Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Zur Strafgesetz- und Gefängnisreform

Zunächst die Fürsorgeerziehung für verbrecherische Kiuder, die ihres jugendlichen
Alters wegen nicht strafrechtlich verfolgt werden können, für Kinder, deren geistiges
oder leibliches Wohl dadurch gefährdet ist, daß der Vater das Recht der Sorge
für das Kind mißbraucht, es vernachlässigt oder sich eines ehrlosen oder un¬
sittlichen Verhaltens schuldig macht, ferner für Kinder, bei denen eine unzu¬
längliche Einwirkung der Eltern oder sonstiger Erzieher oder der Schule fest¬
gestellt worden ist.

Die Provinzen haben ihr Möglichstes getan. Anstalten zu errichten oder
auszubauen, in denen die Fürsorgeerziehung der Kinder, die nicht in Familien
untergebracht werden können, planmäßig gefördert wird. Opferwillige Männer
und Frauen haben sich uneigennützig angeboten, gefährdete Kinder zu überwachen;
die obersten Gefängnisbehörden haben Verfügungen erlassen, wonach alle Kinder
in den Strafanstalten streng gesondert von Erwachsnen unterzubringen und
nach besondern Vorschriften zu behandeln sind. Es ist schon vieles erreicht
worden, seitdem der Jugend eine erhöhte Aufmerksamkeit zugewandt wird, aber
es kann noch mehr geschehen.

Einen Fingerzeig erhalten wir von den Vereinigten Staaten Nordamerikas.
Sorgt für eure Kinder auch außerhalb der Schulzeit, gebt der Schule die Macht¬
befugnisse in die Hand, über die Kinder zu wachen und mit Behörden und
Gerichten direkt in Beziehung zu treten, auch wegen Vergehen, die außerhalb
der eigentlichen Schuldisziplin liegen, wendet Mittel auf, daß sich die Kinder
der Großstadt nicht aufsichtslos auf den Straßen umherzutreiben brauchen, gebt
ihnen Spielplätze, stählt ihren Körper durch Spiel und Sport! Sorgt für
Personen, die nicht als obrigkeitliche Sendlinge in die Hütten der Armen dringen,
um die Autorität der Staatsgewalt zu predigen, sondern die mit liebender Hand
zugreifen, sich der Not annehmen, mit Rat und Tat dem Kinde und den Eltern
helfen, wenn es nicht anders geht, durch direkte Anrufung des Gerichts. Schafft
Jugendgerichte, die mit Verbrechern und Verbrechen nichts zu tun haben, die sich
nur mit Kindern befassen und nicht um zu strafen, sondern um zu helfen da
sind! Setzt als Richter Personen ein, "die mit den Kindern umgehen werden,
wie sie wünschten, daß andre in derselben Lage mit ihren Kindern umgehen
möchten!"

Um durchgreifend zu helfen, ist unser Gerichtsverfahren noch zu schwerfällig,
unsre Absicht noch nicht geläutert genug; in den Bestimmungen über die Regelung
der Kosten liegen noch starke Hindernisse. Notwendig sind Maßnahmen, die
es ermöglichen, ein gefährdetes Kind sofort der verderblichen Umgebung zu
entziehen und es in ehrbaren Familien oder in Anstalten unterzubringen; not¬
wendig sind noch mehr als bisher ausgesuchte Personen beiderlei Geschlechts,die sich mit ganzer Anspannung ihrer Fähigkeiten und Arbeitskraft der Fürsorge
widmen und, wenn es not tut, durch öffentliche Mittel dazu in die Lage ver¬
setzt werden. Ein dringendes Bedürfnis ist die vollständige Ausschaltung der
Polizeiorgane und der Gefängnisse.


Zur Strafgesetz- und Gefängnisreform

Zunächst die Fürsorgeerziehung für verbrecherische Kiuder, die ihres jugendlichen
Alters wegen nicht strafrechtlich verfolgt werden können, für Kinder, deren geistiges
oder leibliches Wohl dadurch gefährdet ist, daß der Vater das Recht der Sorge
für das Kind mißbraucht, es vernachlässigt oder sich eines ehrlosen oder un¬
sittlichen Verhaltens schuldig macht, ferner für Kinder, bei denen eine unzu¬
längliche Einwirkung der Eltern oder sonstiger Erzieher oder der Schule fest¬
gestellt worden ist.

Die Provinzen haben ihr Möglichstes getan. Anstalten zu errichten oder
auszubauen, in denen die Fürsorgeerziehung der Kinder, die nicht in Familien
untergebracht werden können, planmäßig gefördert wird. Opferwillige Männer
und Frauen haben sich uneigennützig angeboten, gefährdete Kinder zu überwachen;
die obersten Gefängnisbehörden haben Verfügungen erlassen, wonach alle Kinder
in den Strafanstalten streng gesondert von Erwachsnen unterzubringen und
nach besondern Vorschriften zu behandeln sind. Es ist schon vieles erreicht
worden, seitdem der Jugend eine erhöhte Aufmerksamkeit zugewandt wird, aber
es kann noch mehr geschehen.

Einen Fingerzeig erhalten wir von den Vereinigten Staaten Nordamerikas.
Sorgt für eure Kinder auch außerhalb der Schulzeit, gebt der Schule die Macht¬
befugnisse in die Hand, über die Kinder zu wachen und mit Behörden und
Gerichten direkt in Beziehung zu treten, auch wegen Vergehen, die außerhalb
der eigentlichen Schuldisziplin liegen, wendet Mittel auf, daß sich die Kinder
der Großstadt nicht aufsichtslos auf den Straßen umherzutreiben brauchen, gebt
ihnen Spielplätze, stählt ihren Körper durch Spiel und Sport! Sorgt für
Personen, die nicht als obrigkeitliche Sendlinge in die Hütten der Armen dringen,
um die Autorität der Staatsgewalt zu predigen, sondern die mit liebender Hand
zugreifen, sich der Not annehmen, mit Rat und Tat dem Kinde und den Eltern
helfen, wenn es nicht anders geht, durch direkte Anrufung des Gerichts. Schafft
Jugendgerichte, die mit Verbrechern und Verbrechen nichts zu tun haben, die sich
nur mit Kindern befassen und nicht um zu strafen, sondern um zu helfen da
sind! Setzt als Richter Personen ein, „die mit den Kindern umgehen werden,
wie sie wünschten, daß andre in derselben Lage mit ihren Kindern umgehen
möchten!"

Um durchgreifend zu helfen, ist unser Gerichtsverfahren noch zu schwerfällig,
unsre Absicht noch nicht geläutert genug; in den Bestimmungen über die Regelung
der Kosten liegen noch starke Hindernisse. Notwendig sind Maßnahmen, die
es ermöglichen, ein gefährdetes Kind sofort der verderblichen Umgebung zu
entziehen und es in ehrbaren Familien oder in Anstalten unterzubringen; not¬
wendig sind noch mehr als bisher ausgesuchte Personen beiderlei Geschlechts,die sich mit ganzer Anspannung ihrer Fähigkeiten und Arbeitskraft der Fürsorge
widmen und, wenn es not tut, durch öffentliche Mittel dazu in die Lage ver¬
setzt werden. Ein dringendes Bedürfnis ist die vollständige Ausschaltung der
Polizeiorgane und der Gefängnisse.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0241" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/303657"/>
          <fw type="header" place="top"> Zur Strafgesetz- und Gefängnisreform</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1016" prev="#ID_1015"> Zunächst die Fürsorgeerziehung für verbrecherische Kiuder, die ihres jugendlichen<lb/>
Alters wegen nicht strafrechtlich verfolgt werden können, für Kinder, deren geistiges<lb/>
oder leibliches Wohl dadurch gefährdet ist, daß der Vater das Recht der Sorge<lb/>
für das Kind mißbraucht, es vernachlässigt oder sich eines ehrlosen oder un¬<lb/>
sittlichen Verhaltens schuldig macht, ferner für Kinder, bei denen eine unzu¬<lb/>
längliche Einwirkung der Eltern oder sonstiger Erzieher oder der Schule fest¬<lb/>
gestellt worden ist.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1017"> Die Provinzen haben ihr Möglichstes getan. Anstalten zu errichten oder<lb/>
auszubauen, in denen die Fürsorgeerziehung der Kinder, die nicht in Familien<lb/>
untergebracht werden können, planmäßig gefördert wird. Opferwillige Männer<lb/>
und Frauen haben sich uneigennützig angeboten, gefährdete Kinder zu überwachen;<lb/>
die obersten Gefängnisbehörden haben Verfügungen erlassen, wonach alle Kinder<lb/>
in den Strafanstalten streng gesondert von Erwachsnen unterzubringen und<lb/>
nach besondern Vorschriften zu behandeln sind. Es ist schon vieles erreicht<lb/>
worden, seitdem der Jugend eine erhöhte Aufmerksamkeit zugewandt wird, aber<lb/>
es kann noch mehr geschehen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1018"> Einen Fingerzeig erhalten wir von den Vereinigten Staaten Nordamerikas.<lb/>
Sorgt für eure Kinder auch außerhalb der Schulzeit, gebt der Schule die Macht¬<lb/>
befugnisse in die Hand, über die Kinder zu wachen und mit Behörden und<lb/>
Gerichten direkt in Beziehung zu treten, auch wegen Vergehen, die außerhalb<lb/>
der eigentlichen Schuldisziplin liegen, wendet Mittel auf, daß sich die Kinder<lb/>
der Großstadt nicht aufsichtslos auf den Straßen umherzutreiben brauchen, gebt<lb/>
ihnen Spielplätze, stählt ihren Körper durch Spiel und Sport! Sorgt für<lb/>
Personen, die nicht als obrigkeitliche Sendlinge in die Hütten der Armen dringen,<lb/>
um die Autorität der Staatsgewalt zu predigen, sondern die mit liebender Hand<lb/>
zugreifen, sich der Not annehmen, mit Rat und Tat dem Kinde und den Eltern<lb/>
helfen, wenn es nicht anders geht, durch direkte Anrufung des Gerichts. Schafft<lb/>
Jugendgerichte, die mit Verbrechern und Verbrechen nichts zu tun haben, die sich<lb/>
nur mit Kindern befassen und nicht um zu strafen, sondern um zu helfen da<lb/>
sind! Setzt als Richter Personen ein, &#x201E;die mit den Kindern umgehen werden,<lb/>
wie sie wünschten, daß andre in derselben Lage mit ihren Kindern umgehen<lb/>
möchten!"</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1019"> Um durchgreifend zu helfen, ist unser Gerichtsverfahren noch zu schwerfällig,<lb/>
unsre Absicht noch nicht geläutert genug; in den Bestimmungen über die Regelung<lb/>
der Kosten liegen noch starke Hindernisse. Notwendig sind Maßnahmen, die<lb/>
es ermöglichen, ein gefährdetes Kind sofort der verderblichen Umgebung zu<lb/>
entziehen und es in ehrbaren Familien oder in Anstalten unterzubringen; not¬<lb/>
wendig sind noch mehr als bisher ausgesuchte Personen beiderlei Geschlechts,die sich mit ganzer Anspannung ihrer Fähigkeiten und Arbeitskraft der Fürsorge<lb/>
widmen und, wenn es not tut, durch öffentliche Mittel dazu in die Lage ver¬<lb/>
setzt werden. Ein dringendes Bedürfnis ist die vollständige Ausschaltung der<lb/>
Polizeiorgane und der Gefängnisse.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0241] Zur Strafgesetz- und Gefängnisreform Zunächst die Fürsorgeerziehung für verbrecherische Kiuder, die ihres jugendlichen Alters wegen nicht strafrechtlich verfolgt werden können, für Kinder, deren geistiges oder leibliches Wohl dadurch gefährdet ist, daß der Vater das Recht der Sorge für das Kind mißbraucht, es vernachlässigt oder sich eines ehrlosen oder un¬ sittlichen Verhaltens schuldig macht, ferner für Kinder, bei denen eine unzu¬ längliche Einwirkung der Eltern oder sonstiger Erzieher oder der Schule fest¬ gestellt worden ist. Die Provinzen haben ihr Möglichstes getan. Anstalten zu errichten oder auszubauen, in denen die Fürsorgeerziehung der Kinder, die nicht in Familien untergebracht werden können, planmäßig gefördert wird. Opferwillige Männer und Frauen haben sich uneigennützig angeboten, gefährdete Kinder zu überwachen; die obersten Gefängnisbehörden haben Verfügungen erlassen, wonach alle Kinder in den Strafanstalten streng gesondert von Erwachsnen unterzubringen und nach besondern Vorschriften zu behandeln sind. Es ist schon vieles erreicht worden, seitdem der Jugend eine erhöhte Aufmerksamkeit zugewandt wird, aber es kann noch mehr geschehen. Einen Fingerzeig erhalten wir von den Vereinigten Staaten Nordamerikas. Sorgt für eure Kinder auch außerhalb der Schulzeit, gebt der Schule die Macht¬ befugnisse in die Hand, über die Kinder zu wachen und mit Behörden und Gerichten direkt in Beziehung zu treten, auch wegen Vergehen, die außerhalb der eigentlichen Schuldisziplin liegen, wendet Mittel auf, daß sich die Kinder der Großstadt nicht aufsichtslos auf den Straßen umherzutreiben brauchen, gebt ihnen Spielplätze, stählt ihren Körper durch Spiel und Sport! Sorgt für Personen, die nicht als obrigkeitliche Sendlinge in die Hütten der Armen dringen, um die Autorität der Staatsgewalt zu predigen, sondern die mit liebender Hand zugreifen, sich der Not annehmen, mit Rat und Tat dem Kinde und den Eltern helfen, wenn es nicht anders geht, durch direkte Anrufung des Gerichts. Schafft Jugendgerichte, die mit Verbrechern und Verbrechen nichts zu tun haben, die sich nur mit Kindern befassen und nicht um zu strafen, sondern um zu helfen da sind! Setzt als Richter Personen ein, „die mit den Kindern umgehen werden, wie sie wünschten, daß andre in derselben Lage mit ihren Kindern umgehen möchten!" Um durchgreifend zu helfen, ist unser Gerichtsverfahren noch zu schwerfällig, unsre Absicht noch nicht geläutert genug; in den Bestimmungen über die Regelung der Kosten liegen noch starke Hindernisse. Notwendig sind Maßnahmen, die es ermöglichen, ein gefährdetes Kind sofort der verderblichen Umgebung zu entziehen und es in ehrbaren Familien oder in Anstalten unterzubringen; not¬ wendig sind noch mehr als bisher ausgesuchte Personen beiderlei Geschlechts,die sich mit ganzer Anspannung ihrer Fähigkeiten und Arbeitskraft der Fürsorge widmen und, wenn es not tut, durch öffentliche Mittel dazu in die Lage ver¬ setzt werden. Ein dringendes Bedürfnis ist die vollständige Ausschaltung der Polizeiorgane und der Gefängnisse.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/241
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/241>, abgerufen am 17.06.2024.