf die Bank setzend, verspeiste. Und das ist
nun eine sowohl für den Nord- wie für den Süddeutschen ganz ungewöhnliche
Erscheinung: die Vorliebe für Kuchen auch bei den Männern. Etwas ähnliches
fand ich bisher nur im Orient, wo ich mich über einen Offizier, der mitten in
einem Konditorladen stehend gierig ein Stück Torte verschlang, nicht weniger
verwunderte als jetzt über den Leipziger Rosselenker, und ich dachte daran, ob
nicht die Leipziger Messe hier die Vermittlerin gespielt hat. Wie gern der
Leipziger — und die Leipzigerin — nascht, geht schon daraus hervor, daß es
hier einen besondern Naschmarkt gibt, auf dem man freilich jetzt nichts mehr zu
naschen findet. Auf diesem Platze steht aber ein Denkmal des jungen Goethe,
und unwillkürlich fällt mir bei der Gedankenverbindung zwischen Naschen und
Goethe die Stelle in Wahrheit und Dichtung ein, wo Goethe erzählt, wie er
um der guten Pfannkuchen willen, die am Thomaskirchhof gebacken wurden,
die juristischen Vorlesungen versäumte. So führt einen sogar der Anblick eines
pfannkuchenesfenden Droschkenkutschers auf Goethe zurück. Doch weiter! Wir
gehen durch eine Straße; da steht an einer Ecke auf einem Schild: Gesperre
für den Straßenhandel. Genau dieselbe Aufschrift glaube ich in München gelesen
zu haben, während in Berlin das laute Hausierer auf den Straßen überhaupt
nicht gestattet ist. Aber ebenso wie in München ist das Hausierer in Lokalen
freigegeben, wovon denn natürlich wieder der ausgiebigste Gebrauch gemacht
wird; aber auch hier überwiegen die Händler mit Süßigkeiten, besonders die
Italiener mit den langen Zuckerdüten, die bei den Leipziger Süßmäulern die
besten Geschäfte machen, bessere jedenfalls als in München; denn dem Münchner
würde es nie einfallen, sich zu seinem Bier noch etwas Süßes zu wünschen.
Darum findet man in München auch nur Biergärten, in Leipzig statt dessen
Kuchen- und Kaffeegarten. Gibt es doch sogar eine Kuchengartenstraße!

Süddeutsch ist auch die Art in der Anordnung der Hausnummern — die
geraden Zahlen rechts, die ungeraden links —; auf diese Weise weiß man immer,
auf welcher Seite man ein Haus zu suchen hat. Auch die Haustüren sind nach
guter Bürgerweise meist unverschlossen, weder von einem „stillen" noch von
einem lebendigen „Portier" bewacht, wie er in Berlin die Eintretenden nach
Schutzmannsweise, oft auch im Schutzmannstone, kontrolliert: Zu wem wünschen
Sie? — Zu so und so. — Drrei Trreppen! — Dann erst springt die Tür
auf. Diesen Cerberus kennt man in Leipzig nicht; hier gibt es nur einen Haus¬
mann, wie in Süddeutschland den Hausmeister, und der sitzt nicht im Keller¬
fenster an der Tür, sondern hat gewöhnlich hoch oben im Hause seine Wohnung
und kümmert sich nur um die innern Angelegenheiten des Hauses; er erscheint


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[0134] sozialpsychologische Lindrücke aus deutschen Großstädten in Berlin; man versteht es in Leipzig, Kuchen zu backen und zu essen. Wo¬ möglich gleich an Ort und Stelle. Darum sind die meisten Bäckereien halbe Konditoreien: in dem genannten Vorraum steht eine Bank, auf der man sich niederlassen und das Gekaufte verzehren kann. Davon wird denn auch reichlich Gebrauch gemacht; ich erinnere mich, wie neben mir ein Droschkenkutscher einen Pfannkuchen kaufte und ihn, sich auf die Bank setzend, verspeiste. Und das ist nun eine sowohl für den Nord- wie für den Süddeutschen ganz ungewöhnliche Erscheinung: die Vorliebe für Kuchen auch bei den Männern. Etwas ähnliches fand ich bisher nur im Orient, wo ich mich über einen Offizier, der mitten in einem Konditorladen stehend gierig ein Stück Torte verschlang, nicht weniger verwunderte als jetzt über den Leipziger Rosselenker, und ich dachte daran, ob nicht die Leipziger Messe hier die Vermittlerin gespielt hat. Wie gern der Leipziger — und die Leipzigerin — nascht, geht schon daraus hervor, daß es hier einen besondern Naschmarkt gibt, auf dem man freilich jetzt nichts mehr zu naschen findet. Auf diesem Platze steht aber ein Denkmal des jungen Goethe, und unwillkürlich fällt mir bei der Gedankenverbindung zwischen Naschen und Goethe die Stelle in Wahrheit und Dichtung ein, wo Goethe erzählt, wie er um der guten Pfannkuchen willen, die am Thomaskirchhof gebacken wurden, die juristischen Vorlesungen versäumte. So führt einen sogar der Anblick eines pfannkuchenesfenden Droschkenkutschers auf Goethe zurück. Doch weiter! Wir gehen durch eine Straße; da steht an einer Ecke auf einem Schild: Gesperre für den Straßenhandel. Genau dieselbe Aufschrift glaube ich in München gelesen zu haben, während in Berlin das laute Hausierer auf den Straßen überhaupt nicht gestattet ist. Aber ebenso wie in München ist das Hausierer in Lokalen freigegeben, wovon denn natürlich wieder der ausgiebigste Gebrauch gemacht wird; aber auch hier überwiegen die Händler mit Süßigkeiten, besonders die Italiener mit den langen Zuckerdüten, die bei den Leipziger Süßmäulern die besten Geschäfte machen, bessere jedenfalls als in München; denn dem Münchner würde es nie einfallen, sich zu seinem Bier noch etwas Süßes zu wünschen. Darum findet man in München auch nur Biergärten, in Leipzig statt dessen Kuchen- und Kaffeegarten. Gibt es doch sogar eine Kuchengartenstraße! Süddeutsch ist auch die Art in der Anordnung der Hausnummern — die geraden Zahlen rechts, die ungeraden links —; auf diese Weise weiß man immer, auf welcher Seite man ein Haus zu suchen hat. Auch die Haustüren sind nach guter Bürgerweise meist unverschlossen, weder von einem „stillen" noch von einem lebendigen „Portier" bewacht, wie er in Berlin die Eintretenden nach Schutzmannsweise, oft auch im Schutzmannstone, kontrolliert: Zu wem wünschen Sie? — Zu so und so. — Drrei Trreppen! — Dann erst springt die Tür auf. Diesen Cerberus kennt man in Leipzig nicht; hier gibt es nur einen Haus¬ mann, wie in Süddeutschland den Hausmeister, und der sitzt nicht im Keller¬ fenster an der Tür, sondern hat gewöhnlich hoch oben im Hause seine Wohnung und kümmert sich nur um die innern Angelegenheiten des Hauses; er erscheint

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/134>, abgerufen am 17.06.2024.