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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr.

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Luftreisen

zweistündiger Schlacht besiegte am 13. Februar 1706 hier Karl der Zwölfte
von Schweden die Sachsen unter dem Grafen von der Schulenburg, der
6000 Tote und Verwundete, 8000 Gefangne und 29 Geschütze verlor.

In einer Höhe von 2100 Metern genießen wir jetzt einen freien Um-
blick und verfolgen die von Sagan her an Fraustadt vorüberführende Bahn
bis nach Lissa. Früh ^8 Uhr haben wir dieses selbst erreicht. Es ist
ungefähr doppelt so groß wie Fraustadt, auch die Zahl seiner Kasernen ist
größer, und in den geräumigen Bahnhofsanlagen laufen drei Linien zusammen.
Daß Lissa früher befestigt war, zeigen die glacisartigen Promenaden. Anfang
des siebzehnten Jahrhunderts wurde es die Hauptzufluchtsstätte der von
Kaiser Ferdinand dem Ersten Vertriebnen Böhmischen Brüder, und ihre so be¬
rühmte dortige Schule wurde eine Zeit lang von Comenius geleitet.

Das Thermometer ist auf 3 Grad Celsius gesunken. Westlich und östlich
von uns türmen sich Gewitterwolken auf, am dichtesten in unsrer Fahrt¬
richtung nach Osten. Aus einem hohen Rücken von Wolkenbergen ragt eine
weiße Säule hervor, die ein pilzartiges Dach trägt, das Ganze macht den
Eindruck einer riesigen Unterkunftshütte. Durch die noch lockern Haufenwolken
unter uns erblicken wir viele Rittergüter inmitten weiter Felder, die nur hier
und da von kurzen Waldstrecken unterbrochen sind. Im Norden bei Storch¬
nest erglänzt ein ganzes Bündel kleiner Seen. Sonst bietet sich dem Auge
wenig Anziehendes: links der wasserarme Obrcckanal, unter uns zunächst
Gostyn mit seinem auf einem Hügel vor der Stadt gelegnen, längst ausge¬
höhlten Philippinerkloster, ehemals einem besuchten Wallfahrtsorte, dann der
Schienenweg zwischen dem Bahnen- und Straßenknotenpunkt Jarotschin nördlich
von uns und Koschmin an der Orla im Süden, darauf Dobberschütz und Pleschen,
durch eine Kleinbahn miteinander verbunden, und 9 Uhr 20 Minuten die
Prosna, also zum zweitenmal auf meinen Fahrten die russische Grenze.

Der Unterschied zwischen deutscher und russischer Kultur fiel uns hier
nicht so schroff in die Angen wie im vorigen Jahre weiter südlich bei Pitschen,
namentlich sind die Verkehrswege hier in bessern: Zustande. Als gehöre es.
zu einer Fahrt nach Nußland, forderten uns auch diesmal mächtige Wolken
zum Kampfe mit sich heraus, bei unserm Mangel an Ballast mußten wir aber-
von vornherein darauf verzichten. Seit unsrer Fesselung im Kottbuser Stadt¬
forste vor beinahe fünf Stunden hatten wir kein Körnchen Sand wieder aus¬
gegeben, unsre Fahrt war also schon viel länger geworden, als wir es bei
Tagesanbruch erwarten konnten. So durften wir uns nicht beklagen, wenn
sie nun zu Ende ging. In der ersten, mehrere Kilometer starken Wolke ver¬
mochten wir uns durch einige Ballastopfer noch leidlich zu halten, doch kaum
war sie durchflogen, da nahm uns auch schon eine zweite, noch viel umfang¬
reichere in ihren kühlen und feuchten Schoß auf. Wir sanken unaufhaltsam.
Halb elf Uhr landeten wir sehr glatt auf einem Felde bei Maljanow, 25 Werst
nordöstlich von der Gouvcrnementsstadt Kalisch.


Luftreisen

zweistündiger Schlacht besiegte am 13. Februar 1706 hier Karl der Zwölfte
von Schweden die Sachsen unter dem Grafen von der Schulenburg, der
6000 Tote und Verwundete, 8000 Gefangne und 29 Geschütze verlor.

In einer Höhe von 2100 Metern genießen wir jetzt einen freien Um-
blick und verfolgen die von Sagan her an Fraustadt vorüberführende Bahn
bis nach Lissa. Früh ^8 Uhr haben wir dieses selbst erreicht. Es ist
ungefähr doppelt so groß wie Fraustadt, auch die Zahl seiner Kasernen ist
größer, und in den geräumigen Bahnhofsanlagen laufen drei Linien zusammen.
Daß Lissa früher befestigt war, zeigen die glacisartigen Promenaden. Anfang
des siebzehnten Jahrhunderts wurde es die Hauptzufluchtsstätte der von
Kaiser Ferdinand dem Ersten Vertriebnen Böhmischen Brüder, und ihre so be¬
rühmte dortige Schule wurde eine Zeit lang von Comenius geleitet.

Das Thermometer ist auf 3 Grad Celsius gesunken. Westlich und östlich
von uns türmen sich Gewitterwolken auf, am dichtesten in unsrer Fahrt¬
richtung nach Osten. Aus einem hohen Rücken von Wolkenbergen ragt eine
weiße Säule hervor, die ein pilzartiges Dach trägt, das Ganze macht den
Eindruck einer riesigen Unterkunftshütte. Durch die noch lockern Haufenwolken
unter uns erblicken wir viele Rittergüter inmitten weiter Felder, die nur hier
und da von kurzen Waldstrecken unterbrochen sind. Im Norden bei Storch¬
nest erglänzt ein ganzes Bündel kleiner Seen. Sonst bietet sich dem Auge
wenig Anziehendes: links der wasserarme Obrcckanal, unter uns zunächst
Gostyn mit seinem auf einem Hügel vor der Stadt gelegnen, längst ausge¬
höhlten Philippinerkloster, ehemals einem besuchten Wallfahrtsorte, dann der
Schienenweg zwischen dem Bahnen- und Straßenknotenpunkt Jarotschin nördlich
von uns und Koschmin an der Orla im Süden, darauf Dobberschütz und Pleschen,
durch eine Kleinbahn miteinander verbunden, und 9 Uhr 20 Minuten die
Prosna, also zum zweitenmal auf meinen Fahrten die russische Grenze.

Der Unterschied zwischen deutscher und russischer Kultur fiel uns hier
nicht so schroff in die Angen wie im vorigen Jahre weiter südlich bei Pitschen,
namentlich sind die Verkehrswege hier in bessern: Zustande. Als gehöre es.
zu einer Fahrt nach Nußland, forderten uns auch diesmal mächtige Wolken
zum Kampfe mit sich heraus, bei unserm Mangel an Ballast mußten wir aber-
von vornherein darauf verzichten. Seit unsrer Fesselung im Kottbuser Stadt¬
forste vor beinahe fünf Stunden hatten wir kein Körnchen Sand wieder aus¬
gegeben, unsre Fahrt war also schon viel länger geworden, als wir es bei
Tagesanbruch erwarten konnten. So durften wir uns nicht beklagen, wenn
sie nun zu Ende ging. In der ersten, mehrere Kilometer starken Wolke ver¬
mochten wir uns durch einige Ballastopfer noch leidlich zu halten, doch kaum
war sie durchflogen, da nahm uns auch schon eine zweite, noch viel umfang¬
reichere in ihren kühlen und feuchten Schoß auf. Wir sanken unaufhaltsam.
Halb elf Uhr landeten wir sehr glatt auf einem Felde bei Maljanow, 25 Werst
nordöstlich von der Gouvcrnementsstadt Kalisch.


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[0201] Luftreisen zweistündiger Schlacht besiegte am 13. Februar 1706 hier Karl der Zwölfte von Schweden die Sachsen unter dem Grafen von der Schulenburg, der 6000 Tote und Verwundete, 8000 Gefangne und 29 Geschütze verlor. In einer Höhe von 2100 Metern genießen wir jetzt einen freien Um- blick und verfolgen die von Sagan her an Fraustadt vorüberführende Bahn bis nach Lissa. Früh ^8 Uhr haben wir dieses selbst erreicht. Es ist ungefähr doppelt so groß wie Fraustadt, auch die Zahl seiner Kasernen ist größer, und in den geräumigen Bahnhofsanlagen laufen drei Linien zusammen. Daß Lissa früher befestigt war, zeigen die glacisartigen Promenaden. Anfang des siebzehnten Jahrhunderts wurde es die Hauptzufluchtsstätte der von Kaiser Ferdinand dem Ersten Vertriebnen Böhmischen Brüder, und ihre so be¬ rühmte dortige Schule wurde eine Zeit lang von Comenius geleitet. Das Thermometer ist auf 3 Grad Celsius gesunken. Westlich und östlich von uns türmen sich Gewitterwolken auf, am dichtesten in unsrer Fahrt¬ richtung nach Osten. Aus einem hohen Rücken von Wolkenbergen ragt eine weiße Säule hervor, die ein pilzartiges Dach trägt, das Ganze macht den Eindruck einer riesigen Unterkunftshütte. Durch die noch lockern Haufenwolken unter uns erblicken wir viele Rittergüter inmitten weiter Felder, die nur hier und da von kurzen Waldstrecken unterbrochen sind. Im Norden bei Storch¬ nest erglänzt ein ganzes Bündel kleiner Seen. Sonst bietet sich dem Auge wenig Anziehendes: links der wasserarme Obrcckanal, unter uns zunächst Gostyn mit seinem auf einem Hügel vor der Stadt gelegnen, längst ausge¬ höhlten Philippinerkloster, ehemals einem besuchten Wallfahrtsorte, dann der Schienenweg zwischen dem Bahnen- und Straßenknotenpunkt Jarotschin nördlich von uns und Koschmin an der Orla im Süden, darauf Dobberschütz und Pleschen, durch eine Kleinbahn miteinander verbunden, und 9 Uhr 20 Minuten die Prosna, also zum zweitenmal auf meinen Fahrten die russische Grenze. Der Unterschied zwischen deutscher und russischer Kultur fiel uns hier nicht so schroff in die Angen wie im vorigen Jahre weiter südlich bei Pitschen, namentlich sind die Verkehrswege hier in bessern: Zustande. Als gehöre es. zu einer Fahrt nach Nußland, forderten uns auch diesmal mächtige Wolken zum Kampfe mit sich heraus, bei unserm Mangel an Ballast mußten wir aber- von vornherein darauf verzichten. Seit unsrer Fesselung im Kottbuser Stadt¬ forste vor beinahe fünf Stunden hatten wir kein Körnchen Sand wieder aus¬ gegeben, unsre Fahrt war also schon viel länger geworden, als wir es bei Tagesanbruch erwarten konnten. So durften wir uns nicht beklagen, wenn sie nun zu Ende ging. In der ersten, mehrere Kilometer starken Wolke ver¬ mochten wir uns durch einige Ballastopfer noch leidlich zu halten, doch kaum war sie durchflogen, da nahm uns auch schon eine zweite, noch viel umfang¬ reichere in ihren kühlen und feuchten Schoß auf. Wir sanken unaufhaltsam. Halb elf Uhr landeten wir sehr glatt auf einem Felde bei Maljanow, 25 Werst nordöstlich von der Gouvcrnementsstadt Kalisch.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/201>, abgerufen am 17.06.2024.