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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr.

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IVasmann und seine Berliner Opponenten

er verdanke ihrer Rubrik "Kunst und Wissenschaft" vielseitige Belehrung, und
sie sei immer für die staatsbürgerlichen Rechte der Juden eingetreten, was
die Zentrumspresse nicht in gleichem Umfange und mit derselben Entschieden¬
heit tue.

Daß es Pflicht der wissenschaftlich gebildeten Christen ist, der Volksver¬
giftung zu steuern, die unter dem Deckmantel der biologischen Wissenschaft von
den Bonzen des Atheismus und ihren journalistischen Handlangern betrieben
wird, daran erinnert recht kräftig die neue Zeitschrift für Zukunftsentwicklung.
Daß sie die biologischen Gesetze auf die Gesellschaftslehre anwendet und zu
den soziologischen Vorgängen Parallelen in den physiologischen Vorgängen
des Tier- und Menschenleibes sucht, dagegen haben wir nichts einzuwenden,
wenn wir auch nicht zugestehn, daß für das Menschenleben keine andern als
die biologischen Gesetze gelten. Aber entschieden Einsprache erheben müssen
wir gegen die Art und Weise, wie der Herausgeber de Meray nachzuweisen
versucht, daß das Christentum und der Militarismus die beiden tödlichen
Krankheiten des europäischen Sozialkörpers seien. Hier fehlt der Raum, den
haarsträubenden Verdrehungen von Tatsachen und den Vergewaltigungen der
Chronologie im einzelnen nachzugehn, denn die Grenzboten haben doch noch
viel andres zu tun, als sich mit atheistischen Phantasien zu beschäftigen. Nur
zweierlei sei bemerkt. Das klassische Altertum soll gesund, arbeitfroh, schöpferisch,
lebenbejahend gewesen sein, das Christentum die Freude am Leben und damit
die Lust und den Trieb zur Arbeit getötet haben. Tatsache ist nun, daß das
klassische Altertum freilich zwar den Lebensgenuß geliebt hat, nicht in gleichem
Maße aber die Arbeit; daß es deren Last größtenteils auf, die Sklaven ab¬
geschoben hat, daß das Bürgertum der griechischen Städte und Roms zuletzt
in einen vergnügungssüchtigen, faulenzenden Pöbel ausgeartet ist, daß zuerst
durch Pauli Wort: wer nicht arbeiten will, der soll auch nicht essen, der Kultur¬
welt die allgemeine Arbeitpflicht zum Bewußtsein gekommen ist, daß die
Christengemeinden der ersten drei Jahrhunderte diese Pflicht geübt, arbeitfähige
müßige Bettler unter sich nicht geduldet und eine auf die Anerkennung dieser
Pflicht gegründete rationelle Armenpflege eingerichtet haben, die vordem un¬
bekannt war, und die, nachdem sie der mittelalterliche Klerus verdorben hatte,
von den Reformatoren und dann zum zweitenmal von den Stadtobrigkeiten des
neunzehnten Jahrhunderts wiederhergestellt worden ist; daß endlich christliche
Mönche im Bunde mit frommen christlichen Fürsten es gewesen sind, die die
von den Kriegen der römischen Zeit und von der Völkerwanderung ange¬
richteten Verheerungen Südeuropas überwunden und den Norden unsers Erd-
tells kultiviert haben. Die Renaissance soll dann dem allmählichen Absterben
Einhalt getan und den Genesungsprozeß eingeleitet haben. In Wirklichkeit
sind die europäischen Völker das ganze Mittelalter hindurch höchst lebendig
gewesen. Sie haben, namentlich in Italien, den Niederlanden und Deutschland,
ein reiches städtisches Leben mit einer der antiken überlegnen Gewerbe- und


IVasmann und seine Berliner Opponenten

er verdanke ihrer Rubrik „Kunst und Wissenschaft" vielseitige Belehrung, und
sie sei immer für die staatsbürgerlichen Rechte der Juden eingetreten, was
die Zentrumspresse nicht in gleichem Umfange und mit derselben Entschieden¬
heit tue.

Daß es Pflicht der wissenschaftlich gebildeten Christen ist, der Volksver¬
giftung zu steuern, die unter dem Deckmantel der biologischen Wissenschaft von
den Bonzen des Atheismus und ihren journalistischen Handlangern betrieben
wird, daran erinnert recht kräftig die neue Zeitschrift für Zukunftsentwicklung.
Daß sie die biologischen Gesetze auf die Gesellschaftslehre anwendet und zu
den soziologischen Vorgängen Parallelen in den physiologischen Vorgängen
des Tier- und Menschenleibes sucht, dagegen haben wir nichts einzuwenden,
wenn wir auch nicht zugestehn, daß für das Menschenleben keine andern als
die biologischen Gesetze gelten. Aber entschieden Einsprache erheben müssen
wir gegen die Art und Weise, wie der Herausgeber de Meray nachzuweisen
versucht, daß das Christentum und der Militarismus die beiden tödlichen
Krankheiten des europäischen Sozialkörpers seien. Hier fehlt der Raum, den
haarsträubenden Verdrehungen von Tatsachen und den Vergewaltigungen der
Chronologie im einzelnen nachzugehn, denn die Grenzboten haben doch noch
viel andres zu tun, als sich mit atheistischen Phantasien zu beschäftigen. Nur
zweierlei sei bemerkt. Das klassische Altertum soll gesund, arbeitfroh, schöpferisch,
lebenbejahend gewesen sein, das Christentum die Freude am Leben und damit
die Lust und den Trieb zur Arbeit getötet haben. Tatsache ist nun, daß das
klassische Altertum freilich zwar den Lebensgenuß geliebt hat, nicht in gleichem
Maße aber die Arbeit; daß es deren Last größtenteils auf, die Sklaven ab¬
geschoben hat, daß das Bürgertum der griechischen Städte und Roms zuletzt
in einen vergnügungssüchtigen, faulenzenden Pöbel ausgeartet ist, daß zuerst
durch Pauli Wort: wer nicht arbeiten will, der soll auch nicht essen, der Kultur¬
welt die allgemeine Arbeitpflicht zum Bewußtsein gekommen ist, daß die
Christengemeinden der ersten drei Jahrhunderte diese Pflicht geübt, arbeitfähige
müßige Bettler unter sich nicht geduldet und eine auf die Anerkennung dieser
Pflicht gegründete rationelle Armenpflege eingerichtet haben, die vordem un¬
bekannt war, und die, nachdem sie der mittelalterliche Klerus verdorben hatte,
von den Reformatoren und dann zum zweitenmal von den Stadtobrigkeiten des
neunzehnten Jahrhunderts wiederhergestellt worden ist; daß endlich christliche
Mönche im Bunde mit frommen christlichen Fürsten es gewesen sind, die die
von den Kriegen der römischen Zeit und von der Völkerwanderung ange¬
richteten Verheerungen Südeuropas überwunden und den Norden unsers Erd-
tells kultiviert haben. Die Renaissance soll dann dem allmählichen Absterben
Einhalt getan und den Genesungsprozeß eingeleitet haben. In Wirklichkeit
sind die europäischen Völker das ganze Mittelalter hindurch höchst lebendig
gewesen. Sie haben, namentlich in Italien, den Niederlanden und Deutschland,
ein reiches städtisches Leben mit einer der antiken überlegnen Gewerbe- und


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[0255] IVasmann und seine Berliner Opponenten er verdanke ihrer Rubrik „Kunst und Wissenschaft" vielseitige Belehrung, und sie sei immer für die staatsbürgerlichen Rechte der Juden eingetreten, was die Zentrumspresse nicht in gleichem Umfange und mit derselben Entschieden¬ heit tue. Daß es Pflicht der wissenschaftlich gebildeten Christen ist, der Volksver¬ giftung zu steuern, die unter dem Deckmantel der biologischen Wissenschaft von den Bonzen des Atheismus und ihren journalistischen Handlangern betrieben wird, daran erinnert recht kräftig die neue Zeitschrift für Zukunftsentwicklung. Daß sie die biologischen Gesetze auf die Gesellschaftslehre anwendet und zu den soziologischen Vorgängen Parallelen in den physiologischen Vorgängen des Tier- und Menschenleibes sucht, dagegen haben wir nichts einzuwenden, wenn wir auch nicht zugestehn, daß für das Menschenleben keine andern als die biologischen Gesetze gelten. Aber entschieden Einsprache erheben müssen wir gegen die Art und Weise, wie der Herausgeber de Meray nachzuweisen versucht, daß das Christentum und der Militarismus die beiden tödlichen Krankheiten des europäischen Sozialkörpers seien. Hier fehlt der Raum, den haarsträubenden Verdrehungen von Tatsachen und den Vergewaltigungen der Chronologie im einzelnen nachzugehn, denn die Grenzboten haben doch noch viel andres zu tun, als sich mit atheistischen Phantasien zu beschäftigen. Nur zweierlei sei bemerkt. Das klassische Altertum soll gesund, arbeitfroh, schöpferisch, lebenbejahend gewesen sein, das Christentum die Freude am Leben und damit die Lust und den Trieb zur Arbeit getötet haben. Tatsache ist nun, daß das klassische Altertum freilich zwar den Lebensgenuß geliebt hat, nicht in gleichem Maße aber die Arbeit; daß es deren Last größtenteils auf, die Sklaven ab¬ geschoben hat, daß das Bürgertum der griechischen Städte und Roms zuletzt in einen vergnügungssüchtigen, faulenzenden Pöbel ausgeartet ist, daß zuerst durch Pauli Wort: wer nicht arbeiten will, der soll auch nicht essen, der Kultur¬ welt die allgemeine Arbeitpflicht zum Bewußtsein gekommen ist, daß die Christengemeinden der ersten drei Jahrhunderte diese Pflicht geübt, arbeitfähige müßige Bettler unter sich nicht geduldet und eine auf die Anerkennung dieser Pflicht gegründete rationelle Armenpflege eingerichtet haben, die vordem un¬ bekannt war, und die, nachdem sie der mittelalterliche Klerus verdorben hatte, von den Reformatoren und dann zum zweitenmal von den Stadtobrigkeiten des neunzehnten Jahrhunderts wiederhergestellt worden ist; daß endlich christliche Mönche im Bunde mit frommen christlichen Fürsten es gewesen sind, die die von den Kriegen der römischen Zeit und von der Völkerwanderung ange¬ richteten Verheerungen Südeuropas überwunden und den Norden unsers Erd- tells kultiviert haben. Die Renaissance soll dann dem allmählichen Absterben Einhalt getan und den Genesungsprozeß eingeleitet haben. In Wirklichkeit sind die europäischen Völker das ganze Mittelalter hindurch höchst lebendig gewesen. Sie haben, namentlich in Italien, den Niederlanden und Deutschland, ein reiches städtisches Leben mit einer der antiken überlegnen Gewerbe- und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/255>, abgerufen am 17.06.2024.