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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr.

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Tiiftreisen

Fahrt von knapp tausend Metern herab. Es ist drückend heiß, 32 Grad Celsius,
der Himmel ist klar bis auf einige leichte Cirren, die einen Strauß fein
geränderter und geaderter Blätter bilden.

Noch über Jvenak und seinen kleinen See hinweg, dann sind wir in
Pommern. Das erste, was hier unsre Aufmerksamkeit erregt, ist im Westen
der stattliche Kummerower See. Ihn und vorher den Mcilchiner See durch¬
fließt die Peene, deren östlichem Quellfluß wir schon in Mecklenburg unweit
des Großen Varchentiner Sees begegnet sind. Bei der ansehnlichen, ehemals
befestigten Stadt Demmin scheinen sich zwei Flüsse zu kreuzen, es ist der Zu¬
sammenfluß der Peene mit Trebel und Tollensc, der diese Täuschung hervor¬
ruft. Die Peene selbst macht mit ihren gewaltigen Windungen, ihrem Wasser¬
reichtum und der Menge großer Schiffe, die sie trägt, den Eindruck eines
bedeutenden Tieflandstromes.

In der Ferne leuchtet es silbern auf, diesmal aber ist es kein Binnensee,
sondern ein Stückchen Ostsee, der Greifswalder Bodden. Jetzt heißt es, sich
über die Lage klar werden, in einer halben Stunde haben wir die See er¬
reicht! Eine Landung auf Rügen ist ausgeschlossen, der noch immer aus Süd¬
westen wehende Wind würde uns gerade östlich an der Insel vorbeitreiben.
Dann könnten wir bei genauer Einhaltung der gegenwärtigen Richtung an
eine Beendigung der Fahrt auf Bornholm denken. Die Wetterlage ist sehr
günstig, wir sind an der Vorderseite eines von Schottland her nach Ostsüdosten
vorrückenden Tiefs angelangt, haben also auf der See eine allmähliche Links¬
drehung des Windes zu erwarten und dürfen, selbst wenn wir auch an Vorn¬
holm noch östlich vorbeitreiben sollten, darauf rechnen, bei Karlskrona oder
nördlich davon die schwedische Küste zu gewinnen.

Für die Länge der Fahrt über die Ostsee nach Schweden ergibt die
Messung auf der Karte 280 bis 300 Kilometer, und da die wieder bestündig
zunehmende Windschnelligkeit jetzt schon 50 Stundenkilometer beträgt, so würden
wir höchstens sechs Stunden dazu brauchen. Es ist Vormittag elf Uhr, in
den ganzen vorausgegangnen zehn Stunden haben wir nur ein Siebentel unsers
Ballastes, nämlich zwei Sack verbraucht, zwölf sind noch übrig. Bei der vor¬
trefflichen Haltung des Ballons und der immer erfolgreichem Bekämpfung
von Dunst und Wolkenbildung durch die Sonne haben wir große vertikale
Schwankungen nicht zu befürchten. Fliegen wir also in Gottes Namen hinüber,
es wird eine herrliche Fahrt werden. Der jüngere Reisegefährte stimmt be¬
geistert zu, seinen Schwager aber zieht ein so starker Magnet in die Heimat zurück,
daß er jede Verhandlung über eine Fortsetzung der Fahrt ablehnt. Ja, hätten
wir statt unsrer 12 Sack noch 38, die wir doch von Rechts wegen haben sollten,
so müßte bei der alsdann ganz unzweifelhaften Gefahrlosigkeit der dritte Mann
es sich gefallen lassen, überstimmt zu werden. ,

Der Führer denkt nicht daran, dem Glücklichen seinen Entschluß zu ver¬
argen, so schwer es ihn auch ankommt, mit Sechssiebentel des angenommnen


Tiiftreisen

Fahrt von knapp tausend Metern herab. Es ist drückend heiß, 32 Grad Celsius,
der Himmel ist klar bis auf einige leichte Cirren, die einen Strauß fein
geränderter und geaderter Blätter bilden.

Noch über Jvenak und seinen kleinen See hinweg, dann sind wir in
Pommern. Das erste, was hier unsre Aufmerksamkeit erregt, ist im Westen
der stattliche Kummerower See. Ihn und vorher den Mcilchiner See durch¬
fließt die Peene, deren östlichem Quellfluß wir schon in Mecklenburg unweit
des Großen Varchentiner Sees begegnet sind. Bei der ansehnlichen, ehemals
befestigten Stadt Demmin scheinen sich zwei Flüsse zu kreuzen, es ist der Zu¬
sammenfluß der Peene mit Trebel und Tollensc, der diese Täuschung hervor¬
ruft. Die Peene selbst macht mit ihren gewaltigen Windungen, ihrem Wasser¬
reichtum und der Menge großer Schiffe, die sie trägt, den Eindruck eines
bedeutenden Tieflandstromes.

In der Ferne leuchtet es silbern auf, diesmal aber ist es kein Binnensee,
sondern ein Stückchen Ostsee, der Greifswalder Bodden. Jetzt heißt es, sich
über die Lage klar werden, in einer halben Stunde haben wir die See er¬
reicht! Eine Landung auf Rügen ist ausgeschlossen, der noch immer aus Süd¬
westen wehende Wind würde uns gerade östlich an der Insel vorbeitreiben.
Dann könnten wir bei genauer Einhaltung der gegenwärtigen Richtung an
eine Beendigung der Fahrt auf Bornholm denken. Die Wetterlage ist sehr
günstig, wir sind an der Vorderseite eines von Schottland her nach Ostsüdosten
vorrückenden Tiefs angelangt, haben also auf der See eine allmähliche Links¬
drehung des Windes zu erwarten und dürfen, selbst wenn wir auch an Vorn¬
holm noch östlich vorbeitreiben sollten, darauf rechnen, bei Karlskrona oder
nördlich davon die schwedische Küste zu gewinnen.

Für die Länge der Fahrt über die Ostsee nach Schweden ergibt die
Messung auf der Karte 280 bis 300 Kilometer, und da die wieder bestündig
zunehmende Windschnelligkeit jetzt schon 50 Stundenkilometer beträgt, so würden
wir höchstens sechs Stunden dazu brauchen. Es ist Vormittag elf Uhr, in
den ganzen vorausgegangnen zehn Stunden haben wir nur ein Siebentel unsers
Ballastes, nämlich zwei Sack verbraucht, zwölf sind noch übrig. Bei der vor¬
trefflichen Haltung des Ballons und der immer erfolgreichem Bekämpfung
von Dunst und Wolkenbildung durch die Sonne haben wir große vertikale
Schwankungen nicht zu befürchten. Fliegen wir also in Gottes Namen hinüber,
es wird eine herrliche Fahrt werden. Der jüngere Reisegefährte stimmt be¬
geistert zu, seinen Schwager aber zieht ein so starker Magnet in die Heimat zurück,
daß er jede Verhandlung über eine Fortsetzung der Fahrt ablehnt. Ja, hätten
wir statt unsrer 12 Sack noch 38, die wir doch von Rechts wegen haben sollten,
so müßte bei der alsdann ganz unzweifelhaften Gefahrlosigkeit der dritte Mann
es sich gefallen lassen, überstimmt zu werden. ,

Der Führer denkt nicht daran, dem Glücklichen seinen Entschluß zu ver¬
argen, so schwer es ihn auch ankommt, mit Sechssiebentel des angenommnen


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[0207] Tiiftreisen Fahrt von knapp tausend Metern herab. Es ist drückend heiß, 32 Grad Celsius, der Himmel ist klar bis auf einige leichte Cirren, die einen Strauß fein geränderter und geaderter Blätter bilden. Noch über Jvenak und seinen kleinen See hinweg, dann sind wir in Pommern. Das erste, was hier unsre Aufmerksamkeit erregt, ist im Westen der stattliche Kummerower See. Ihn und vorher den Mcilchiner See durch¬ fließt die Peene, deren östlichem Quellfluß wir schon in Mecklenburg unweit des Großen Varchentiner Sees begegnet sind. Bei der ansehnlichen, ehemals befestigten Stadt Demmin scheinen sich zwei Flüsse zu kreuzen, es ist der Zu¬ sammenfluß der Peene mit Trebel und Tollensc, der diese Täuschung hervor¬ ruft. Die Peene selbst macht mit ihren gewaltigen Windungen, ihrem Wasser¬ reichtum und der Menge großer Schiffe, die sie trägt, den Eindruck eines bedeutenden Tieflandstromes. In der Ferne leuchtet es silbern auf, diesmal aber ist es kein Binnensee, sondern ein Stückchen Ostsee, der Greifswalder Bodden. Jetzt heißt es, sich über die Lage klar werden, in einer halben Stunde haben wir die See er¬ reicht! Eine Landung auf Rügen ist ausgeschlossen, der noch immer aus Süd¬ westen wehende Wind würde uns gerade östlich an der Insel vorbeitreiben. Dann könnten wir bei genauer Einhaltung der gegenwärtigen Richtung an eine Beendigung der Fahrt auf Bornholm denken. Die Wetterlage ist sehr günstig, wir sind an der Vorderseite eines von Schottland her nach Ostsüdosten vorrückenden Tiefs angelangt, haben also auf der See eine allmähliche Links¬ drehung des Windes zu erwarten und dürfen, selbst wenn wir auch an Vorn¬ holm noch östlich vorbeitreiben sollten, darauf rechnen, bei Karlskrona oder nördlich davon die schwedische Küste zu gewinnen. Für die Länge der Fahrt über die Ostsee nach Schweden ergibt die Messung auf der Karte 280 bis 300 Kilometer, und da die wieder bestündig zunehmende Windschnelligkeit jetzt schon 50 Stundenkilometer beträgt, so würden wir höchstens sechs Stunden dazu brauchen. Es ist Vormittag elf Uhr, in den ganzen vorausgegangnen zehn Stunden haben wir nur ein Siebentel unsers Ballastes, nämlich zwei Sack verbraucht, zwölf sind noch übrig. Bei der vor¬ trefflichen Haltung des Ballons und der immer erfolgreichem Bekämpfung von Dunst und Wolkenbildung durch die Sonne haben wir große vertikale Schwankungen nicht zu befürchten. Fliegen wir also in Gottes Namen hinüber, es wird eine herrliche Fahrt werden. Der jüngere Reisegefährte stimmt be¬ geistert zu, seinen Schwager aber zieht ein so starker Magnet in die Heimat zurück, daß er jede Verhandlung über eine Fortsetzung der Fahrt ablehnt. Ja, hätten wir statt unsrer 12 Sack noch 38, die wir doch von Rechts wegen haben sollten, so müßte bei der alsdann ganz unzweifelhaften Gefahrlosigkeit der dritte Mann es sich gefallen lassen, überstimmt zu werden. , Der Führer denkt nicht daran, dem Glücklichen seinen Entschluß zu ver¬ argen, so schwer es ihn auch ankommt, mit Sechssiebentel des angenommnen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/207>, abgerufen am 10.06.2024.